MVJstories

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Dienstag, 30. Dezember 2014

Kälte. Folge 8: Kleine Schlittenfahrt

Glockenbimmeln. Kleine Glöckchen, von Halsbändern baumelnd. Hin und wieder ein Kläffen. Ein Schlitten in voller Fahrt, Hunde davor, schnell und zielstrebig die weißen Massen zu beiden Seiten hinter sich lassend.
Fahrtwind.
Rausch der Geschwindigkeit!
Schnell vorbeiziehende Schneewehen, Hügel und Senken, leichtes Gleiten auf der weißen Oberfläche. Kein lästiges Einsinken, kein mühsames Vorwärtsstapfen, Schritt für Schritt. Nur noch gleiten, fast schon fliegen, Sekunde für Sekunde, Herzschlag für Herzschlag, Meter für Meter. Hinter dem Schlitten keine bis zur Erde aufgewühlte Spur im Schnee, sondern zwei kaum erkennbare Striche, dazwischen die Abdrücke der Hundepfoten. Weit das Land, das sich hinter dem Schlitten erstreckt. Kürzer und kürzer die Entfernung zum einst so fernen Ziel. Fern schien es? Weit? Unerreichbar? Nah, ganz nah ist es nun. Verschobene Perspektive. Ein bisschen Holz und ein paar Vierbeiner machen zur Selbstverständlichkeit, was eben noch unmöglich schien. Die Frage, von der eben noch Leben und Tod abhingen, stellt sich nun nicht mehr. Die Strecke bis zum Ziel hat keine Bedeutung mehr, da ihre Bewältigung nicht mehr zur Debatte steht, sie schon so gut wie bewältigt ist, ja, gedanklich sogar schon bezwungen, so dass die ganze Fahrt nicht mehr aus Notwendigkeit absolviert wird, sondern nur noch zum Spaß, quasi rückwirkend, um etwas zu erreichen, das angesichts seiner Selbstverständlichkeit schon erreicht zu sein scheint.
Auf dem Schlitten Aaron. Lenker seines Hundegespanns, Erlöser und Erlöster gleichzeitig, Retter seiner selbst durch seiner Hände Arbeit und Geschick, dankbar dem Schicksal, stolz auf sich selbst, glücklich über die Bedingungen seiner weiteren Reise, den Fahrtwind, der die ungeschützten Stellen seines Gesichts streift, die unermüdlich laufenden Hunde vor seinem Schlitten, die schnell vorüberziehende Landschaft, vor kurzem noch so feindlich, jetzt nur noch Kulisse seiner rasanten Fahrt, ein Requisit, ihm die Zeit so kurz wie möglich zu gestalten, einzig seiner beeindruckenden Schönheit und Reinheit halber in die Inszenierung aufgenommen, nicht jedoch um irgendwelcher Schrecknisse Willen, die dem Gleitenden, anders als dem Gehenden, nichts mehr bedeuten.
So schwindet das Abenteuer, doch es wächst der Abenteurer. Denn wenn auch beides einander zu bedingen scheint, so ist doch im größten Abenteuer der Mensch nicht abenteuerlich gestimmt. Er ist ängstlich oder pragmatisch, verzweifelt oder berechnend. Die echte Lust am Risiko, die Entdeckerfreude, den vielbeschworenen Forscherdrang spürt er nicht. Schwindet jedoch die Gefahr, so reift im Menschen der Entdecker heran. Was er sieht, sieht er nur noch als sich untertan gemachtes Neuland. Je höher er sich seiner Umwelt überlegen fühlt, desto heldenhafter wähnt er sich. Ein Mann der Tat. Ein Mann der Wissenschaft. Ein Mann der Natur. Ein Mann.
Glockenbimmeln. Hundegebell. Schnee an beiden Seiten, in schneller Fahrt vorüberziehend...

Alles nur ein Tagtraum...
Aaron sah auf seine Füße. Bis zu den Knien steckte er im Schnee. Hinter ihm zog sich die Spur seiner mühsamen Wanderung bis zu dem fernen Punkt, an dem er noch ganz klein die Hütte ausmachen konnte. Er sah nach vorne. Der Wald war ein wenig näher gerückt. Ein wenig.
Er seufzte.

Die letzte halbe Stunde hatte ihm die Vorstellung mit dem Schlitten das Gehen etwas leichter gemacht, aber die Erschöpfung ließ sich nicht wegfantasieren und inzwischen war sein mühsamer Marsch beim besten Willen nicht mehr mit dem Tagtraum vom mühelosen Gleiten in Einklang zu bringen. Kurz blieb er stehen, um zu Atem zu kommen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Bald würde es dunkel werden. Bis dahin wollte er aber noch ein Stück vorankommen.

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