MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Sonntag, 28. Juli 2013

Prism in-your-facebook

oder: Ein Tag im Leben eines glücklichen Menschen
von Sir John

Morgens um 7. Mein Wecker klingelt. Ich schlage meine Augen auf und höre dem kleinen Nervtöter zu, wie er erst meine Lieblingsmusik spielt, um danach zu beginnen, mir meine Pläne für den heutigen Tag vorzulesen. In dem Moment, in dem ich wach genug bin, um aufzustehen und es auszuschalten, beziehungsweise, um es wutentbrannt gegen die Wand zu feuern, verstummt das Gerät. Ich stehe auf und gehe zum Kleiderschrank. Kurz bevor ich ihn erreicht habe, kommen mir aus einem Schlitz in der Schranktür eine Jeans, eine Unterhose, ein T-Shirt von einer meiner Lieblingsbands und Socken entgegengepurzelt. Ja, mein Mobiliar kennt mich. Ich überlege. Kann man den Schrank überhaupt öffnen? Von außen sieht er aus, als könne man, aber ich hatte schon seit Jahren keinen Anlass mehr, es zu probieren.
In der Küche steht bereits eine Tasse Kaffee bereit. Ich grüße kurz in die Überwachungskamera, eine Gewohnheit, vor Jahren einstudiert, als die Komplettüberwachung noch neu war.
Damals konnte ich auch noch bestimmen, wann mein Fernseher läuft. Und wo er steht. Seit ich eingetreten bin unterhält mich das Ding mit einer Vielzahl an exakt auf meine Bedürfnisse zugeschnittenen Werbespots. Irgendwo dazwischen, gut in Produktinformation verschiedenster Art verpackt, muss es wohl auch soetwas wie Nachrichten geben. Man muss aber schon sehr genau hinhören. Meine Freundin benutzt die Werbung immer, um Einkaufszettel zu schreiben. Normalerweise weiß unser Fernseher besser, was wir brauchen, als wir selbst.
Nach dem Frühstück verlasse ich das Haus. Über der Eingangstür prangt groß das Google-Logo. Ein Komplettsystem mit zugehöriger Einrichtung. Jeder hat eins. Es gibt keine anderen Häuser mehr. Ich setze meinen Weg zur U-Bahn fort. Die fliegenden Kameras, die mir auf Schritt und Tritt folgen, beachte ich gar nicht. Sie sind wie Mücken, nur dass sie nicht stechen. Jedenfalls nicht so oft, nur einmal in der Woche, zur Blutprobenentnahme.
Ihr fragt euch, was hier los ist? Ach ja, ihr seid geschichtlich nicht ganz auf dem neuesten Stand. Wir schreiben inzwischen das Jahr 2057. Seit 2013 hat sich einiges getan. Google hat Facebook aufgekauft und anschließend angefangen, den verschuldeten Staaten Land abzukaufen. Die NSA hat die Gunst der Stunde erkannt. Die gesamte Belegschaft bot Google ihre Hilfe an und wie auf die große Erfahrung im Bereich der „Verwaltung von Fremddaten“ hin, die Google, nunmehr Inhaber der größten Menge privater Daten von Internetnutzern auf der ganzen Welt, dringend brauchte. Das Riesenunternehmen schluckte also auch die NSA unter Beibehaltung aller Arbeitsverhältnisse. Als kleinen Bonus brachten die neuen Mitarbeiter gleich sämtliche streng geheimen Daten mit, die auf ihren Festplatten gespeichert waren. Als die anderen amerikanischen Geheimdienste davon Wind bekamen sahen sie auch, dass ihre Regierung gegen dieses gigantische Enthüllungspotential kaum eine Chance hatte. Auch sie liefen über, gefolgt von sämtlichen Streitmächten der einstmaligen Großmacht. Daraufhin ergaben sich die USA kampflos dem Riesenkonzern. Der kaufte weiterhin ganze Länder auf, bis der klägliche Rest der Weltgemeinschaft sich dem neuen Imperium freiwillig anschloss. Die geballte Macht aller Geheimdienste, die ja außer den eigenen Bürgern niemanden mehr zum bespitzeln hatte, verbündete sich nun mit dem größten Datenstaubsauger der Welt, der sich zwischenzeitlich noch mit weiteren sozialen Netzwerken gestärkt hatte, um nun, da sämtliche politische Gewalt ihm übergeben worden war, einfach das gesamte Internet zu konfiszieren.
Das Ergebnis ist eine Überwachung ohne Lücken. Mein Haus beispielsweise sendet nicht nur stündlich Berichte über meinen Nahrungsverbrauch und Kleidungsvorliebe an die zentralen Server, auch meine gesundheitlichen Daten werden erhoben, meine Stimmungen, was ich sage oder tue, wie ich etwas sage. Mein Bett misst in der Nacht Puls, Körpertemperatur und noch einige Dinge mehr, mein Urin wird automatisch analysiert, ständig sammelt das System Daten darüber, was mir gefällt oder nicht, was ich brauche, aber auch, was man mich glauben machen könnte, zu brauchen. Es wird gemessen, wie lange ich welchen Werbespot sehe und wie oft ich meine Freundin „Schatz“ oder „Schnucki“ nenne. Ein Mangel an Zärtlichkeiten verbaler wie physischer Natur kann schon einmal dafür sorgen, dass ich ab diesem Moment überall Werbung für Partnervermittlungen begegne. Haben wir ein paar Nächte in Folge keinen Sex, werde ich ohne Umschweife ans nächste Bordell verwiesen, wobei auch ein Hinweis auf eine bestimmte Prostituierte zu finden ist, deren körperliche Merkmale laut einer Analyse der Dauer meiner Betrachtung verschiedener Werbeplakate mit leichtbekleideten Frauen, am ehesten meinem Geschmack entspricht. Selbst das leichte Zögern bei der Wahl der Brotsorte im Supermarkt wird sofort erfasst, in komplizierten Verfahren in eine messbare Größe und einen Wert überführt, der die vollautomatisierten Regale im Supermarkt veranlasst, mir in der nächsten Woche nur noch Vollkornbrot anzubieten, obwohl ich doch zum Frühstück gerne Toast hätte. Eine weitere Woche später weiß das System auch dies.
Ich komme ein bisschen zu spät an der U-Bahn-Station an. Der Zug hat auf mich gewartet. Die anderen Fahrgäste nehmen die Verzögerung ruhig zur Kenntnis. Schließlich wurden sie schon heute früh von ihrem Wecker darauf hingewiesen, dass heute jemand zu spät kommen würde. Ihre Arbeitgeber wissen auch Bescheid, also alles in Ordnung.
Da Google weiß, wer wann wohin fahren will, ist der gesamte öffentliche Nahverkehr durchgeplant. Jeder, der die U-Bahn nimmt, hat auch einen Sitzplatz. Ich schaue mich um. Ah, da hinten. Erleichtert lasse ich mich auf den Sitz fallen und beginne mit der Lektüre des Buches, das mir mein Handy für heute verordnet hat.
Nach einigen Minuten erreiche ich das Lesezeichen, das mir das System ins Buch gelegt hat. Das ist für mich das Zeichen, das Buch wegzupacken und aufzustehen. Als ich die Tür erreiche, hält der Zug gerade und entlässt mich und einige andere in das klinisch saubere Innere einer U-Bahn-Station.
Auf dem Weg zur Arbeit werde ich von meinem Handy daran erinnert, dass ich Lust auf einen Snack habe. Ich betrachte den Kiosk, an dem ich eben vorbeigehen wollte. Was soll ich nehmen? Cupcake, Éclair, Donut, Gingerbread? Oder vielleicht doch lieber ein Ice Cream Sandwich? Die Entscheidung wird mir abgenommen. Die Verkäuferin hat bereits etwas eingepackt, reicht es mir herüber und wünscht mir einen schönen Tag. Ich weiß noch nicht, was ich da jetzt eigentlich habe, aber mit Sicherheit ist es genau das, worauf ich dann beim Auspacken Lust verspüre. Gleichgültig schiebe ich die Tüte in meine Tasche.
Ich arbeite in einer großen Firma im Büro. Meine Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, Stempel auf Papiere zu drücken. Die Papiere wurden vorher bereits von einem Computer ausgefüllt, ich lese sie nicht einmal mehr durch. Nicht sehr anspruchsvoll, aber eigentlich hat niemand, den ich kenne, einen fordernderen Job. Die wirklich schwierigen Sachen werden ausschließlich von Computern gemacht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es überhaupt noch einen Menschen am Ende der Befehlskette gibt, einen, der alles plant. Ist mir im Grunde aber auch nicht so wichtig.
Nach Feierabnd habe ich noch Einkäufe zu erledigen. Eigentlich sind die Supermärkte sinnlos geworden. Man könnte den Leuten auch einfach ihre Rationen zuteilen, etwas anderes kriegt man da auch nicht, aber die Illusion einer eigenen Entscheidung ist aufregend und der Spaziergang durch die Regalreihen ein Relikt aus längst vergangener Zeit, das ältere Menschen wie mich in nostalgische Verzückung versetzt.
Die omnipräsenten Bildschirme verraten mir durch entsprechende Werbespots, was ich so brauche. Ich sammele die entsprechenden Dinge ein, ohne weiter darüber nachzudenken. Jahrelange Gewohnheit. Dann gehe ich zur Kasse. Die Kassiererin guckt auf ihren Bildschirm, lächelt und sagt: „Sie haben die Milch vergessen.“ Natürlich hat sie gleich zwei Schachteln parat und legt sie ohne zu fragen zu meinen Einkäufen. Auch hier funktioniert die weltweite Cloud. Man kennt mich.
Zuhause lese ich noch ein wenig. Dann, zur standardisierten Fernsehzeit, schalte ich das Gerät ein und lasse mich berieseln. Keine Ahnung, was läuft.
Nach dem üblichen Zubettgehritual winke ich noch einen Abschiedsgruß in die Schlafzimmerkamera. Auf meinem Nachttisch liegen Schlaftabletten. Das System hat meinen Tagesablauf analysiert und festgestellt, dass ich sie brauchen werde. Na dann, runter mit dem Zeug. Morgen wird wieder ein wundervoller Tag.

Zurück im Jahr 2013. Vorhin erreichte mich eine Nachricht über die Website des Hessischen Rundfunks. Die Facebookseite einer geplanten Anti-Prism-Demo wurde ohne Ankündigung gelöscht. Aha. Facebook und Prism.

Die Verschmelzung hat begonnen.

Mittwoch, 24. Juli 2013

Jack's Welt - Episode II



Erwachen

Von Mr. Big

Schwere und Dunkelheit umgaben ihn. Ein leises Pochen war zu hören, dumpf und nichtssagend. Klänge aus einer weitentfernten Sphäre, aus einer anderen Welt. Viel zu weit weg, um irgendeine Bedeutung zu haben.

Das gellend heiße Licht, das er zuletzt gesehen hatte, war wie ein illuminierter Fleck auf seine Netzhaut eingebrannt worden. Er konnte immer noch die Umrisse erkennen, und die Ausläufer dieses spinnennetzartigen Gebildes. Sie waren nicht sehr klar erkennbar, eher wie dunkle Risse auf einer schwarzen Granitplatte. Mehr noch wie eine in sich zusammengezogene Galaxie voller sterbender Sterne. All das lag vor ihm. Sonst sah er nichts. Auch Gefühle drangen nicht mehr bis zu ihm vor.

Das unaufhörliche Pochen war irritierend. Dann waren da diese Schwingungen, die von dem Fleck ausgingen. Er war gefangen in ihrem Rhythmus. Im Rhythmus der Schwingungen und des Pochens.

War es ein ihm bekannter Rhythmus? Irgendwie schon. Sagte zumindest sein Empfinden. Doch empfand er gerade überhaupt? Schwer zu sagen. Irgendwann aber war dieser Rhythmus wichtig für ihn gewesen. Er war so schön gleichmäßig und ruhig.  Dieses Poch…poch…poch…es ließ ihn entspannen. Man hätte ein Uhrwerk danach stellen können. Aber dafür hätte man ein Uhrwerk gebraucht und hier war nirgendwo eins zu sehen. Hier war überhaupt nichts zu sehen. Nur dieser Fleck, der Schatten eines Schattens, immer stetiger verblassend vor dem Hintergrund einer undurchdringlichen Schwärze. Nein, er wollte nicht mehr hier sein. Es war ihm unangenehm. Er wollte hinaus.

Eine Welle erhob sich. Ein elektrischer Impuls durchzog ihn und formte kleine Blitze auf seiner Netzhaut. Der Moment kam näher. Das Pochen beschleunigte sich rasant. Poch,poch,poch. Was vorher nur eine Taktgabe der Natur gewesen war, lief jetzt wie ein Motor auf Höchstleistung. Schneller, immer schneller, als drohe es jeden Moment zu explodieren.

Dann öffnete sich die Galaxie und gab einen Strahl gleißenden Lichts frei. Alles um ihn herum füllte sich mit Licht. Nur mit Mühe erlangte er sein Bewusstsein zurück. Er erwachte zum Leben. Durch einen Schleier schienen seine Augen nun die Einöde zu betrachten, die vor ihm lag. Dahinter kamen langsam Konturen zum Vorschein. Wände und Kacheln, grau und kalt. Ein Lagerraum. Wo war er bloß hineingeraten…

Als Adrian erwachte, wusste er nicht so recht, wo er war. Alles hier erschien ihm so fremd, aber zugleich auch so vertraut. Was er verschwommen durch seine Augen wahrnehmen konnte, erinnerte ihn an einen Ort, an dem Funktionalität großgeschrieben wurde. An der Wand hingen Pfannen und Töpfe. Daneben waren Messer und Klingen zu sehen, von der Länge her eher Urwald-  anstatt Esswerkzeuge. Gut ein Dutzend konnte er zählen. Direkt vor ihm, in unmittelbarer Nähe, war ein Waschbecken angebracht. Darunter befanden sich Regale mit Tellern. Links von ihm war eine äußerst massiv wirkende Tür. Noch ganz benommen versuchte er, einem rein menschlichen Impuls folgend, aufzustehen und wurde mit Nachdruck davon abgehalten. Kaum einen Zentimeter konnte er sich bewegen. Er war an einen Stuhl gefesselt, der im Boden verankert war.

„Was zum…“. Adrian schaute hinab. Dieser Stuhl, Typ IKEA – Wohnst du noch oder folterst du schon?,  war sein Thron und sein Gefängnis zugleich. Er versuchte die Hände zu bewegen, aber erkannte im gleichen Moment, dass sie taub waren, gefesselt an den Armlehnen. Na toll, ganz toll. Mit Erstaunen stellte er aber fest, dass die Füße frei waren. Nur die Schnürsenkel waren verknotet. Scheinbar war hier ein Witzbold am Werk gewesen.
Was war bloß passiert…an was konnte er sich noch erinnern? Er war auf Arbeit gewesen, ja. In einem Lagerraum wie dieser hier. Und er wollte etwas aus dem Schrank holen, als…

Er schrak zurück, das Bild erschien vor seinem inneren Auge. Die grobschlächtige Hand, die in seinem Sichtfeld erschien, von hinten nach ihm griff und ihm ein Tuch ins Gesicht drückte, erbarmungslos und unnachgiebig. Ihm wurde sofort schwindelig. Dann war alles schwarz. Und ab da alle Erinnerungen verschwunden.

Nun saß er hier, auf seinem Stuhl. Fast wie ein Paket, verschnürt und fertig zum Weitertransport. Nächste Station: Haus des Horrors. Aktueller Standort: Kammer des Schreckens. Yppie ya yeah Schweinebacke. Sein Gemüt schwankte zwischen Hysterie und Heulerei. Doch vielleicht ließ sich ja was machen.

Die Tür, der einzige Ausweg aus diesem Schlammassel, schien massiv und war höchstwahrscheinlich verschlossen. Die Klingen, die vor seinem Kopf baumelten, versprühten auch nicht gerade den Charme, der ihn zum Bleiben bewegte. Dennoch eine nette Küchendekoration, so unter anderem Umständen…

Er überlegte. Komm schon, Adrian, was würde James Bond tun? Das Waschbecken lag ein Stück weit hinter den Pfannen. Und die Messer wären eindeutig in Reichweite, würde er nicht auf diesem dummen Stuhl festhocken.

Hm, vielleicht wenn er...okay ein bisschen riskant, aber dennoch im Bereich des Möglichen. Zwar wär das auch für Hollywood neu, aber wann ausprobieren, wenn nicht jetzt?
Er begann behutsam seine Straßenschuhe auszuziehen. Ein gar nicht so einfaches Unterfangen, wenn man leicht benommen ist und in Fesseln liegt. Aber nach einer Weile war es geschafft. Die Schuhe lagen auf den Fließen. 

Ganz still saß er nun da. Seine Aufmerksamkeit lag voll und ganz auf seinen Füßen. Sie umschlangen den Knoten der beiden Schnürsenkel und wippten hin und her. Genau einen Versuch hatte er. Er musste sich lang machen. Dann holte er tief Luft. 

Mit einem Mal drückte er die Beine durch und schwang die Schuhe nach oben. In hohem Bogen flogen die Treter durch die Luft und vollführten eine Pirouette. Die Sohle erwischte das Steakmesser und beförderte es aus der Verankerung.

Adrian schreckte auf. Das Ding sauste in Richtung seiner Genitalien. Instinktiv machte er die Beine breit. Das Messer drang knapp unterhalb der Kronjuwelen mit seiner rostfreien Spitze in den Stuhl. Eine Schweißperle glitt ihm von der Stirn. Das war knapp. Um Haaresbreite hätte er seiner Freundin erklären müssen, wieso er „nur kuscheln“ jetzt doch gut findet.

Ein lautes Scheppern. Die Schuhe hatten eine Pfanne erwischt. Sie schlug auf den Fließen auf und sprang unbeholfen herum. Scheiße, jetzt musste er sich beeilen. Er schnippte mit seinem Fuß das Steakmesser vom Stuhl. Dann entledigte er sich seiner Socken und umklammerte den Schaft mit seinen Zehen. „Und eins, und zwei, und…“. Sehr ladylike schlug er die Beine übereinander und begann an den Fesseln seiner linken Hand zu sägen. Was für ein dickes Hanfseil. In der Ferne ertönten fremde Stimmen. 

Oh nein, nein. NEIN. Panik machte sich breit. Er sägte schneller. Seine Atmung beschleunigte sich immer mehr. Hinter der Tür hörte er Schritte.

Die erste Hand war frei. Doch sie hing zur Seite wie ein totes Stück Fleisch. Gänzlich ohne Gefühl, doch sie musste! Keuchend schwang er sie nach vorn. „Komm schon, du musst das Seil lösen. KOMM SCHON.“ Das Blut begann zäh und unerträglich langsam zu fließen, gefolgt von vielen kleinen Nadelstichen.

Es kam näher. Jemand machte sich an der Türverriegelung zu schaffen. Sein Peiniger! Mit dem Mut der Verzweiflung und befreite er seine Hand von der Schlinge und sprang vom Stuhl auf. Im nächsten Moment glitt die Tür zur Seite und ein Mann trat ein. Von der Statur ein echter Bulle. Es gab kein Vorbeikommen. Er hielt einen Dönerspieß in der Hand, der eindeutig länger war als sein Steakmesser und sah Adrian fest in die Augen.  

„Setz dich und halt die Klappe. Und keine Faxen.“

Samstag, 20. Juli 2013

VerZweifeln

von Sir John

Eine kleine Abendgesellschaft hat sich nach dem Dinner im Rauchersalon eingefunden. Einzelne Gesprächskreise haben sich auf die Sitzgruppen verteilt. In einer Ecke, den Blick halb dem Gesprächspartner, halb dem Raum zugewandt, sitzen ein Zweifler und Ein Guter Mensch auf einer Couch und unterhalten sich.

EGM: Jetzt muss ich Sie doch noch einmal darauf ansprechen. Verzeihen Sie, aber ich fand eine Ihrer Bemerkungen beim Essen vorhin überaus befremdlich. Sie sprachen davon, dass... wie war das gleich... im kosmischen Maßstab die Existenz der Menschheit nicht wichtiger sei, als die jeder anderen Spezies. Das sagten Sie doch gewiss nur im Scherz?
Zweifler: Nun verraten Sie mir doch bitte eins. Ist Ihnen die Menschheit wichtig?
EGM: Wie können Sie so etwas fragen? Natürlich ist sie mir wichtig.
Zweifler: Warum?
EGM: Warum? Sie stellen vielleicht Fragen! (zögert) Also... ich bin ja selbst ein Mensch...
Zweifler: Also ist „die Menschheit wichtig finden“ für Sie nur ein Alibi, um sich selbst wichtig finden zu können?
EGM: Selbstverständlich nicht! Es gibt viele Menschen, die mir etwas bedeuten...
Zweifler: Moment, das ist ein Missverständnis. Ich wollte wissen, ob Ihnen die Menschheit wichtig ist. Wovon Sie gerade sprechen sind Menschen.
EGM: (ärgerlich) Das ist doch Wortklauberei!
Zweifler: Ich halte es für einen gravierenden Unterschied. Lassen Sie es mich an einem Beispiel erklären. (überlegt kurz) Nehmen wir mal an, sie hätten … ein Ratte.
EGM: Igitt!
Zweifler: Viele Menschen haben Ratten als Haustiere. Völlig zahme Hausratten, sauber und gepflegt. Aber gut. Was sagen Sie zu einem Hund? Mögen Sie Hunde?
EGM: Ja, sehr! Als Kind wollte ich immer einen haben. Einen Rauhaardackel...
Zweifler: Nun gut. Dann stellen Sie sich vor, sie wären stolzer Rauhaardackelbesitzer. Das kleine Tier gehorcht aufs Wort, ist anhänglich und verspielt. Sie kümmern sich regelmäßig um die Fellpflege, geben dem Hund das Futter und gehen regelmäßig mit ihm spazieren. Das kleine Fellknäuel wäre Ihr kleiner Liebling, Ihr ganzer Stolz. Können Sie sich das vorstellen?
EGM: (verträumt) Das kann ich mir sehr gut vorstellen.
Zweifler: Nun gut. Jetzt lesen Sie in der Zeitung etwas, wie diese Meldung neulich, als wieder einer dieser Kampfhunde ein kleines Kind angefallen hat. Wie finden Sie das? Und vor allem: Was denken Sie über den Hund?
EGM: Ich fand es schon immer unerhört, dass solche Viecher ohne Maulkorb herumlaufen! Die gehören eingeschläfert und die Besitzer streng überwacht. Das ist doch gemeingefährlich, sich so ein Tier überhaupt erst zuzulegen.
Zweifler: Und wie ist es mit all den Hunden, die irgendwo herumstreunen, aus Mülltonnen fressen, sich gegenseitig totbeißen und so weiter? Verlauste stinkende Köter?
EGM: Naja, die können ja nichts dafür...
Zweifler: (unterbricht) Würden Sie einen aufnehmen?
EGM: Nein, das... nein, ich... ich glaube nicht...
Zweifler: Aha. Und wenn ich Sie jetzt noch einmal frage, ob Sie Hunde mögen, bleibt Ihre Antwort die selbe?
EGM: Ich... Nun ja, ich mag manche Hunde.
Zweifler: Und das sind ausschließlich welche, die Sie kennen. Den Großteil der weltweit vorhandenen Hunde kennen Sie aber nicht und selbst unter denen, bei denen das doch der Fall ist dürfte es welche geben, die Ihnen mit ihrem Gebell auf die Nerven fallen oder vor denen Sie Angst haben, weil sie Ihnen eine Nummer zu aggressiv sind. Ähnlich ist es auch bei den Menschen.
EGM: Moment mal! Ich hab nicht gesagt, dass ich Angst vor Menschen habe.
Zweifler: Nein, aber wenn Sie genau über sich nachdenken wird Ihnen auffallen, dass es nur einige wenige Menschen gibt, die Ihnen wirklich etwas bedeuten. Die meisten sind Ihnen eigentlich egal.
EGM: Das können Sie so nicht sagen.
Zweifler: Nicht? Mal ganz ehrlich, was geht Ihnen so durch den Kopf, wenn Sie im Fernsehen einen Bericht über hungernde Südamerikaner oder arbeitslose Asiaten lesen?
EGM: Naja, ich denke, man sollte helfen, nicht tatenlos zusehen...
Zweifler: Und? Machen sie das? Natürlich nicht, genausowenig wie der größte Teil der restlichen Zuschauer des betreffenden Programms. Und warum nicht?
EGM: Man hat ja auch immer noch andere Dinge...
Zweifler: (unterbricht) Unsinn! Es gibt nichts, was sie davon abhalten könnte, zu helfen, wenn Ihnen wirklich etwas daran läge. Man soll nicht tatenlos zusehen? Ihnen wäre es doch viel lieber, gar nicht zu- sondern möglichst ganz woandershin zu schauen und sich um ihren eigenen Kram zu kümmern. Wenn Sie dann doch mal im Fernsehen auf so einen Bericht stoßen, ertappen Sie sich dabei, dass Sie insgeheim froh sind, dass es Ihnen vergleichsweise gut geht und kriegen ein schlechtes Gewissen, weil Sie gelernt haben, dass man beim Anblick des Leids anderer verdammt nochmal Betroffenheit zu zeigen hat, statt sich wohlzufühlen. Sie aber sind nicht betroffen. Sie fühlen sich auch nicht betroffen und das werfen Sie sich innerlich mehr vor, als die Tatsache, dass Sie den armen Leuten auf der Mattscheibe nicht mal zu helfen versuchen. Dieses schlechte Gewissen lässt sich nicht durch Taten beseitigen, weil es sich nicht auf Taten bezieht. Also schwelgen Sie weiterhin in Bequemlichkeit und Ihrem als Mitgefühl getarnten Selbstmitleid.
EGM: Aber ich wollte doch nur...
Zweifler: Derweil sind Ihnen die Menschen, die da in Hunger und Armut leben, völlig egal. Sie bedeuten Ihnen nichts. Wie auch? Sie hatten niemals die Möglichkeit, eine emotionale Bindung zu ihnen aufzubauen. Die Leute, zu denen Sie eine solche Bindung haben, werden immer nur einen winzigen Bruchteil der Erdbevölkerung ausmachen. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass Ihnen die Menschheit, diese unselbstständige, tumbe Masse, als Ganzes sonstwo vorbeigeht. Was Sie wichtig finden sind Sie selbst und einige Personen, die Ihr leben und damit Ihr ach-so-wichtiges Ich entscheidend prägen. Und wissen Sie was? Ich gratuliere Ihnen zu dieser Einstellung. Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen, denn mehr als alles andere sagt mir das: Sie sind ein Mensch.

(beide schweigen; nach langer Pause)


EGM: Möglicherweise haben Sie Recht. Aber will ich dann überhaupt noch ein Mensch sein?

Donnerstag, 4. Juli 2013

Strandurlaub

Es war unglaublich. Sophie konnte es immer noch nicht fassen. Phil, ihr Freund mit dem sie seit 3 Jahren zusammen ein Pärchen bildete, hatte sie gefragt. Doch das war nicht alles, er hatte sie auch zu einem Spontanurlaub nach Bulgarien in ein 4-Sterne Hotel eingeladen. Heute sollte sie direkt nach der Arbeit zu ihrer gemeinsamen Wohnung fahren. Er wollte derweil alles vorbereiten. Sophie arbeitete in einem kleinen Drogeriemarkt nahe des Stadtzentrums. Heute war ein ruhiger Tag im Laden, die Lieferung kam bereits gestern und die Kunden blieben auch überschaubar. Die meiste Zeit der Schicht verbrachte Sophie damit, Regale aufzuräumen und sich um die wenigen Kaufwilligen zu kümmern. Gleich nach Feierabend lief sie zu ihrer Wohnung. Die blonden Haare trug sie offen und ihre blauen Augen strahlten vor Freude. Sie hatte eine enge, hellblaue Jeans und eine weiße Bluse an und an ihren Finger glänzte der Verlobungsring den Phil ihr gekauft hatte. Sie erkannte ihren Freund schon von weitem. Er lehnte gelassen an ihrem kleinen Fiat und lächelte ihr schon entgegen. Er trug sein graues Lieblingst-shirt mit dem Comicmotiv und das blaue Basecap vom Karlsruher Sportclub über den braunen Haaren.
Nach der mehrstündigen Fahrt kamen sie dann im Hotel an. Phil hatte bei aller Vorbereitung trotzdem einen wichtigen Punkt vergessen: Seinen Personalausweis. Der Mann am Empfang verweigerte den Check-In. Erst nach einem klärenden Telefonat konnte Phil's Mutter den Ausweis faxxen und Sophie und Phil durften ihr Zimmer beziehen. Mittlerweile war es spät geworden, doch sie entschieden sich noch ihren Urlaub mit einem Spaziergang einzuweihen. Das Meer war nur knappe 800 Meter vom Hotel entfernt. Es war ein lauer Sommerabend, etwas windiger als sonst am grobkörnigen Strand vom Bulgarien. Phil trug seine beigen Bermuda-Shorts mit dem orangenem Blumenmuster und ein offenes längstgestreiftes Hemd das unten leicht verfranst war. Neben ihm lief Sophie im blau-gelben Sommerkleid. Beide stapften barfuß durch die seichten Wellen, die durch den Wind weit in den Strand hineinliefen.
Der Strand war fast menschenleer, die Sonne hing tief am Horizont und die letzten Strahlen spiegelten sich auf der Wasseroberfläche.
Mit dem Untergang der Sonne verzogen sich auch die letzten Spaziergänger Richtung Hotels und Ferienwohnungen und es herrschte eine melancholische Atmosphäre. Der Wind pfiff fast gespenstisch durch die Dünen und Büsche, das Meeresrauschen vervollständigte das Klangbild und die beiden gingen gedankenverloren durch die Biegung einer Bucht. Hier gab es weder Hotels, noch Campingplätze. Die Gegend war weit weg vom Schuss. Sophie nahm die Hand von Phil und drückte sie ganz fest. Ihr Blick irrte umher. Irgendetwas beunruhigte sie und sie beschlich ein ungutes Gefühl. Der Strand war leer, da war sie sich sicher. Außer ihnen war niemand hier.
Phil's lauter Schrei durchbrach die Stille und er sackte in sich zusammen. Sophie fiel auf die Knie um nach ihrem Geliebten zu schauen. Eine Axt spaltete seinen Hinterkopf, Blut lief aus seinem Mund über sein Hemd und die Augen starrten weit geöffnet in die Leere. Ein letztes Aufwürgen, der Blutschwall schoß ihm durch die geschlossenen Lippen. Zerissen zwischen Trauer, Angst und Ungläubigkeit verfiel Sophie in einen panischen Fluchtinstinkt und spurtete den Strand entlang in die entgegen gesetzte Richtung aus der sie den Axtwerfer vermutete. Tausende Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie hatte vorher gespürt, das etwas komisch war. AHR! Auf einmal stand jemand vor ihr. Sie lief ihm direkt in die Arme. Die Person war kleiner, stank und die Kleider waren zerschlissen. Mit einem hämischen Lachen, hackte er mit einem rostigen Fleischermesser auf ihren Oberarm, den sie im letzten Moment noch vor das Gesicht reißen konnte. Blut lief ihr den Arm herunter, die Wucht des Schlages ließ sie zu Boden sinken. Eine größere Welle spritzte ihr Wasser ins Gesicht - Das Salzwasser brannte in der klaffende Wunde. Sophie probierte sich hochzuhiefen, lief los, aber merkte wie sie jemand an ihrem mit Wasser vollgesogenen Kleid festhielt. Das Kleid riss mit einem Ruck, sie schöpfte schon Hoffnung. Doch, Nein! Von vorne sah sie den Axtwerfer kommen.
Weinend fiel sie zu Boden, dem Tode gewiss. Da spürte sie auch schon wie das Fleischermesser ein weiteres Mal in ihr Fleisch drang. Ihr Körper erfüllte sich mit einer ungewohnten Wärme ausgehend von ihren Schultern, wo nun das Fleischermesser steckte. Ein letztes Mal hörte sie in weiter Ferne das Pfeifen des Windes, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Mr. Vandal