Es gibt Probleme auf
dieser Welt, die können wir nicht lösen. Probleme, die uns, wenn
wir darüber nachgrübeln, verzweifeln lassen, weil wir erkennen
müssen, dass wir nichts, aber auch gar nichts an den Gegebenheiten
ändern können.
Weiterhin gibt es
Probleme, derer wir mit viel Mühe Herr werden können. Wir müssen
gut über unser Vorgehen nachdenken, verschiedene Möglichkeiten
abwägen, die Strategie unserer Wahl überlegt verfolgen und uns
dabei bis an die Grenzen unserer Belastbarkeit engagieren, dann
verschwindet, was uns zu schaffen gemacht hat.
Und dann gibt es eine
dritte Art von Problemen, bei denen uns geholfen wird, wenn wir
einfach freundlich nachfragen.
„Und jetzt sagt mir:
Was ist euer verdammter Plan?“
Ich stand in Berlin vor
dem Bundestag und schrie dem Gebäude meine Frage entgegen.
„Es gibt so viel
Schlechtes auf der Welt: Hunger, Krieg, die globale Erwärmung,
Zerstörung der Umwelt, Folter und jede andere Form von Gewalt, Armut
und all die Dinge, die aus ihr resultieren, Reichtum und was er aus
einem macht. Seit Jahren schon sehe ich zu, wie eine Regierung nach
der anderen keine dieser offenen Fragen befriedigend beantworten
kann. Jetzt will ich es wissen: Wie wollt ihr diesen Bedrohungen
entgegentreten? Wie wollt ihr die Welt retten?“
Die Leute sahen mich
komisch an, wie ich da so stand und das Parlamentsgebäude anschrie,
aber ich war frustriert und wollte diesen Frust loswerden.
„Oder habt ihr keinen
Plan? Habt ihr euch tatsächlich an die Spitze unseres Landes wählen
lassen, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon, wie ihr den
Menschen wirklich helfen könnt? Was für eine Art Regierung seid ihr
überhaupt? Ihr seid doch überhaupt nicht in der Lage, diese
Verantwortung zu übernehmen, denn wenn ihr es doch wärt, hättet
ihr mir längst eine Antwort gegeben und...“
Ich stockte. Soeben war
jemand aus dem Bundestag getreten, hatte sich kurz umgeschaut und
hatte dann begonnen, sich raschen Schrittes auf mich zuzubewegen.
Eine kleine Frau, die mit energischen Schritten... mein Gott, das war
ja die Bundeskanzlerin!
Inzwischen war die Frau
bei mir angekommen und begrüßte mich, was ich artig erwiderte.
„Ihr Frage“, sprach
sie weiter, „wurde gehört. Wir möchten Ihnen helfen. Können Sie
am nächsten Samstag um die gleiche Zeit wieder hier sein?“
„Aber was...“ Ich war
perplex. „Was wollen Sie? Was haben Sie vor?“
Doch die Kanzlerin schien
nicht zu einem Schwatz aufgelegt zu sein.
„Alles weitere“,
sagte sie nur und lächelte, „erfahren Sie nächsten Samstag. Seien
Sie pünktlich!“
Mit diesen Worten
verschwnad sie wieder und ließ mich etwas ratlos zurück.
Am folgenden Samstag
wartete ich tatsächlich wieder vor dem Bundestag. Auf die Minute
genau zur vereinbarten Zeit erschien die Kanzlerin am Eingang und
winkte mich herbei.
„Sagen Sie mir jetzt,
worum es hier geht? Ich möchte gern wissen...“
„Ich bitte Sie, nicht
hier draußen...“
Sie drehte sich um und
verschwand im Bundestag. Ich zögerte kurz, dann folgte ich ihr.
Meine Begleiterin führte
mich durch mehrere Flure und bewachte Türen. Schließlich ging es
durch eine weitere Tür, hinter der eine Treppe nach unten führte.
Es ging ziemlich tief hinunter, zumindest tiefer, als jeder
gewöhnliche Keller. Mir war schon etwas unheimlich zumute, aber ich
schluckte die aufkeimende Angst herunter und folgte der Kanzlerin bis
in einen Raum, der ein bisschen wie ein wissenschaftliches Labor
aussah und in dessen Mitte etwas wie ein überdimensionierter
Fahrstuhlschacht den Blick auf sich zog. Sie steuerte auf diesen
Schacht zu und blieb vor der Tür stehen, die sich auf Knopfdruck
öffnete und uns einließ.
„Warum mussten wir eben
die vielen Treppen steigen?“ murrte ich halblaut. „Mit dem Ding
wäre es schneller und bequemer gewesen...“
„Oh, der fährt nicht
nach oben“ lachte die Kanzlerin und drückte auf einen Knopf. „Hier
geht es nur nach unten.“
Bevor ich ganz begriffen
hatte, was diese Worte bedeuteten, befanden wir uns plötzlich im
freien Fall. Ich schrie laut auf, aber die Kanzlerin legte mir
begütigend die Hand auf den Arm.
„Es ist alles in
Ordnung,“ sagte sie, „der Fahrstuhl ist immer so schnell. Man
gewöhnt sich daran, wenn man die Strecke öfter fährt. Wollen Sie
sich vielleicht setzen?“
Sie deutete auf ein paar
Sessel, die in einer Ecke der geräumigen Kabine im Kreis angeordnet
waren. Ich stöhnte nur und stolperte mit zittrigen Beinen zu der
Sitzgruppe hinüber. Als ich mich endlich in einen der Sessel fallen
ließ, fiel mir auf, dass es mir ziemlich schwer fiel, meine Füße
vom Boden zu lösen. Beim gehen hatte ich es noch dem Schock
zugeschrieben, aber nun war es eindeutig. Auf irgendeine Art wurden
meine Schuhsohlen an den Boden geheftet, wahrscheinlich, um zu
vermeiden, dass ich bei der krassen Beschleunigung an die Decke
stoßen würde.
„W... wohin fahren
wir?“
„Das werden Sie gleich
sehen.“ Jetzt wurde mir diese Frau doch ziemlich unheimlich.
„Und wie lange sind wir
unterwegs...?“ wagte ich noch zu fragen. Sie setzte sich mir
gegenüber und lächelte mich an.
„Etwa eine halbe
Stunde. Wir sind inzwischen deutlich schneller, als wir es im freien
Fall wären.“
Ich setzte zu einer
weiteren Frage an, schluckte sie jedoch herunter, bevor sie es über
meine Lippen geschafft hatte. Auf einem kleinen Tischchen lagen
Zeitschriften. Ich griff mir eine und begann zu lesen.
Eine knappe halbe Stunde
später wurde der Fahrstuhl plötzlich langsamer. Ich fühlte, wie
ich in meinen Sessel gedrückt wurde. Schließlich fuhren wir nur
noch mit der Geschwindigkeit eines normalen Fahrstuhls und hielten
endlich ganz.
Die Kanzlerin erhob sich
aus ihrem Sessel, strich ihr Jackett glatt und bedeutete mir, ihr
nach draußen zu folgen. Wir befanden uns in einem langen Gang. Ich
musste mich beeilen, um mit meiner Begleiterin Schritt zu halten.
„Wo sind wir hier?“
fragte ich sie atemlos.
„Wir befinden uns im
Hauptquartier der Erdregierung.“
„Der Erd... Was?!?“
„Schon vor Jahrzehnten
haben sich die Staatsoberhäupter der verschiedenen Länder der Erde
zusammengetan und gemeinsam ein Parlament gegründet, das für die
ganze Erde spricht. Hier drin“, sie blieb stehen und fasste die
Klinke einer Tür, „treffen sich die Vertreter aller Völker der
Erde, um gemeinsam über eine bessere Zukunft zu beraten.“
„Sie meinen, hier unten
sitzen sie alle beisammen und verstehen sich, obwohl oben Krieg
herrscht?“
„An dem Problem
arbeiten wir. Unter anderem. Dafür ist es unerlässlich, dass wir
alle das gleiche Ziel haben.“
„Aber was ist mit
Staaten wir Nordkorea oder...“
„Sehen Sie selbst!“
Mit diesen Worten öffnete
sie die Tür und wir traten ein. In der Mitte des weiten Saals, der
sich vor uns auftat, stand ein einzelnes Rednerpult. Darum herum
erhoben sich stufenartig die Sitzreihen. Sie bildeten einen Halbkreis
um den Platz des Redners. Es sah also aus, wie in den meisten
Parlamenten der Erde. Überall auf den Sitzen saßen die
Staatsoberhäupter der vielen Länder unserer Erde. Einige kannte
ich, andere waren mir vollkommen unbekannt.
„Ich habe Sie extra zu
einem Versammlungstag hierher bestellt,“ ließ sich die Kanzlerin
wieder vernehmen, „damit Sie das Erdparlament in ganzer Pracht
bewundern können.“
„Moment, sagten Sie
nicht eben noch, dies sei die Erdregierung...?“
„Das ist doch jetzt
egal“, erwiderte sie etwas unwirsch.
„Aber warum ist dieser
Versammlungsraum ausgerechnet unter Berlin? Warum sollten alle
Staatsoberhäupter der Welt wer weiß wie oft ausgerechnet nach
Deutschland reisen, um an diesen Sitzungen teilzunehmen?“
Die Kanzlerin grinste.
„Keine Sorge, das ist
äußerst fair geregelt. Sehen Sie, wir sind hier nicht nur unter
Berlin. Wir sind genauso unter Washington, Pjöngjang und Brasilia.“
„Das ist doch absurd.
Wie können wir gleichzeitig...“
„Die Problematik mit
dem neutralen Standort hat schon die Gründer der Erdregierung
beschäftigt. Sie beschlossen, einen Ort auszuwählen, zu dem alle
den gleichen Anfahrtsweg haben würden. So einen Ort gibt es aber nur
einen. Die genaue Mitte.“
Ich lachte kurz auf. Das
war zu absurd.
„Sie wollen mir allen
Ernstes einreden, wir befänden uns im...“
„Erdkern, ja. Dieser
Saal ist von einer äußerst widerstandsfähigen Schicht umgeben.
Fragen Sie mich nicht, woraus sie ist, ich bin Bundeskanzlerin und
keine... wer immer sich um soetwas kümmert, aber Tatsache ist, dass
sie hält und dass jeder der vielen Fahrstuhlschächte zu allen
Hauptstädten der Welt ebenfalls damit gepanzert ist.“
„Aber das ist doch...
das kann doch...“
Jetzt lachte die
Kanzlerin.
„Jetzt halten Sie sich
doch nicht so lange mit den Nebensachen auf. Sie haben nach etwas
ganz anderem gefragt.“
Sie ging zu einem Tisch
im Hintergrund des Saals, an dem mehrere Leute standen und angeregt
diskutierten. Als die Bundeskanzlerin mit mir im Schlepptau erschien
machten sie höflich platz und gab den Blick auf ein Buch frei, das
aufgeschlagen fast den ganzen Tisch einnahm und etwa so dick zu sein
schien, wie die sieben Harry-Potter-Bände zusammen.
„Sie wollten wissen,
was unser Plan ist? Sehen sie ihn sich selbst an. Das ist er.“
Ungläubig strich ich mit
der Hand über die Seiten des riesenhaften Wälzers.
„Das ist...?“
„Der Plan zur Errettung
der Welt, ja. Eine Ausarbeitung darüber, wie jedes einzelne der
Probleme dieser Welt zu lösen ist. Wie wir den Hunger stillen, Armut
und Krankheit bekämpfen, den Krieg beenden, Gewalt verbannen und die
Erde zu einem glücklichen Planeten machen können.“
„Das... das glaube ich
nicht, das ist... unmöglich.“ Ich war vollkommen überwältigt.
Die Kanzlerin hingegen schaute mich fast ein wenig ärgerlich an.
„Unmöglich? Aber du
hast es doch von uns verlangt! Du meintest, wenn wir keinen solchen
Plan hätten, würden wir nicht zu Politikern taugen.“
Darauf wusste ich keine
Antwort, also ging ich nicht weiter darauf ein, sondern deutete nur
fragend auf das Buch.
„Darf ich...?“
„Natürlich dürfen
Sie, aber sie würden Monate oder gar Jahre brauchen, um das alles zu
lesen. Ich schlage vor, Sie begnügen sich mit der handlichen
Zusammenfassung.“
Sie hielt mir einen
dicken Hefter vor die Nase, den ich schnell ergriff.
„Und nun entschuldigen
Sie mich, ich muss noch mit einigen Leuten reden, bevor die Sitzung
beginnt...“
Mir war das recht. Ich
setzte mich in eine Ecke und blätterte in dem Hefter.
Zwanzig Minuten später
kam die Kanzlerin wieder vorbei.
„Die Sitzung fängt
gleich an, Sie müssen langsam gehen. Ich lasse Sie zum Ausgang
bringen.“
Ich drückte ihr
strahlend den Hefter wieder in die Hand.
„Das ist unglaublich.
Was für Ideen. Was für ein Plan! Ich hätte nie gedacht, das einmal
sagen zu können, aber ich glaube, das könnte funktionieren. Ja, ich
glaube, dass das die einzige Möglichkeit ist, die Welt zu retten!“
„Grämen Sie sich nicht
zu sehr, dass Sie nicht darauf gekommen sind. Daran haben viele
Menschen viele Jahre gearbeitet.“
„Wann ist er fertig
geworden?“ wollte ich gespannt wissen. „Treffen Sie sich heute,
um ihn endgültig zu beschließen?“
„Oh nein, ganz und gar
nicht. Der Plan wurde in den 80ern fertiggestellt und seitdem nur
noch aktualisiert und an die jeweiligen Veränderungen angepasst.“
Ich starrte sie verdutzt
an.
„Aber warum wird er
dann nicht schon längst umgesetzt?“
Die Kanzlerin sah mich
mit einem schiefen lächeln an.
„Das wird er doch.
Immer wieder und überall.“
Ich war bestürzt.
„Aber warum ändert
sich denn nichts? Was ist schief gelaufen? Ich war mir so sicher,
dass dieser Plan die Lösung wäre.“
„Vielleicht ist er das
tatsächlich. Am Plan liegt es nicht. Es liegt an den Menschen.“
„Den Menschen?“
„An den Wählern, um
genau zu sein. Sieh mal, dieser Plan besteht aus vielen kleinen
Schritten, die im Ganzen zu etwas Gutem führen. Doch diese vielen
kleinen Schritte sind mitunter auch mit opfern verbunden. Wenn jemand
jedoch von seinem Volk verlangt, zu opfern, dann wird er abgewählt
und wir müssen uns etwas einfallen lassen, um seinen Nachfolger
ebenfalls von unserem Plan zu überzeugen. Das geht nicht so schnell.
Außerdem kann auch nicht jeder neue Regierungschef oder jedes neue
Staatsoberhaupt einfach machen, was er oder sie will. Sie haben in
der Regel Parteien und Interessengruppen im Rücken, an deren Meinung
sie ihre Politik ausrichten müssen. Wie soll man es unter diesen
Bedingungen schaffen, einen langfristigen Plan auf der ganzen Erde
umzusetzen?“
„Heißt das, dieser
Plan wird niemals umgesetzt werden?“
„Wahrscheinlich nicht,
nein. Wir haben getan, was wir konnten. Wir haben den Masterplan
gemacht. Mehr können wir nicht leisten.“
Ich stand einige Sekunden
lang still. Dann bedankte ich mich kurz und trottete zur Tür. Ein
Angestellter führte mich durch all die Gänge zurück zum Fahrstuhl,
begleitete mich auf meinem Weg nach oben und brachte mich schließlich
zum Ausgang. Er verabschiedete sich mit einem Nicken und verschwand
wieder im Gebäude.
Seitdem ist mein
politisches Engagement gleich null. Ich weiß jetzt, dass es die
Möglichkeit gäbe, uns allen zu einem besseren Leben zu verhelfen.
Aber ich weiß auch, dass wir diese Möglichkeit nicht nutzen können. Ein großartiger Plan reicht nicht aus. Genauso großartig müssen die sein, die ihn umsetzen, und zwar alle. Wenn sie das jedoch alle wären, wäre die Welt auch ohne diesen Plan ein besserer Platz.