MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Dienstag, 2. September 2014

Der Masterplan

Es gibt Probleme auf dieser Welt, die können wir nicht lösen. Probleme, die uns, wenn wir darüber nachgrübeln, verzweifeln lassen, weil wir erkennen müssen, dass wir nichts, aber auch gar nichts an den Gegebenheiten ändern können.
Weiterhin gibt es Probleme, derer wir mit viel Mühe Herr werden können. Wir müssen gut über unser Vorgehen nachdenken, verschiedene Möglichkeiten abwägen, die Strategie unserer Wahl überlegt verfolgen und uns dabei bis an die Grenzen unserer Belastbarkeit engagieren, dann verschwindet, was uns zu schaffen gemacht hat.
Und dann gibt es eine dritte Art von Problemen, bei denen uns geholfen wird, wenn wir einfach freundlich nachfragen.

„Und jetzt sagt mir: Was ist euer verdammter Plan?“
Ich stand in Berlin vor dem Bundestag und schrie dem Gebäude meine Frage entgegen.
„Es gibt so viel Schlechtes auf der Welt: Hunger, Krieg, die globale Erwärmung, Zerstörung der Umwelt, Folter und jede andere Form von Gewalt, Armut und all die Dinge, die aus ihr resultieren, Reichtum und was er aus einem macht. Seit Jahren schon sehe ich zu, wie eine Regierung nach der anderen keine dieser offenen Fragen befriedigend beantworten kann. Jetzt will ich es wissen: Wie wollt ihr diesen Bedrohungen entgegentreten? Wie wollt ihr die Welt retten?“
Die Leute sahen mich komisch an, wie ich da so stand und das Parlamentsgebäude anschrie, aber ich war frustriert und wollte diesen Frust loswerden.
„Oder habt ihr keinen Plan? Habt ihr euch tatsächlich an die Spitze unseres Landes wählen lassen, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon, wie ihr den Menschen wirklich helfen könnt? Was für eine Art Regierung seid ihr überhaupt? Ihr seid doch überhaupt nicht in der Lage, diese Verantwortung zu übernehmen, denn wenn ihr es doch wärt, hättet ihr mir längst eine Antwort gegeben und...“
Ich stockte. Soeben war jemand aus dem Bundestag getreten, hatte sich kurz umgeschaut und hatte dann begonnen, sich raschen Schrittes auf mich zuzubewegen. Eine kleine Frau, die mit energischen Schritten... mein Gott, das war ja die Bundeskanzlerin!
Inzwischen war die Frau bei mir angekommen und begrüßte mich, was ich artig erwiderte.
„Ihr Frage“, sprach sie weiter, „wurde gehört. Wir möchten Ihnen helfen. Können Sie am nächsten Samstag um die gleiche Zeit wieder hier sein?“
„Aber was...“ Ich war perplex. „Was wollen Sie? Was haben Sie vor?“
Doch die Kanzlerin schien nicht zu einem Schwatz aufgelegt zu sein.
„Alles weitere“, sagte sie nur und lächelte, „erfahren Sie nächsten Samstag. Seien Sie pünktlich!“
Mit diesen Worten verschwnad sie wieder und ließ mich etwas ratlos zurück.

Am folgenden Samstag wartete ich tatsächlich wieder vor dem Bundestag. Auf die Minute genau zur vereinbarten Zeit erschien die Kanzlerin am Eingang und winkte mich herbei.
„Sagen Sie mir jetzt, worum es hier geht? Ich möchte gern wissen...“
„Ich bitte Sie, nicht hier draußen...“
Sie drehte sich um und verschwand im Bundestag. Ich zögerte kurz, dann folgte ich ihr.
Meine Begleiterin führte mich durch mehrere Flure und bewachte Türen. Schließlich ging es durch eine weitere Tür, hinter der eine Treppe nach unten führte. Es ging ziemlich tief hinunter, zumindest tiefer, als jeder gewöhnliche Keller. Mir war schon etwas unheimlich zumute, aber ich schluckte die aufkeimende Angst herunter und folgte der Kanzlerin bis in einen Raum, der ein bisschen wie ein wissenschaftliches Labor aussah und in dessen Mitte etwas wie ein überdimensionierter Fahrstuhlschacht den Blick auf sich zog. Sie steuerte auf diesen Schacht zu und blieb vor der Tür stehen, die sich auf Knopfdruck öffnete und uns einließ.
„Warum mussten wir eben die vielen Treppen steigen?“ murrte ich halblaut. „Mit dem Ding wäre es schneller und bequemer gewesen...“
„Oh, der fährt nicht nach oben“ lachte die Kanzlerin und drückte auf einen Knopf. „Hier geht es nur nach unten.
Bevor ich ganz begriffen hatte, was diese Worte bedeuteten, befanden wir uns plötzlich im freien Fall. Ich schrie laut auf, aber die Kanzlerin legte mir begütigend die Hand auf den Arm.
„Es ist alles in Ordnung,“ sagte sie, „der Fahrstuhl ist immer so schnell. Man gewöhnt sich daran, wenn man die Strecke öfter fährt. Wollen Sie sich vielleicht setzen?“
Sie deutete auf ein paar Sessel, die in einer Ecke der geräumigen Kabine im Kreis angeordnet waren. Ich stöhnte nur und stolperte mit zittrigen Beinen zu der Sitzgruppe hinüber. Als ich mich endlich in einen der Sessel fallen ließ, fiel mir auf, dass es mir ziemlich schwer fiel, meine Füße vom Boden zu lösen. Beim gehen hatte ich es noch dem Schock zugeschrieben, aber nun war es eindeutig. Auf irgendeine Art wurden meine Schuhsohlen an den Boden geheftet, wahrscheinlich, um zu vermeiden, dass ich bei der krassen Beschleunigung an die Decke stoßen würde.
„W... wohin fahren wir?“
„Das werden Sie gleich sehen.“ Jetzt wurde mir diese Frau doch ziemlich unheimlich.
„Und wie lange sind wir unterwegs...?“ wagte ich noch zu fragen. Sie setzte sich mir gegenüber und lächelte mich an.
„Etwa eine halbe Stunde. Wir sind inzwischen deutlich schneller, als wir es im freien Fall wären.“
Ich setzte zu einer weiteren Frage an, schluckte sie jedoch herunter, bevor sie es über meine Lippen geschafft hatte. Auf einem kleinen Tischchen lagen Zeitschriften. Ich griff mir eine und begann zu lesen.
Eine knappe halbe Stunde später wurde der Fahrstuhl plötzlich langsamer. Ich fühlte, wie ich in meinen Sessel gedrückt wurde. Schließlich fuhren wir nur noch mit der Geschwindigkeit eines normalen Fahrstuhls und hielten endlich ganz.
Die Kanzlerin erhob sich aus ihrem Sessel, strich ihr Jackett glatt und bedeutete mir, ihr nach draußen zu folgen. Wir befanden uns in einem langen Gang. Ich musste mich beeilen, um mit meiner Begleiterin Schritt zu halten.
„Wo sind wir hier?“ fragte ich sie atemlos.
„Wir befinden uns im Hauptquartier der Erdregierung.“
„Der Erd... Was?!?“
„Schon vor Jahrzehnten haben sich die Staatsoberhäupter der verschiedenen Länder der Erde zusammengetan und gemeinsam ein Parlament gegründet, das für die ganze Erde spricht. Hier drin“, sie blieb stehen und fasste die Klinke einer Tür, „treffen sich die Vertreter aller Völker der Erde, um gemeinsam über eine bessere Zukunft zu beraten.“
„Sie meinen, hier unten sitzen sie alle beisammen und verstehen sich, obwohl oben Krieg herrscht?“
„An dem Problem arbeiten wir. Unter anderem. Dafür ist es unerlässlich, dass wir alle das gleiche Ziel haben.“
„Aber was ist mit Staaten wir Nordkorea oder...“
„Sehen Sie selbst!“
Mit diesen Worten öffnete sie die Tür und wir traten ein. In der Mitte des weiten Saals, der sich vor uns auftat, stand ein einzelnes Rednerpult. Darum herum erhoben sich stufenartig die Sitzreihen. Sie bildeten einen Halbkreis um den Platz des Redners. Es sah also aus, wie in den meisten Parlamenten der Erde. Überall auf den Sitzen saßen die Staatsoberhäupter der vielen Länder unserer Erde. Einige kannte ich, andere waren mir vollkommen unbekannt.
„Ich habe Sie extra zu einem Versammlungstag hierher bestellt,“ ließ sich die Kanzlerin wieder vernehmen, „damit Sie das Erdparlament in ganzer Pracht bewundern können.“
„Moment, sagten Sie nicht eben noch, dies sei die Erdregierung...?“
„Das ist doch jetzt egal“, erwiderte sie etwas unwirsch.
„Aber warum ist dieser Versammlungsraum ausgerechnet unter Berlin? Warum sollten alle Staatsoberhäupter der Welt wer weiß wie oft ausgerechnet nach Deutschland reisen, um an diesen Sitzungen teilzunehmen?“
Die Kanzlerin grinste.
„Keine Sorge, das ist äußerst fair geregelt. Sehen Sie, wir sind hier nicht nur unter Berlin. Wir sind genauso unter Washington, Pjöngjang und Brasilia.“
„Das ist doch absurd. Wie können wir gleichzeitig...“
„Die Problematik mit dem neutralen Standort hat schon die Gründer der Erdregierung beschäftigt. Sie beschlossen, einen Ort auszuwählen, zu dem alle den gleichen Anfahrtsweg haben würden. So einen Ort gibt es aber nur einen. Die genaue Mitte.“
Ich lachte kurz auf. Das war zu absurd.
„Sie wollen mir allen Ernstes einreden, wir befänden uns im...“
„Erdkern, ja. Dieser Saal ist von einer äußerst widerstandsfähigen Schicht umgeben. Fragen Sie mich nicht, woraus sie ist, ich bin Bundeskanzlerin und keine... wer immer sich um soetwas kümmert, aber Tatsache ist, dass sie hält und dass jeder der vielen Fahrstuhlschächte zu allen Hauptstädten der Welt ebenfalls damit gepanzert ist.“
„Aber das ist doch... das kann doch...“
Jetzt lachte die Kanzlerin.
„Jetzt halten Sie sich doch nicht so lange mit den Nebensachen auf. Sie haben nach etwas ganz anderem gefragt.“
Sie ging zu einem Tisch im Hintergrund des Saals, an dem mehrere Leute standen und angeregt diskutierten. Als die Bundeskanzlerin mit mir im Schlepptau erschien machten sie höflich platz und gab den Blick auf ein Buch frei, das aufgeschlagen fast den ganzen Tisch einnahm und etwa so dick zu sein schien, wie die sieben Harry-Potter-Bände zusammen.
„Sie wollten wissen, was unser Plan ist? Sehen sie ihn sich selbst an. Das ist er.“
Ungläubig strich ich mit der Hand über die Seiten des riesenhaften Wälzers.
„Das ist...?“
„Der Plan zur Errettung der Welt, ja. Eine Ausarbeitung darüber, wie jedes einzelne der Probleme dieser Welt zu lösen ist. Wie wir den Hunger stillen, Armut und Krankheit bekämpfen, den Krieg beenden, Gewalt verbannen und die Erde zu einem glücklichen Planeten machen können.“
„Das... das glaube ich nicht, das ist... unmöglich.“ Ich war vollkommen überwältigt. Die Kanzlerin hingegen schaute mich fast ein wenig ärgerlich an.
„Unmöglich? Aber du hast es doch von uns verlangt! Du meintest, wenn wir keinen solchen Plan hätten, würden wir nicht zu Politikern taugen.“
Darauf wusste ich keine Antwort, also ging ich nicht weiter darauf ein, sondern deutete nur fragend auf das Buch.
„Darf ich...?“
„Natürlich dürfen Sie, aber sie würden Monate oder gar Jahre brauchen, um das alles zu lesen. Ich schlage vor, Sie begnügen sich mit der handlichen Zusammenfassung.“
Sie hielt mir einen dicken Hefter vor die Nase, den ich schnell ergriff.
„Und nun entschuldigen Sie mich, ich muss noch mit einigen Leuten reden, bevor die Sitzung beginnt...“
Mir war das recht. Ich setzte mich in eine Ecke und blätterte in dem Hefter.

Zwanzig Minuten später kam die Kanzlerin wieder vorbei.
„Die Sitzung fängt gleich an, Sie müssen langsam gehen. Ich lasse Sie zum Ausgang bringen.“
Ich drückte ihr strahlend den Hefter wieder in die Hand.
„Das ist unglaublich. Was für Ideen. Was für ein Plan! Ich hätte nie gedacht, das einmal sagen zu können, aber ich glaube, das könnte funktionieren. Ja, ich glaube, dass das die einzige Möglichkeit ist, die Welt zu retten!“
„Grämen Sie sich nicht zu sehr, dass Sie nicht darauf gekommen sind. Daran haben viele Menschen viele Jahre gearbeitet.“
„Wann ist er fertig geworden?“ wollte ich gespannt wissen. „Treffen Sie sich heute, um ihn endgültig zu beschließen?“
„Oh nein, ganz und gar nicht. Der Plan wurde in den 80ern fertiggestellt und seitdem nur noch aktualisiert und an die jeweiligen Veränderungen angepasst.“
Ich starrte sie verdutzt an.
„Aber warum wird er dann nicht schon längst umgesetzt?“
Die Kanzlerin sah mich mit einem schiefen lächeln an.
„Das wird er doch. Immer wieder und überall.“
Ich war bestürzt.
„Aber warum ändert sich denn nichts? Was ist schief gelaufen? Ich war mir so sicher, dass dieser Plan die Lösung wäre.“
„Vielleicht ist er das tatsächlich. Am Plan liegt es nicht. Es liegt an den Menschen.“
„Den Menschen?“
„An den Wählern, um genau zu sein. Sieh mal, dieser Plan besteht aus vielen kleinen Schritten, die im Ganzen zu etwas Gutem führen. Doch diese vielen kleinen Schritte sind mitunter auch mit opfern verbunden. Wenn jemand jedoch von seinem Volk verlangt, zu opfern, dann wird er abgewählt und wir müssen uns etwas einfallen lassen, um seinen Nachfolger ebenfalls von unserem Plan zu überzeugen. Das geht nicht so schnell. Außerdem kann auch nicht jeder neue Regierungschef oder jedes neue Staatsoberhaupt einfach machen, was er oder sie will. Sie haben in der Regel Parteien und Interessengruppen im Rücken, an deren Meinung sie ihre Politik ausrichten müssen. Wie soll man es unter diesen Bedingungen schaffen, einen langfristigen Plan auf der ganzen Erde umzusetzen?“
„Heißt das, dieser Plan wird niemals umgesetzt werden?“
„Wahrscheinlich nicht, nein. Wir haben getan, was wir konnten. Wir haben den Masterplan gemacht. Mehr können wir nicht leisten.“
Ich stand einige Sekunden lang still. Dann bedankte ich mich kurz und trottete zur Tür. Ein Angestellter führte mich durch all die Gänge zurück zum Fahrstuhl, begleitete mich auf meinem Weg nach oben und brachte mich schließlich zum Ausgang. Er verabschiedete sich mit einem Nicken und verschwand wieder im Gebäude.

Seitdem ist mein politisches Engagement gleich null. Ich weiß jetzt, dass es die Möglichkeit gäbe, uns allen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Aber ich weiß auch, dass wir diese Möglichkeit nicht nutzen können. Ein großartiger Plan reicht nicht aus. Genauso großartig müssen die sein, die ihn umsetzen, und zwar alle. Wenn sie das jedoch alle wären, wäre die Welt auch ohne diesen Plan ein besserer Platz.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen