Von Mr. Big
I
Inseln über dem Winde,
Atlantischer Ozean (Karibik)
Der
Ozean ist klar und ruhig. Ein Junge sitzt am Steg, die Beine im Wasser
baumelnd, und schaut in die Ferne. Folgt man seinem Blick, so könnte man
meinen, dass er wie verzaubert von den Wellen ist, die sanft über seine Füße
streicheln. Doch dieses Auf und Ab, die ruhige See, ist nicht von Belang. Nur
der Horizont erweckt seine Sehnsucht. Dort wo das azurblaue Meer in den nur
wenige Nuancen helleren Himmel aufgeht, und es fast so aussieht, als trenne
diese Linie zwei Welten voneinander, die eigentlich zusammengehören. Ruhig und ausdauernd
sitzt er da und hört dem Rauschen der Wellen zu.
Ein
älterer Mann mit grau meliertem Bart, dessen Zenit schon längst überschritten
ist, kommt dahergelaufen. Seine Füße schleichen über den abgetretenen
Trampelpfad. Der Pfad verbindet zwei kleine Provinzdörfer, Heimat weniger Hundert
Seelen, miteinander. Auf der Insel, so sagt man, gibt es nicht viel mehr als
diese beiden Fischerdörfer, ihre Einheimischen und den Dschungel. Ein Fleck unberührter
Natur inmitten des atlantischen Ozeans. Der alte Mann stützt sich schwer auf
dem Gehstock, den er mit sich führt. Der lange Bart und das schneeweißes
Haupthaar bewegen sich leicht, als eine kleine Brise über das Ufer weht. Das
Frohgefühl des Gehers haftet auf seinem zerfurchten Gesicht. Und wie er da so
entlangschlendert, bemerkt er den Jungen, der alleine am Steg sitzt und auf das
Meer schaut.
Was
er wohl beobachtet, fragt sich der alte Mann. Vielleicht die Lachse, die immer
mal in kurzen Sprüngen dem Wasser zu entkommen versuchen oder vielleicht die
Möwen, die sich das Spektakel von einem Fels in der Nähe aus anschauen. Seine
Neugierde ist geweckt, er beschließt zu dem Jungen zu gehen.
„Hallo,
mein Junge. Na, ist das Meer nicht wunderschön?“ sagt der Alte, als er auf den Steg tritt. Er spricht
ruhig und freundlich, mit tiefer brummiger Stimme. Der Junge scheint ihn erst
gar nicht zu hören. Er ist weit entfernt, in einer anderen Welt. Nur
widerwillig wendet er sich dem Alten Mann zu. Im Gesicht des Jungen sind Spuren
von Wehmut zu erkennen. Wortlos verharren sie am Steg. „Heute ist die See friedlich.
Wir haben klare Sicht. Ein ideales Fischerwetter. Oder um die Fische zu
beobachten. Schaust du nach den Fischen, mein Junge?“
Der
Junge antwortet nicht. Er wendet seinen Blick wieder dem Meer zu. Es vergeht
eine kleine Ewigkeit. Dann schüttelt er langsam den Kopf.
„Nach
was schaust du denn? Schaust du die Möwen an, wie sie über das Wasser gleiten? Prächtige
Schwingen haben die Tiere.“
Erst
keine Regung, dann ein Kopfschütteln. Der Alte überlegt.
„Sag
Junge, wartest du auf jemanden?“
Plötzlich
heften sich die Augen des Jungen an die seinen. Wie alt er wohl sein mag, fragt
sich der Mann. Neun, höchstens zehn Jahre, wenn es hochkommt. Zu jung, um
solche Zeichen in sich zu tragen. In den
blauen Augen entfaltet sich ein Meer der Hilfslosigkeit und Trauer, wie es der Alte
noch nie zuvor gesehen hat. Eine trügerische Stille legt sich über den Strand. Keiner
von beiden spricht ein Wort. Die Blicke verharren aufeinander, immer noch
spiegeln sich zwei Seelen darin. Dem Mann wird unwohl, denn was er in ihnen
sieht, beunruhigt ihn zutiefst.
Dieser Blick, wie kann
ein junger Mensch so viel Trauer in sich tragen?
Schweigend
schnappt er seinen Gehstock und steht auf. Er wirft dem Jungen einen letzten
Blick zu. Dann begibt er sich wieder zu dem Pfad.
II
Wieder
auf dem vertrauten Weg angekommen, ist
es nicht mehr weit bis zum Dorf. Das Herz der Insel schlägt hier vor sich hin. Man
erblickt einfache, dicht aneinandergereihte Arbeiterhütten. Manche bestehen nur
aus ein paar Bambusstäben und Stroh. Je weiter man ins Zentrum vordringt, je
öfter tauchen Behausungen aus Lehm und Stein auf. Einige besitzen sogar Ziegeldächer.
Ihre kaminrote Farbe glänzt sanft im Sonnenlicht.
Eigentlich
sollte auch der Alte dies sehen, doch er nimmt nichts davon wahr. Der Blick des
Jungen verfolgt ihn in seinen Gedanken und lässt ihm keine Ruhe.
Du hast diese Augen
schon einmal gesehen. Vor nicht allzu langer Zeit.
Eine
Kirchturmglocke läutet und befördert ihn zurück in die Realität. Er hat
jegliche Orientierung verloren. Hastig schaut er sich um, erkennt Häuser, Dächer,
Gassen und vor ihm eine Tür. Was war noch mal der Grund gewesen, weswegen er
aufgebrochen war? Er weiß es nicht mehr. Irgendwas scheint ihn hergeführt zu
haben. Er betätigt die Klinke und tritt ein.
Es
ist eine alte Spelunke. Durch die Fenster schleichen Lichtfetzen in den Raum
und lassen einen schaurigen Schein zurück. An einem Tisch sitzen drei Matrosen.
Sie sehen sehr mitgenommen aus und unterhalten sich eifrig. Ihm kommt der Gedanke,
dass sie womöglich etwas über den Jungen wissen könnten.
„Entschuldigung
meine Herren, haben sie den Jungen am Steg bemerkt? Wissen Sie, wer er ist?“
„…pssst,
kein Wort jetzt. Wie ich es dir gesagt habe!“, spricht der Erste. Der Alte Mann
schaut etwas verdutzt.
„Wieso? Denkst du, wenn wir nicht über ihn
reden, bringt ihn das zurück?“, fragt der Zweite.
„Es
bringt ihn nicht zurück und nimmt auch die Schuld nicht von uns. Sagen wir es
doch ruhig, er ist tot und damit basta. Um ihn schere ich mich gar nicht, aber
die schöne Ladung hätt‘ ich gern gerettet! So schnell kann’s gehen im Leben.
Unser Reichtum für die See, pah!“, spottet der Dritte. Dann fangen sie an, sich
gegenseitig zu beschimpfen.
Dem
Alten ist das nicht ganz geheuer. Er stapft wieder Richtung Ausgang, als ein
leises Räuspern aus der hintersten Ecke ertönt.
Ein
Greis beugt sich aus dem Halbdunkeln hervor. Er hat ein fleckiges Gesicht, dazu
kaum noch Zähne im Mund. Der Schemel, auf dem er sitzt, wirkt viel zu klein für
seine wuchtige Statur. Er muss einst ein starker Bursche gewesen sein.
„Ihr spürt ihn noch, habe ich Recht? Der gestrige
Sturm. Er hat seine Spuren hinterlassen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Er
tobte und tobte und trieb die Schiffe an die Felsen, wie als ob er von einer höheren
Macht geleitet würde. Nichts konnte ihn aufhalten. Ja, wer dann noch so töricht
ist und sich auf so ein Abenteuer einlässt, der darf sich nicht wundern, wenn die
See einen aufreibt. Sie nimmt keine Rücksicht, nein. Nicht vor den Menschen.“ Er
räuspert sich.
„Ich
habe es euch gesagt, tausend Mal habe ich es euch gesagt, dass ihr ihrem Ruf nicht
folgen sollt. Sie wird ein Stück von euch einbehalten, oh ja, so wie sie stets mir
ein Stück meines Lebens entriss, bis am Ende nur das blieb, was ich heute bin. Ein
einsamer, alter Seemann. Doch ihr Taugenichtse wolltet ja nicht auf mich hören.
Ihr habt die Segel gespannt und versucht der Natur ein Schnippchen zu schlagen.
Pah, das habt ihr nun davon. “ Seine Stimme ändert sich, wird dunkler und merklich
lauter.
„Nur
um schmutzige Geschäfte zu machen. Zum Teufel! Und das Meer wusste es. Jetzt
seht ihr, was es mit ehrlosem Gesindel wie euch macht. Doch wartet, ich
erinnere mich. Nicht jeder von euch war verdorben. Was ist mit eurem Steuermann
passiert? Wusste er von eurer gestohlenen Ladung? Wo ist er hin? Er war ein
guter Mann, der einzig aufrichtige unter euch. Für ihn war ein anderes Schicksal
bestimmt.“
Ein
Seufzer entgleitet ihm. „Keiner weiß nun, wo er steckt. Schiff und Ladung wurden
zerschmettert. Aber ihr habt überlebt. Doch nein, nicht alle kamen zurück. Das
Meer hat einen von euch beibehalten. Als Pfand, damit ihr ja nie wieder so eine
Dummheit begeht. Ist es nicht so? IST ES NICHT SO?“
Die
Matrosen verstummen. Im Lokal wird es totenstill.
Der
Alte Mann steht wie angewurzelt da und denkt nach.
Was sagt er da? Ich glaube,
ich kenne diesen Steuermann, von dem er spricht. Oft habe ich ihn am Hafen
gesehen. Wie er da stand, mit erhobenem Haupt und klarem Blick. Seine Augen blau
wie das Meer. Vor jeder Fahrt hat er Frau und Sohn verabschiedet, bevor er…Oh
nein. Diese Augen. Ich wusste doch, ich habe sie schon einmal gesehen!
Eins
und Eins fügt sich zusammen. Er muss zurück zum Steg.
III
Der
Junge sitzt noch immer dort, den Blick zur See gewandt. Ein rauer Wind ist
aufgezogen und spornt den Wellengang an. Der Alte Mann setzt sich neben den
Jungen und legt die Hand auf seine Schulter.
„Ich
weiß, wie du dich fühlst.“
Der
Junge blickt zu ihm auf.
„Du
fühlst dich allein gelassen. Es ist, als ob etwas aus deinem Leben entschwunden
ist, was eigentlich immer zu dir gehört hat. Und du denkst: Schuld ist das Meer.
Denn es hat dir deinen Vater genommen.“
Große
blaue Augen schauen ihn an. Eine kleine Träne rollt über die Wange. Er spricht
weiter.
„Weißt
du, die See ist kein böses Wesen. Du musst nur begreifen, wer sie wirklich ist.
Niemand hat sie je vermocht zu bändigen. Viele Jahre schon probieren es die
Menschen, nur um festzustellen, dass wir nur durch ihre Gunst existieren
können. Früher, vor vielen hundert Jahren, als unsere Vorfahren mit Flößen vom großen
Kontinent übersetzten, besaßen sie nichts, außer Hoffnung und den Drang, weiter
zu segeln, eine neue Heimat zu finden. Das Meer hätte sie allesamt gegen die Felsen
treiben können. Doch sie tat es nicht. Sie hatte andere Pläne mit uns und ließ
uns gewähren. So konnten wir auf diesen Inseln Fuß fassen und ein neues Leben
aufbauen.
Ich
glaube sie ist rechtschaffen, in all ihren Zügen. Und zu uns Menschen hat sie
manchmal eine ganz besondere Verbindung.“
Der
Junge scheint nicht ganz zu begreifen. Auf einmal spürt es der Alte Mann und seine Augen beginnen zu funkeln.
„Höre
nur hin, wie sie zu uns spricht.“
Der
Wind pfeift die Küste entlang. In ihren Ohren erklingt das Rauschen der Wellen.
„Wir
waren einst Freunde, weißt du? Die See und ich. Als kleines Kind schon habe ich
sie bewundert. Sie war immer etwas Außergewöhnliches. Ich spielte oft mit ihr, ließ
Steine über das Wasser flitzen. Die ersten Male gingen sie einfach unter. Doch
irgendwann sprangen sie weiter und weiter. Da bemerkte ich, dass sie mit mir spielte. Ich hatte einen neuen
Freund gewonnen. Als ich schließlich ein junger Mann von beachtlicher Größe
geworden war, heuerte ich als Matrose an, um ihr näher sein zu können. Wir
lebten zusammen, jahraus, jahrein. Sie umgab mich mein ganzes Leben. In Zeiten
größter Not, wenn Wind und Wetter mein Schiff zu zerstören drohten, gab sie mir
Mut. Ich hörte immer ihre Stimme und wusste, dass mir nichts passieren würde.
Wie
jede Freundschaft hatten wir Höhen und Tiefen, Ebbe und Flut. Dann lernte ich eine
Frau kennen und verliebte mich. Fortan war ich häufiger an Land. Natürlich
bereitete das der See großen Kummer. Vernachlässigung ist nicht schön. Mein
Leben war nun Teil eines anderen menschlichen Lebens und ich schaffte es nicht
mehr für meine alte Freundin, die See, da zu sein. Was tat ich? Ich traf die vielleicht
die schwerste Entscheidung in meinem ganzen Leben. Ich entschied mich allein
für die Liebe und damit gegen die See.
Sie
rief nach mir, doch ich hörte nicht mehr hin. Mit jedem Tag wurde ihre Stimme
schwächer. Bis sie irgendwann ganz verschwunden war. Die Stimme des Meeres
erstarb.
Plötzlich
wusste ich, was mich ein Leben lang begleitet, mich ein Leben lang geleitet hatte.
Es war weg. In meinem Herzen blieb ein großes Loch zurück. Nichts konnte es je
wieder füllen.
Es
ist wie in jeder guten Freundschaft. Wenn du aufhörst dem anderen zuzuhören,
dann verlierst du ihn. Meine magische Verbindung zum Meer erlosch. Und mit ihr
die Erinnerung an all die schöne Zeit.“
IV
Beide
sitzen sie da, blicken nun auf das Meer hinaus. Der Junge wischt sich die
Tränen vom Gesicht. Auch der Alte Mann ist tief gerührt.
„Du
fragst dich sicherlich, warum ich dir das alles erzähle?“
Der
Junge nickt vorsichtig mit dem Kopf.
„Nun,
ich habe deinen Vater gekannt. Er war ein klügerer Mensch als ich und ist nie
an der Entscheidung zwischen der Freundschaft und der Liebe zerbrochen. Er fand
die Frau seiner Träume und behielt die Freundschaft zur See. Wie glücklich er
gewesen sein muss.“
Wieder
kullern kleine Tränen über das Gesicht.
„Lass
dir eins sagen, mein Junge: Habe keine Angst. Wenn ich etwas in meinen Jahren auf
See gelernt habe, dann, dass sie zu all denen gerecht ist, die gerecht zu ihr
sind. Und Freunde sind ihr besonders wichtig. Sie wacht über sie, damit deren
Glück nichts im Wege steht. Wenn du an den Horizont schaust…“, sein Finger
wandert auf der Linie zwischen den Welten entlang, „…dann wirst du verstehen,
dass du dir keine Sorgen machen brauchst. Der Mensch und das Meer schätzen
einander. Es ist ein Geben und Nehmen im Einverständnis der Gezeiten. Manchmal
schien auch für mich alles trüb und aussichtslos zu sein. Doch dann erinnerte
mich an meine Freundin da draußen. Eine solche Freundschaft gibt dir etwas, das
wertvoller ist, als alle Schätze auf dieser Welt. Sie gibt dir Hoffnung.“
Etwas
taucht am Horizont auf. Ein kleiner Punkt. Der Schleier der Unkenntnis liegt
über der Form. Schnell wächst und wächst sie, wird größer, gewinnt an Raum. Sie
zieht sich in die Breite und reckt den Hals in die Höhe. Mast und Rumpf
erscheinen. Ein Schiff! Bald sind menschliche Silhouetten auszumachen. Auf der
Reling steht ein Mann, ragt über die anderen hinaus. Er winkt wie wild geworden
mit beiden Händen, als ob er dadurch selbst das Schiff beschleunigen könnte.
Der
Junge springt auf. Er erkennt das Profil des Mannes, hat es schon tausend Mal
in seinem Leben gesehen.
„Papa...“,
flüstert er.
Der
Alte atmet tief ein.
Ich spüre es. Das war es
also, was ich die ganzen Jahre vermisst habe. Nun weiß ich wieder, was es heißt,
einen Freund für’s Leben zu haben. Ich danke dir, liebe See! Ich danke dir,
dass du nach so vielen Jahren der Stille immer noch bei mir bist.
Der
Junge beginnt zu winken, zu springen und zu schreien. Sein Kummer verschwindet
wie ein Stein im Meer. Noch eine gefühlte Ewigkeit dauert es, bis das Schiff
endlich nah genug ist. Dann hechtet der Vater von der Reling und schwimmt
seinem Sohn entgegen. Dieser ist außer sich vor Freude und dreht sich zum Alten
Mann um.
Doch
da ist kein Alter Mann mehr. Er ist bereits gegangen. Nur noch die Abdrücke
seines Gehstocks sind schwach im Sand auszumachen. Wellen rauschen gegen den
Steg und ein Windhauch streicht über die Insel. In seinen Ohren erklingt die
Stimme des Meeres.