MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Montag, 28. Oktober 2013

Bucktopia: Schattenseiten. Folge 4: Ein Name und ein Freund

Nachdem Clara weg war, machte Leopold sich daran, das ganze Haus noch einmal gründlich zu durchsuchen. Einerseits hatte er immer noch keinen regenfesten Mantel gefunden, andererseits hatte die Begegnung mit der jungen Frau ihm klar gemacht, dass ihm noch etwas anderes fehlte. Leopold war auf der Suche nach einer größeren Waffe.
Natürlich war ihm klar, dass ihm auch ein Schwert oder etwas ähnlich großes nicht viel weiterhelfen würde, wenn ihn jemand wie Clara aus dem Hinterhalt angriff. Allerdings hatte allein ihr spöttischer Blick auf seine Sichel in ihm den Wunsch geweckt, sich mit etwas ehrfurchtgebietenderem verteidigen zu können. In diesem Haus schien es allerdings nichts passendes zu geben. Immerhin fand er eine Plane, aus der er sich mit der Sichel ein passendes Stück herausschnitt, um es bei Regen wie eine Decke um die Schultern legen zu können. Als er eben beschließen wollte, dass sein Waffenproblem überall zu lösen sei, nur eben hier nicht, fiel ihm der Schuppen ein, den er von außen gesehen hatte. Er schnappte sich sein Bündel, verließ das Haus und ging die paar Schritte bis zu der kleinen Bretterbude, in der er, wie es bei ihm zu Hause gewesen war, allerlei Gartengerät vermutete. In Gedanken an seine kürzliche Niederlage gegen einen rein körperlich eindeutig schwächeren Gegner sah er sich noch einmal gründlich um, bevor er das staubige Innere betrat.
Die Gartengeräte hier drin waren im Grunde die gleichen wie im heimischen Schuppen. Der Unterschied lag darin, dass sie zuhause ordentlich aufgereiht an der Wand hingen, während hier alles kreuz und quer durcheinander lag. Leopold sah sich verschiedene Hacken, Beile und Rechen an, konnte aber an keinem der Geräte so recht Gefallen finden. Manches war zu schwer, einiges taugte nicht zum Angriff und der Rest sah einfach nicht nach Waffe aus. Zu guter Letzt fiel Leopolds Blick auf eine alte Sense. Er hob das Gerät auf und wog es in der Hand. Schwer. Aber nicht zu schwer. Er prüfte die Klinge. Erstaunlicherweise war sie nur von einer dünnen Rostschicht überzogen, darunter aber noch intakt. Leopold verließ den Schuppen, um seinen Fund auszuprobieren.
Schon nach den ersten Schwüngen stellte er fest, dass er den Stiel würde auswechseln müssen. Das Holz war ein paar Mal zu oft nass geworden und hielt nicht mehr viel aus. Er dachte nach. Vielleicht empfahl es sich ja auch, den langen Stiel ganz wegzulassen, und stattdessen lieber einen kurzen Griff anzubauen, wie bei einem Kurzschwert? Diese Idee gefiel ihm nicht schlecht. Er beschloss, bei nächster Gelegenheit einen Versuch zu machen.
Nachdem er das Sensenblatt verstaut und auch einen neuen Schleifstein eingepackt hatte, der alte war mit seinem Rucksack verloren gegangen, brach Leopold wieder auf, um vor dem Abend noch ein paar Wegstunden zurückzulegen.

***

Als Leopold abends an seinem Feuer saß machte er sich wieder einmal Gedanken um Jackson und die Aufgabe, die dieser ihm gestellt hatte. Natürlich hatte dieser Typ ihm nicht das geringste zu sagen, geschweige denn ihm Hausaufgaben aufzugeben, aber nach der belustigten Reaktion von bereits zwei Leuten bei der Nennung seines Namens musste er sich eingestehen, dass „Leopold“ wohl kein Name für die Outlands war. Versonnen strich er über das Sensenblatt, von dem er gerade unter Verwendung seines Schleifsteins und einiger Büschel Gras Rost und Schmutz entfernt hatte und sah den Lichtreflexen zu, die das Feuer auf der nunmehr blanken Oberfläche verursachte. Plötzlich stutzte er. Was war das da auf der Klinge? Da war ein Schriftzug. Leopold sah genauer hin. „Rodge Sunderland“, hieß es da und klein darunter: „Gartengeräte“. Ach so. Leopold musste Grinsen. Einfach nur eine Herstellerprägung.
Mit plötzlich aufkeimendem Interesse nahm er seine Sichel zur Hand und suchte nach einer ähnlichen Prägung. Die Klinge war zwar nicht rostig, aber schmutzig und teilweise noch vom Blut des Banditen bedeckt, der wenige Tage zuvor durch eben diese Klinge gestorben war. Leopold schauderte, als er den Stahl mithilfe eines Grasbüschels reinigte. Dann sah er sich das Gerät noch einmal genau an. Im ersten Moment war nichts zu sehen und Leopold war fast ein wenig enttäuscht, doch dann entdeckte er doch noch etwas. Ganz nah am Griff gab es eine winzige Gravur. Leopold hielt die Sichel ganz nah vor seine Augen. Er brauchte eine Weile, um herauszufinden, in welchem Winkel das Licht des Feuers auftreffen musste, damit er den Schriftzug entziffern konnte. In winzigen, geschwungenen Buchstaben war dort eingeprägt: „Rodge Sunderland“.
Leopold lachte laut auf. Zwar fehlte hier die Unterzeile, aber es war doch klar, dass es sich um ein- und dieselbe Firma handelte. Das wäre ja fast ein Grund um...
Nein, das war zu albern. Die Leute würden ihn dafür auslachen.
Das hieß, würden sie das? Wie viele Menschen mochten wohl noch Kenntnis davon haben, dass es mal eine Firma namens „Rodge Sunderland“ gegeben hatte, die Gartengeräte hergestellt hatte? Kaum jemand, so viel war klar. Leopold probierte den Klang des Namens ein paar Mal aus.
„Rodge Sunderland. Rodge, Rodge, Rodge“
Abermals musste er lachen. Die Idee war albern, aber sie gefiel ihm. Sie war aus einer zufälligen Übereinstimmung von Belanglosigkeiten entstanden. Das erinnerte Leopold an sich selbst. Ja, ihm wurde gerade klar, dass auch er sich als nichts weiter verstand, als eine zufällige Übereinstimmung von Belanglosigkeiten. Ein Körper, ein Geist, eine Seele, zusammengewürfelt ohne System oder Prinzip, ein Leben, eine Verwandschaft, die nicht im geringsten auf die anderen Teile seines selbst abgestimmt waren, und das alles im Grunde so belanglos, wie das Leben und Sterben an sich. Leopold hätte schon wieder anfangen können, zu lachen, aber er befürchtete, nicht mehr damit aufhören zu können und letztendlich einer äußerst egozentrischen weil einsamen Form des Wahnsinns zu verfallen. Diese Vorstellung flößte ihm genug Respekt ein, dass er sich zusammenriss und nur ein bitteres Lächeln seine Lippen umspielte. Ja, die Idee war gut. Es sah so aus, als habe er seinen Namen gefunden.

Nicht lange danach hüllte sich Rodge in seine Decke und war kurz darauf eingeschlafen.

***

Die nächsten Tage vertrieb sich Rodge die Zeit während der Wanderung damit, sich selbst neu zu erfinden. Natürlich wusste er genau, dass der einfache Beschluss, von jetzt an selbstbewusster, mutiger, oder souveräner aufzutreten, ihn nicht zu einem Kerl wie Jackson machen würde, aber er spürte auch, dass mit dem neuen Namen auch eine neue Person in sein Leben getreten war. Leopold war der Junge gewesen, der von seinen Eltern beschützt und behütet in einem großen, einstmals prächtigen Anwesen aufgewachsen war. Rodge dagegen war ein Abenteurer. Zwar war er noch unerfahren, aber von nun an sah er seine ganze Wanderung von einer anderen Warte aus. Er war nicht mehr einfach der hilflose Jugendliche, der sich in einer fremden, feindlichen Umgebung durchschlagen musste. Von nun an war er ein junger Mann, der eine feindliche Umgebung durchstreifte, in der er zuhause war.
Bemerkenswerterweise führten diese Gedankengänge keinesfalls dazu, dass er das Ziel seiner Reise, nämlich wieder ein behütetes Leben bei seinem Onkel zu führen, in Frage stellte. Vielmehr blendete er es einfach aus. Er war auf dem Weg. Sein Ziel hieß Bucktopia. Was dann kommen würde, war für den Moment nicht wichtig.
Neben der neuen Sichtweise auf seine Wanderung und der daraus folgenden Begeisterung dafür hatte der neue Name jedoch noch eine andere Auswirkung. Der Gedanke an den Mann, den er getötet hatte, tat ihm nicht mehr weh. Die letzten Tage hatte er sich oft damit gequält, immer wieder hatte er die Szene durchlebt, immer wieder das Geräusch reißenden Gewebes gehört und dem Blick in die ungläubig aufgerissenen Augen des Sterbenden standhalten müssen. Doch Rodge war nicht Leopold. Rodge war ein Abenteurer, mutiger, entschlossener, draufgängerischer als sein alter ego, und dazu gehörte, dass er nicht den Schwanz einzog, wenn es drastisch wurde. Rodge war, trotz seiner mangelnden Erfahrung, abgebrüht genug, den Anblick eines Toten ohne mit der Wimper zu zucken zur Kenntnis zu nehmen. Und notfalls wieder zu töten.
Es war diese Seite seiner neuen Rolle, die Rodge manchmal Angst machte. Tagsüber war er solchen Anwandlungen gegenüber natürlich immun, aber wenn er abends am Feuer saß kam er oft ins grübeln. Zu dieser Zeit verblasste Rodge zum Teil, und der Junge, der da nachdenklich am Feuer saß, war zum größten Teil einfach Leopold. Und Leopold grauste es vor Gewalt, vor Mord und Totschlag. Am meisten aber grauste es ihm bei dem Gedanken, eines Tages selbst jemandes Leben zu nehmen, bewusst dieses Mal und ohne eine Miene zu verziehen oder dem Leichnam noch einen Blick zu gönnen. Das gehörte, wie er wusste, zu seiner Rolle als Rodge dazu. Und davor hatte er Angst.
Auf der anderen Seite wurde ihm bei diesen nächtlichen Grübeleien klar, dass Rodge auch nur einen Zweck erfüllte. Die Schonungslosigkeit und Kälte in Bezug auf seine Gegner befreiten ihn von der Last der Schuld, die Leopold beständig mit sich herumschleppen musste. Allein deshalb schon war Rodge besser für den Überlebenskampf in den Outlands geeignet. Die Frage nach Schuld kam für ihn erst nach dem Überleben. Für alles, was er im Zeichen seines Überlebens tat, fühlte Rodge sich nicht schuldig. Dadurch war er flexibler und kompromissloser in seinen Handlungen.

***

Eines Tages, er war gerade auf dem Weg durch ein kleines Wäldchen aus verwilderten Obstbäumen, hörte Rodge auf einmal einen Schrei. Er blieb kurz stehen, um zu lauschen. Kein Zweifel, da war irgendwo ein Kampf im Gange. Schmerzensschreie und solche, die im Eifer des Gefechts ausgestoßen wurden, Fußgetrappel und hin und wieder das Geräusch von schweren Knüppeln, die aufeinander oder auf Körper prallten. Leopold hätte sich jetzt wahrscheinlich aus dem Staub gemacht, oder sich einen Platz gesucht, um das Geschehen aus sicherer Entfernung verfolgen zu können. Rodge dagegen verhielt sich anders. Mit langen Schritten lief er in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Beim Laufen zog er seine Sichel hervor.
Schließlich kam Rodge an eine kleine Lichtung und wurde Zeuge eines höchst einseitigen Kampfes. Zwei muskelbepackte Kerle hieben mit großen Knüppeln auf einen Mann ein, der die Schläge so gut es ging mit einem langen Stock abwehrte. Über seine Stirn zog sich ein blutiger Kratzer und er schien mit seinen Kräften schon fast am Ende zu sein. Gerade gesellte sich ein dritter Kerl zu den beiden Knüppelmännern und fing ebenfalls an, auf den Einzelnen einzuschlagen. Am Boden lag das, was von den Begleitern des Stockkämpfers übrig war. Einer der beiden schien gleich zu Anfang ohne Vorwarnung von einem Pfeil getroffen worden zu sein. Seine Taschen waren durchwühlt, wohl das Werk des dritten der Räuber. Der Bogen und ein Köcher mit einem Pfeil lagen achtlos neben einem Baum. Weit schlimmer sah es bei dem zweiten Toten aus. Während sein Rumpf keine schweren Verletzungen aufwies, war von seinem Kopf nicht viel übrig geblieben. Wahrscheinlich hatte ihn einer der riesenhaften Knüppel seitlich getroffen, jedenfalls war der Schädel komplett zertrümmert und der Körper lag in einem unappetitlichen Brei, über dessen Herkunft Rodge lieber nicht zu lange nachdenken wollte. Auch seine Abgebrühtheit hatte irgendwo ihre Grenzen.
Mit drei großen Schritten war er bei den Kämpfenden angelangt. Ohne zu zögern hob er seine Sichel, um dem ersten der Männer die Kehle durchzuschneiden. Dieser hatte ihn jedoch scheinbar trotz des Kampflärms kommen hören, denn er drehte sich gerade noch rechtzeitig um und zwang Rodge durch einen Schlag mit seiner Keule zum Zurückweichen.
Rodge warf einen kurzen Blick auf seine Waffe und begriff, dass dies der Zeitpunkt war, an dem er eine größere hätte gebrauchen können. Der andere schien seinen Gedanken zu erraten. Mit einem höhnischen Grinsen ging er auf Rodge los. Der begriff, dass er nur geringe Chancen hatte, schon wieder so glimpflich davonzukommen, wie bei seinem letzten Abenteuer dieser Art. Vor allem nahm er sich vor, unter keinen Umständen zu Boden zu gehen. Wenn er wieder liegend in die Augen eines stehenden, besser bewaffneten Gegners sehen müsste, wäre das vermutlich das Letzte, was er täte. Geschickt wich er den Schlägen des riesigen Kerls aus, der wie besessen auf ihn los ging. Ihm war klar, dass er sich schleunigst etwas einfallen lassen musste, um aus dieser unangenehmen Situation wieder herauszukommen. Sein Blick suchte die andere Seite der Lichtung ab. Auf einmal kam ihm eine Idee.

***

Der Kleine hatte es tatsächlich schon wieder geschafft. Er hatte sich in einen Kampf eingemischt, der ihn absolut nichts anging und steckte prompt knietief in Schwierigkeiten. Der Schatten bewegte sich am Rand der Lichtung, immer durch die Bäume gedeckt. Das Wurfmesser hatte er schon erhoben. Jetzt wandte der grobschlächtige Kerl ihm das Gesicht und damit auch den Hals zu. Der Schatten holte kurz aus.

***

Rodge warf seine Sichel in Richtung des Gesichts seines Gegners. Dieser war überrascht und stolperte kurz nach hinten, um auszuweichen. Als Rodge gerade nach vorne hechtete und unter dem Arm des Riesen durchtauchte, sah er ein silbriges Glänzen dort entlangfliegen, wo sich eben noch der Kopf des Banditen befunden hatte. Ohne sich weiter Gedanken darum zu machen warf er sich nach vorn, packte den herumliegenden Bogen und den einen Pfeil, der danebenlag, richtete sich beim Umdrehen in eine sitzende Position auf und schoss.
Mit seinem eigenen Pfeil in der Brust brach der Koloss zusammen.
Sofort sah Rodge sich nach seiner Sichel um, in der Absicht, sie zu schnappen und sich wieder in den ungleichen Kampf einzumischen, dessentwegen er überhaupt auf die Lichtung gestürmt war, aber in diesem Moment verpasste einer der beiden Räuber seinem Opfer einen so heftigen Hieb, dass dessen Stock entzweibrach und der Mann mit einem Kopftreffer zu Boden ging.
Die beiden Männer drehten sich um. Hass stand in ihren Blicken. Sie hatten sehr wohl mitbekommen, wie Rodges Kampf mit ihrem Kameraden ausgegangen war. Nun wollten sie ihn rächen. Einer der beiden entdeckte die Sichel im Gras. Sie lag nur wenige Zentimeter vor seinen Füßen. Er hob sie auf, hielt sie kurz hoch, um sie mir und seinem Kumpan zu zeigen, und ließ sie dann hinter seinem Rücken fallen. Die Botschaft war deutlich. Rodge schluckte.
Gerade, als die beiden Anstalten machten, sich in Richtung ihres nächsten Opfers auf den Weg zu machen, flogen zwei glitzernde Dinge durch die Luft. Das eine schlitzte dem vorderen der Banditen den Hals auf. Er fiel leblos zu Boden. Ein Stück weiter blieb das Wurfmesser, jetzt konnte Rodge erkennen, worum es sich handelte, in einem Baum stecken. Das zweite Messer flog auf den zweiten Räuber zu. Der war jedoch geistesgegenwärtig genug, seinen Kopf ein Stückchen zur Seite zu neigen. Die Klinge hinterließ einen langen Schnitt auf seiner Wange und fiel dann weiter hinten ins Gras.

***

Damit war das letzte Wurfmesser verbraucht. Ein leiser Fluch drang aus dem Dickicht, nicht laut genug, um auf der Lichtung gehört zu werden, aber deshalb nicht weniger inbrünstig. Von nun an würde sich alles um die Nahkampfwaffen drehen.

***

Das überrumpelte Ex-Bandenmitglied warf einen schnellen Blick zu dem Gebüsch, aus dem die Messer gekommen waren. Dann stürmte der Kerl plötzlich los, überquerte die Lichtung und zerrte Rodge, der waffenlos und zudem ziemlich überrumpelt war, ins Gebüsch. Der Räuber schien sich da einigermaßen sicher zu fühlen. Jedenfalls kümmerte er sich, nach einem misstrauischen Blick in die Runde, erst einmal nicht mehr um denjenigen, der für die Wurfmesserattacke verantwortlich war, sondern beugte sich tief zu Rodge hinunter und hielt ihm ein Messer an die Kehle, das er aus seinem Gürtel gezogen hatte.
„Jetzt mein Freund kommt die Rache“ wisperte er ihm zu.
„Ich weiß zwar nicht, was dich zu deinem Heldenmut bewogen hat, aber was immer es ist, du hast jetzt noch drei Sekunden Zeit, es aus tiefstem Herzen zu verfluchen.“
„Ich glaube nicht, dass drei Sekunden für all diese Dinge reichen“ erwiderte Rodge. Immerhin, eine halbwegs unbeeindruckte Antwort zum Schluss. Nicht so souverän, wie er es gern gehabt hätte, aber für einen Anfänger auch nicht ganz schlecht.
Der Bandit schenkte ihm ein spöttisches Lächeln und setzte die Klinge an seinem Hals an.
Auf einmal die gleiche Situation nochmal. Neulich, der krumme Wegelagerer. Das Blut aus dem Hals, warm und in pumpenden Stößen. Der erschrockene, ungläubige Blick, ganz genauso.
Aber dennoch eine andere Situation, ein anderer Mensch, ein anderer Tag. Doch woher das Blut? Er hatte doch seine Sichel gar nicht mehr?
Rodge stieß den Körper von sich weg. Vor ihm stand eine Gestalt, nicht sehr groß, in einen schwarzen Umhang gehüllt. In der Hand hatte sie einen blutigen Dolch. Ein paar Sekunden lang sahen sich die beiden schweigend an. Dann ergriff Rodge das Wort.
„Danke. Ich war ganz schön am... naja, danke jedenfalls. Warum hast du das gemacht? Wer bist du?“
„Die Einzelheiten klären wir später“ sagte die Gestalt und Rodge zuckte zusammen. Nicht, weil die Stimme so furchteinflößend gewesen wäre, nein, eher im Gegenteil. Sie war so hoch, klar, so gar nicht passend zu dem Krieger, der hier vor ihm stand. Wobei... bei näherer Betrachtung war die Gestalt wirklich klein. Auch war die Statur nicht gedrungen , sondern eher schlank, mit durch den Umhang verschleierten Kurven, die erst zum Vorschein kamen, wenn man die Person in der dunklen Kleidung einmal ganz genau betrachtete, und die...
Rodge war fassungslos.

„Du bist ein... ein... ein Mädchen!

Montag, 21. Oktober 2013

Bucktopia: Schattenseiten. Folge 3: Begegnungen

Ein knacken aus dem nahen Gehölz. Wie von der Tarantel gestochen schnellte Leopold aus der Decke, die Sichel bereits in der Hand. Zwischen den Bäumen erschien ein junger Mann mit schulterlangen, braunen Haaren, überquerte stolpernderweise die Hälfte des abschüssigen Wiesenstückes zwischen ihnen und blieb etwa fünf Meter vor Leopold stehen. Der Mann schien etwas älter zu sein als Leopold, allerdings nicht viel. Vielleicht 25. Er trug einen langen Mantel, dessen Ursprüngliche Farbe nicht auszumachen war, da man nicht erkennen konnte, welches Stück ein Flicken und welches der ursprüngliche Stoff war, so oft war das merkwürdige Kleidungsstück repariert worden. Eine alte Schweißerbrille mit runden Gläsern hatte er sich in die Stirn geschoben. Unter dem farbenfrohen Mantel blitzte der Knauf einer Pistole hervor.
Die beeindruckende Wirkung dieser martialischen Aufmachung wurde leider von dem nicht sehr geistreichen Gesichtsausdruck geschmälert, den der Mann zur Schau trug. Irgendetwas schien sich nicht ganz so zu verhalten, wie er es angenommen hatte.
„Äh, Hallo...“ Verflixt, dachte Leopold, ich höre mich in etwa so intelligent an, wie der Typ da drüben gerade aussieht.
Der Mann gewann scheinbar seine Fassung zurück. Als erste Tat schloss er seinen Mund, der bis dahin halb offen gestanden hatte. Dann schickte er sich an, etwas zu erwidern.
„Hast du zufällig gerade jemanden vorbeikommen sehen? Etwas kleiner als ich, schwarzer Mantel, wirkte ziemlich geheimnisvoll.“
„Ich hatte bis eben die Augen zu, ich hab gar nichts gesehen.“ Unsicher sah Leopold sich um. Der Gedanke, dass schwarz vermummte und dazu noch mit dem Flair des geheimnisvollen behaftete Personen sich in unmittelbarer Umgebung seines Lagers herumtrieben war ihm unbehaglich. Sofort fühlte er sich an den Diebstahl seines Rucksacks erinnert und an die Leichen der Wegelagerer, deren geheimnisvolle Todesursache ihm immer noch zu denken gab.
Dann fiel ihm ein, dass das Ganze auch eine Farce sein konnte. Wer sagte ihm, dass sein Gegenüber ihm nicht irgendetwas vorlog, um sein misstrauen von sich ab-, und auf eine nicht existente Person zu lenken?
„Wer bist du überhaupt?“
„Jackson.“ Der Fremde grinste. „Bandit, Räuber, Kartenspieler. Zu Diensten. Und mit wem habe ich die Ehre?“
Leopold errötete. In solchen Momenten wünschte er sich einen Namen wie „Rockefeller“ oder „Jones“.
„Leopold“ sagte Leopold. „Aber du kannst mich Leo nennen.“
Jacksons linke Augenbraue wanderte in die Höhe, bis sie sich mit seinem Haupthaar zu vereinigen schien.
„Leo...pold... Noch keinen Kriegernamen abgekriegt?“
„Kriegernamen?“ Leopold war verwirrt. Dem anderen schien das nichts auszumachen. Gelassen schlenderte er zum Feuer und suchte sich einen Platz, der nah genug an dem von Leopold war, um sich mit ihm unterhalten zu können, aber weit genug entfernt, um vor einem eventuellen Angriff sicher zu sein.
„Du erlaubst doch?“ fragte er mit spöttischer Miene, ehe er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, ans Feuer setzte. Leopold ließ sich auf seiner Decke nieder, sein Gesicht ein einziges Fragezeichen.
„Also, mein Junge, wenn du in den Outlands irgendwas gelten willst, solltest du dir dringend einen anderen Namen zulegen. Einen, der nicht nach Friseurlehrling oder Muttersöhnchen klingt. Ein Mann ohne Kriegernamen, das ist wie eine Pistole ohne Pulver, Ein Vulkan ohne Feuer, anders gesagt, es macht einfach keinen Spaß.“
„Ich soll mir also selbst einen Namen aussuchen? Aber was für einen?“
Jackson überlegte. „Es sollte etwas raues, männliches sein. Etwas, das deine Kraft und Wildheit betont. Deine Gegner müssen schon beim Klang deines Namens darüber nachdenken, ob sie wirklich deine Gegner sein wollen.“
„Hast du ein Beispiel?“
„Nicht irgendein Beispiel. Das beste. Den Namen, der all das aufs Vorbildlichste vereint.“
„Und der wäre?“
Der Langhaarige grinste.
„Jackson.“
Leopold seufzte.
„Ich kann mir ja wohl kaum deinen Namen geben.“
„Doch, das ginge schon. Du könntest Jackson Junior heißen. Nur, dass das 'Junior' irgendwie eher niedlich klingt und das ist ja nicht wirklich der Sinn der Sache.“
Leopold sah seinen Gesprächspartner schief an.
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“
„Aber ich doch nicht“ lachte Jackson und zwinkerte ihm zu.
Die nächste halbe Stunde verbrachten die beiden damit, verschiedene Namen zu sammeln, zu erproben und schließlich zu verwerfen. Schließlich fiel ihnen nichts mehr ein, was einigermaßen ausgewogen Respekt und Bewunderung sowie eine gewisse Sympathie hätte hervorrufen können. Als sie an einem Punkt angekommen waren, an dem jeder neue Name ihre Lachmuskeln stärker strapazierte, brach Jackson die Überlegungen ab.
„Ich glaube, das wird heute nichts mehr. Ich würde dir eine Vereinbarung vorschlagen. Wir unterhalten uns heute Abend nicht mehr über dieses Thema. Dafür hast du die Hausaufgabe, dir bis zu unserem nächsten Treffen einen passenden Namen auszudenken.“
„Einverstanden“, stimmte Leopold zu, „aber was ist, wenn wir uns nicht wieder treffen? Die Welt ist groß.“
Jackson schüttelte den Kopf.
„Die Welt ist ein Dorf, sagte man früher. Und noch etwas: Man trifft sich immer zweimal.“
Mit diesen Worten holte er eine Tabakspfeife und Pfeifenkraut, stopfte und entzündete sie und begann zu paffen.
„Mal was anderes. Was treibt dich eigentlich hier in die Outlands?“
Leopold wurde ernst.
„Ein Familiendrama, sozusagen. Willst du es wirklich hören?“
„Sonst hätte ich nicht gefragt.“
Und so erzählte er Jackson von dem geheimnisvollen Verschwinden seiner Eltern und seinem Plan, in Bucktopia seinen Onkel zu finden. Jackson schien kaum beeindruckt vom ungewissen Schicksal von Leopolds Eltern. Dafür war er fasziniert von allem, was mit Bucktopia zusammenhing. Zwar war er, wie er betonte, schon weit herumgekommen, aber von diesem riesigen Treffen in dem kleinen gleichnamigen Ort hatte er scheinbar noch nie gehört. Leopold erzählte ihm alles, was er darüber wusste. Viel war es nicht. Er selbst war ja auch noch nie dagewesen.
Nach seinem Bericht saßen die beiden ein paar Minuten lang einfach nur schweigend beisammen und dachten über das Gehörte und Erzählte nach. Dann löste Jackson die kleine Abendgesellschaft auf, indem er auf den anstrengenden Tag hinwies, den er morgen haben werde. Die beiden legten sich auf ihre Lager, das Feuer zwischen sich, und fielen bald in Schlaf. Die Sichel hatte Leopold wieder in der Hand.

***

Was für ein merkwürdiges Schauspiel. Eben von der Jagd zurückgekehrt hatte der Schatten beobachtet, wie plötzlich ein Mann, etwas älter als das Ziel seiner Beobachtung, aus dem Dickicht gestolpert war, sich mit dem erschrockenen Jungen unterhielt um sich gleich darauf mit ihm ans Feuer zu setzen. Kannten sich die beiden? Die schnelle Annäherung mochte darauf hinweisen, aber der vorsichtige Abstand, den sie voneinander hielten, deutete auf das Gegenteil hin. Sie hatten sich zusammen ans Feuer gesetzt und vertrieben sich den Abend mit dem Austauschen kurzer Bemerkungen, über die sie jedes Mal in schallendes Gelächter ausbrachen. So entspannte Stimmung, so viel Sorglosigkeit bei zwei Menschen, die sich zuvor noch nie begegnet waren?
Dann war eine ruhigere Phase gefolgt, in der der Junge scheinbar viel zu erzählen hatte, bis sich die beiden schließlich zum Schlafen hinlegten. Fast hatte der heimliche Beobachter es als beruhigend empfunden, dass jeder der beiden dabei wieder seine Waffe umklammert hielt, der Kleine sein lächerliches Gartengerät, der Fremde eine Pistole. Da war es wieder, das gute alte Misstrauen, das hier draußen schon manch einem den Hals gerettet hatte. Das war Alltag, Normalität. Damit ließ sich umgehen.
Früh am nächsten Morgen war der Fremde dann aufgestanden und hatte seine Sachen zusammengepackt. Der Schatten auf dem Hügel hatte sich schon kampfbereit gemacht für den Fall, dass der Typ dem Kleinen doch ans Leder wollte, doch bis auf einen kurzen Blick wurde dem Schlafenden keine Beachtung zuteil. Ohne ihn oder seine Sachen auch nur anzurühren hatte sich der Kerl mit dem Flickenmantel wieder auf den Weg gemacht. Ein komischer Kauz. Aber auch ein Typ, den man sich merken sollte.

***

Als Leopold am nächsten Morgen aufwachte war Jackson verschwunden. Beunruhigt durchsuchte er seine Taschen und seinen Proviantbeutel, aber es schien nichts zu fehlen. Der andere schien sich einfach wieder auf den Weg gemacht zu haben, ganz ohne böse Absichten. Jedenfalls ohne erkennbare böse Absichten.
Nachdem er seine Habseligkeiten zusammengesucht hatte, viel war es ja nun wirklich nicht, machte Leopold sich wieder auf den Weg. Er wusste nicht, wie weit er inzwischen vorangekommen war, aber er hatte das Gefühl, Bucktopia schon ein gutes Stückchen näher gekommen zu sein.

***

Der Tag verging, ohne dass erwähnenswerte Dinge passierten. Leopold wanderte durch eine weite, hügelige Landschaft, auf der die wenigen Bäume wahllos verstreut lagen. Die verrosteten Überreste eines Mähdreschers sagten ihm, dass sich hier wohl einmal Ackerflächen befunden hatten. Einmal sah er in der Ferne eine alte Scheune, näherte sich ihr aber lieber nicht, weil dies einen Umweg von einigen Stunden bedeutet hätte. Eine ganze Weile lang wanderte er an einem Wald entlang. Er hielt sich etwas hundert Meter entfernt von dem Gehölz und überlegte ständig, ob es auf der leicht überschaubaren Wiesenlandschaft oder im Schutz der Bäume sicherer war. Letztendlich blieb er, wo er war. Er zog es vor, eventuelle Gegner rechtzeitig zu sehen, auch wenn das hieß, auch von ihnen früh gesehen zu werden.
Abends schlug er sein Lager mitten zwischen hohen Maispflanzen auf. Der Mais musste hier einst angebaut worden sein. Nach der Katastrophe, als sich niemand mehr darum kümmerte, hatte er wohl nicht, wie so viele Ackerpflanzen, den Rückzug angetreten, sondern sich inmitten der wilden Natur, die nach und nach wieder alles überzog, durchgesetzt. Das Ergebnis waren kleine unregelmäßige Flächen, auf denen der Mais so dicht stand wie früher. Leopold hatte sich Mühe gegeben, so wenig wie möglich Pflanzenstängel zu knicken, als er sich in das Zentrum einer solchen Fläche vorgearbeitet hatte. Dort angekommen schuf er sich etwas Platz und grub in der Mitte der kleinen Freifläche eine Mulde in den Erdboden, in der er ein Feuer entzündete. Dann saß er gemütlich an seinem Feuer und briet sich Maiskolben, ein Vergnügen, von dem er bisher nur in Büchern seiner Eltern gelesen hatte und dass ihm das Gefühl gab, ein Kind früherer Tage zu sein.

***

Der nächste Tag brachte einen kurzen Regenschauer am frühen Morgen. Verärgert stellte Leopold fest, dass seine Kleidung keinesfalls für schlechtes Wetter geeignet war. Wütend stapfte er über den matschigen Boden. Er war ohne Frühstück aufgebrochen, gleich, als der Regen ihn geweckt hatte. Die Bewegung war die einzige Maßnahme gewesen, die ihm gegen eine drohende Erkältung eingefallen war. Bloß nicht kalt werden! Genau genommen hatte er nicht die geringste Ahnung, ob ihm das Wandern irgendwie helfen würde, zumindest war es etwas weniger unangenehm, als in den nassen Sachen herumzuhocken.
Schon eine Viertelstunde nach seinem Aufbruch hörte der Regen auf. Die Wolkendecke, die sich scheinbar über Nacht gebildet hatte, brach auf und innerhalb einer weiteren halben Stunde waren nur noch ein paar winzige weiße Wölkchen am Himmel zu sehen. Langsam ging es Leopold besser. Seine Kleider begannen zu trocknen und schließlich setzte er sich auf einen großen Stein, der am Rand eines zugewucherten Weges lag, und holte sein Frühstück nach.
Frisch gestärkt setzte er sich noch ein wenig in die Sonne, die zusammengerollte Decke als Kissen unter dem Kopf, und dachte nach. Es war klar, dass er dringend einen Mantel oder etwas ähnliches brauchte. Natürlich konnte er sich in Bucktopia alles ertauschen, was sein Herz begehrte, vorausgesetzt natürlich, er hatte bis dahin noch nicht alle seine Besitztümer gegen Essen eingetauscht, aber bis dahin war es noch ein weiter Weg und er konnte nicht davon ausgehen, dass er weiterhin so viel Glück mit dem Wetter haben würde, wie das in den ersten Tagen der Fall gewesen war. Er musste also schleunigst entweder jemanden zum tauschen finden, oder aber eines der leerstehenden Gebäude, an denen er manchmal vorbeiwanderte, betreten und nach einem geeigneten Kleidungsstück durchsuchen. Einen Moment lang dachte er sehnsüchtig an die Regenjacke, die sich in seinem Rucksack befunden hatte, aber die war endgültig verloren. Erinnern half nichts, er musste sich um etwas neues kümmern. Mit diesem Gedanken im Kopf stand er schließlich auf und machte sich wieder auf den Weg.

***

Zwei Stunden später sah Leopold in einiger Entfernung ein kleines Haus. Es schien früher mal das Haus des Bauern gewesen zu sein, der die umliegenden Felder bestellt hatte. Kein besonders reicher Bauer mit soundsovielen Arbeitern hatte hier gewohnt. Das Haus, fast schon eine Hütte, bot Platz für einen Bauern und seine Familie. Mehr nicht. Neben dem Haus schien es einen Schuppen zu geben und dahinter vermutete Leopold einen Stall, aber das erste konnte er aufgrund der Entfernung nicht so gut, das zweite überhaupt nicht erkennen, weil das Haupthaus im Wege stand.
Nach einer weiteren Stunde wandern war er bei dem Haus angekommen. Es war grob aus Brettern und Balken zusammengezimmert. Nur das Fundament war aus Stein. Das ganze Gebäude wirkte mehr als verwahrlost. Ein Fenster stand sperrangelweit offen, die anderen waren zugenagelt. Das Dach war mehrfach geflickt, irgendwann schien man das Flicken jedoch aufgegeben zu haben, oder, was wahrscheinlicher war, es war einfach keiner mehr zum Flicken dagewesen. Er beschloss, das innere des Hauses zu erforschen und durchquerte die schief hängende Gartenpforte.
Ärgerlich registrierte Leopold das Knirschen des Kieswegs unter seinen Füßen. Viel weniger unauffällig konnte man sich einem Gebäude wohl kaum nähern. Vor der Tür aus morschen Brettern machte er halt und lauschte ins Innere. Wind, der durch schmale Ritzen pfiff, das Knacken und Knarren des alten Gebälks. Sonst war da kein Geräusch. Vorsichtig öffnete Leopold die Tür. Ein langgezogenes Quietschen ließ ihn zusammenfahren. Natürlich. Jeder, der ein bisschen Hirn im Kopf hatte, hätte das weit offene Fenster genommen, aber er musste natürlich... Leopold seufzte innerlich und betrat das Haus.
Dunkelheit umfing ihn. Nur durch das Fenster drang ein bisschen Licht herein, der größte Teil des Raumes war aber in dämmrig-staubiges Halblicht gehüllt. Leopold ging ein paar Schritte in den Raum hinein und wartete dann, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Dann sah er sich um.
Im Grunde wie erwartet. Spinnweben und Staub auf den Überresten kaputter Möbel und anderer Dinge, die sich in verschiedenen, jedoch sämtlich in fortgeschrittenen Stadien des Verfalls befanden. Leopold machte ein paar Schritte auf einen Schrank zu, um dessen Inhalt zu erforschen, als ihn ein Geräusch von der Treppe zusammenfahren ließ. Da war jemand. Jemand, der sich äußerst leise und behutsam bewegte. Nur durch die Mithilfe einer knarrenden Stufe hatte Leopold überhaupt etwas gemerkt. Angestrengt starrte er die Treppe hinauf. Nichts zu sehen. Dort oben war kein Fenster mehr, es war stockdunkel. Leopolds Hand mit der Sichel zitterte leicht, als er begann, die Treppe zu ersteigen. Stufe für Stufe kam er dem oberen Stockwerk immer näher. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und sah sich um. Vor ihm erstreckte sich ein Flur über die gesamte Länge des Hauses. Links und rechts führten Türen zu den einzelnen Zimmern. Durch ein kleines Fenster am anderen Ende des Flurs fiel etwas Licht herein und gab der Szenerie eine gespenstische Note.
Als Leopold eben zu dem Schluss gekommen war, dass es am günstigsten sei, die Räume nacheinander zu durchsuchen und sich dabei von einem Ende des Flurs zum anderen durchzuarbeiten, bemerkte er etwa auf der Hälfte des Flurs eine offene Tür. Äußerst angespannt legte er die kurze Strecke zurück und spähte in den Raum. Eindeutig leer. Kein lebendes Wesen. Dafür aber ein Lager. Leopold ging einen Schritt weiter, er stand nun im Türrahmen, den Blick auf die Ecke mit der eindeutig kurz zuvor benutzten Lagerstatt gerichtet. Eine abgetragene, schmutzige Umhängetasche lag da, die scheinbar als Kopfkissen gedient hatte. Daneben war ein Gürtel zu sehen. Ein Gürtel mit zwei Pistolen.
In diesem Moment beschlich ihn ein komisches Gefühl. Ein Kribbeln im Nacken verriet ihm, dass da jemand war, nicht in dem Raum mit dem Lager, sondern direkt hinter ihm. Leopold wollte herumschnellen um den anderen ins Blickfeld zu bekommen, aber es war schon zu spät. Eine Hand zog seinen Kopf nach hinten und er spürte, wie etwas glattes, scharfes an seinen Hals gehalten wurde.
„Versuchs gar nicht erst!“ zischte ihm jemand ins Ohr. „Machst du nur eine Bewegung, die mir nicht gefällt, bist du tot.“
Leopold, der weit davon entfernt war, irgendetwas zu versuchen, ließ seine Sichel fallen. Er wollte jedes Missverständnis vermeiden, dessen Folge eine rasche Bewegung dieses Messers an seinem Hals sein konnte.
„Ist das deine einzige Waffe?“ fragte die Stimme an Leopolds Ohr.
Leopold versuchte, zu nicken, besann sich aber gerade noch rechtzeitig eines besseren.
„Ja.“ brachte er schließlich krächzend hervor.
„Gut.“
Leopold fühlte sich nach hinten gezogen.
„Setz dich doch!“
Ohne Widerstand zu leisten ließ er sich auf den Boden plumpsen.
Eine dunkle Gestalt huschte an ihm vorbei zu dem Nachtlager und griff nach dem Waffengürtel.
Als die Gestalt den Gürtel umgeschnallt hatte, wurde sie auf einmal ganz ruhig. Beinahe lässig drehte sie sich zu ihm um. Ja, sie, es handelte sich um eine junge Frau. Unter der dunklen Kapuze blitzte eine Sonnenbrille hervor. Der Rest des Gesichts wurde von einem Tuch verdeckt. Die Füße der Frau, über deren Alter und Gesichtszüge Leopold aufgrund ihrer Vermummung nicht einmal begründet spekulieren konnte, steckten in braunen Wildlederstiefeln, der Rest der Kleidung war dunkel und unauffällig. Um die Schultern hatte sie einen abgewetzten, ehemals schwarzen Mantel geschlungen. Die Gestalt als Ganzes wirkte wie eine Mischung aus einer Piratenbraut und einem Ninja mit Sonnenbrille. Sie kam ein paar Schritte näher und man hörte ihr spöttisches Lächeln, als sie fragte:
„Du bist noch nicht lange unterwegs, was?“
Leopold schüttelte den Kopf.
„Nein, noch keine ganze Woche. Und eigentlich ist mir das auch schon genug.“
Die Frau nickte.
„Verstehe.“
Einen Moment lang herrschte Stille, und Leopold hatte das Gefühl, genauestens gemustert zu werden. Schließlich brach seine Bezwingerin das Schweigen.
„Was suchst du hier?“
Aus irgendeinem Grund hatte Leopold das Gefühl, eine Lüge sei hier fehl am Platze. Andererseits hatte er keine Lust, sich noch lächerlicher zu machen, indem er erzählte, dass er auf der Suche nach einem brauchbaren Mantel war.
„Wollte nur mal gucken, ob hier noch was brauchbares rumliegt.“
Ein bisschen beschämt ob seiner kläglichen Situation sah er zu Boden.
„Du kannst jetzt auch wieder aufstehen.“
Leopold rappelte sich hoch und starrte sie mit großen Augen an.
„Was soll das? Was willst du von mir? Und wer bist du überhaupt?“
„Ich bin von Natur aus sehr misstrauisch. Ich versuche, mir Überraschungen zu ersparen und du hast mich überrascht. Das ist alles. Nichts weiter.“
„Du hast nur auf die Hälfte meiner Fragen geantwortet.“
Die Fremde nickte.
„Du hast Recht. Aber würdest du einem Fremden einfach so verraten, wer du bist?“
Leopold gab keine Antwort. Ein paar Sekunden lang schwebte die Frage im Raum.
„Mein Name ist Clara“, sagte sie schließlich, „der Rest ist etwas komplizierter. Wenn dir das nicht reicht, kann ich dir nicht helfen.“
Clara bückte sich nach ihrer Tasche. Dann warf sie sie sich über die Schulter und sah ihn an.
„Und wer bist du?“
„Ich heiße Leopold“ sagte Leopold und wurde rot. Er erinnerte sich an Jacksons Reaktion auf diesen Namen und verfluchte sich innerlich dafür, sich nicht schon längst einen anderen überlegt zu haben.
Und richtig: Ein Zucken in Claras Gesicht verriet ihm, dass ihre Augenbraue gerade gute zwei Zentimeter nach oben gewandert war.
„Leopold … “ ließ sich ihre spöttische Stimme vernehmen. „Zweifellos der Name eines künftigen Helden. Jedenfalls unverwechselbar.“
Mit zwei schnellen Schritten war Clara an der Tür. Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen, hob die Sichel auf, die immernoch auf dem Boden lag, und reichte sie Leopold.
„Wenn ich dir einen Tipp geben darf, Leopold – das hier ist vielleicht ein bisschen wenig. Also, für einen künftigen Helden.“

Mit einer schnellen Handbewegung schob sie ihre Sonnenbrille nach unten und eine Sekunde später wieder zurück. In der kurzen Spanne dazwischen jedoch konnte Leopold, obwohl sie im Schatten stand, erkennen, dass sie ihm zuzwinkerte. Als er wieder fähig war, sich zu bewegen und ans Fenster zu gehen, war von Clara nichts mehr zu sehen.

Freitag, 11. Oktober 2013

Bucktopia: Schattenseiten. Folge 2: Das (Über-)Leben in den Outlands

 Langsam stießen Fetzen von Wirklichkeit in sein Bewusstsein vor und vertrieben Stück für Stück Schlaf und Traumreste. Licht drang durch die geschlossenen Augenlider, das Gefühl der Decke, in die er sich eingewickelt hatte, auf der Haut und allmählich auch die Schmerzen, die das Liegen auf dem harten Boden verursachte. Leopold schlug die Augen auf. Es war schon heller Vormittag. Über ihm wölbte sich ein strahlend heller Postkartenhimmel und die Vögel zwitscherten laut, während sie über ihm hin- und herflogen. Als er sich aufrichtete merkte er nicht gleich, dass etwas fehlte. Verschlafen faltete er seine Decke zusammen und wollte sie gerade in den Rucksack stecken, nur dass da nichts mehr zum hineinstecken war.
Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz. Jemand hatte den Rucksack geklaut! Irgendjemand musste ganz nah bei ihm gewesen sein und er hatte nichts bemerkt. Wie verletzlich er in diesem Moment gewesen war! Leicht hätte der Unbekannte ihm etwas antun können! Nun ja, genaugenommen hatte er ihm etwas angetan. Leopold dachte über all die Dinge nach, die er im Rucksack gehabt hatte. Einen großen Teil seines Proviants hatte er glücklicherweise in einem Beutel etwas abseits mit Steinen bedeckt, da er befürchtet hatte, wilde Tiere könnten die Lebensmittel riechen und sie aus dem Rucksack wühlen. Schnell warf er einen Blick an die Stelle, wo der Beutel versteckt lag. Ja, er war noch da.
Das war aber auch schon fast das Einzige. Das Messer, das er sich zum schnitzen und schneiden mitgenommen hatte war genauso verschwunden wie die Streichhölzer und die warmen Sachen, die er sich eingepackt hatte. Übrig geblieben waren nur die Decke, in der er geschlafen hatte, der Proviant, die Sichel, die aus der Hand zu legen er sich selbst in der Nacht nicht getraut hatte, und die Sachen, die er am Leibe trug und in denen er noch ein paar Kleinigkeiten versteckt hatte, Artefakte aus der Zeit vor der großen Katastrophe, die sich im Besitz seiner Eltern befunden hatten und für die er sich notfalls Nahrung eintauschen wollte. Derartige Überbleibsel aus der Zeit, als die Menschen mit ihrer Technik noch wahre Wunder zu vollbringe im Stande gewesen waren, waren, wenn sie noch funktionierten, äußerst gefragt.
Dennoch war das, was ihm blieb äußerst wenig. Leopold dachte über sein Dilemma nach, während er lustlos an einem Kanten trockenen Brotes herumkaute, sah aber keinen anderen Weg als den, einfach weiterzugehen. Wenn ihm der Verlust auch schwerwiegend erschien, so war doch nichts im Rucksack gewesen, das er unbedingt zum Überleben gebraucht hätte. Schließlich gab er sich einen Ruck, band die Decke und den Proviantbeutel mit seinem Gürtel, den er sowieso nur gebraucht hatte, um Dinge daran festzumachen, zusammen, warf sich das Bündel über die Schulter und marschierte los, die Sichel in der Faust.

***

Einige Stunden später, die Sonne hatte gerade ihren höchsten Punkt überschritten und machte sich nun an den Abstieg, stieg Leopold auf einen Hügel, um sich eine Übersicht über seinen weiteren Weg zu verschaffen und sich bei der Gelegenheit eine Pause zu gönnen. Die lange Wanderung hatte ihn sehr erschöpft. Fast schon ein bisschen belustigt dachte er daran, wie es ihm wohl mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken ergangen wäre. Vermutlich hätte er schon nach der Hälfte der Zeit pausieren müssen und wäre auch noch lange nicht so weit gekommen. Gerade war er auf der Hügelkuppe angekommen und hatte sich ins stoppelige Gras sinken lassen, da hörte er Schüsse. Erschrocken fuhr er hoch. Schüsse hörte man äußerst selten. Zwar gab es genügend Feuerwaffen aus den verschiedensten Epochen, die überall auf der Erde kursierten. Von der Steinschlosspistole bis zur Panzerfaust war eigentlich alles zu finden. Woran es jedoch mangelte, war Munition. Zwar gab es einige Menschen, die sich auf die Herstellung von Pulver verstanden und auch in der Lage waren, Kugeln zu gießen, aber die so hergestellten Geschosse eigneten sich erstens nicht für Waffen jüngeren Datums, zweitens waren die Leute, die sich damit auskannten, äußerst dünn gesät. Aus diesen Gründen gingen die wenigen, die neben einer Waffe auch passende Munition besaßen, ausgesprochen sparsam damit um. Kein Schuss durfte verschwendet werden, weil die jeweilige Pulverladung kaum zu ersetzen war. Eben darum war davon auszugehen, dass das Geräusch abgefeuerter Pistolen nicht auf ein Zielschießen hindeutete, sondern auf eine echte Notsituation. Entweder für den, der geschossen hatte, oder für seinen Gegner.
Leopold war den Hügel wieder hinabgestiegen, immer in die Richtung der Schüsse. Inzwischen konnte er auch Schreie und hektische Schritte hören. Dann wurde alles still. Leopold ließ sich zu Boden fallen und robbte auf den Kamm einer Bodenwelle.
Vor ihm lag eine kleine Senke. An ihrem Grund lagen die Leichen eines Pferdes und einiger Männer, augenscheinlich Händler, sowie die Überreste eines aus Schrott zusammengebauten Pferdewagens. Der Wagen war wohl geplündert worden, jedenfalls standen nur einige aufgebrochene Kisten darauf, ansonsten war er leer. Wer immer diese Leute überfallen hatte, hatte so gut wie alles mitgenommen und keine Überlebenden zurückgelassen. Mit einer Mischung aus Neugier und Widerwillen machte Leopold sich auf den Weg in die Senke, um die offenen Kisten zu untersuchen. Es mochte schamlos erscheinen, aber in seiner Situation war er auf alles angewiesen, was er kriegen konnte. Mit vorsichtigen Schritten umging er die Leichen, kletterte schließlich auf den teilweise demolierten Karren und begann, die Kisten zu durchwühlen.
Wie er sich schon gedacht hatte, fand sich nichts brauchbares. Alles, was übrig geblieben war waren zwei kleine Beutel mit Saatgut, die er auf seiner Reise nicht würde brauchen können, das Kerngehäuse eines Apfels, ein kleines Kästchen voller grob geschmiedeter Nägel und jede Menge Sägespäne, die wohl etwas zerbrechliches hatten polstern sollen.
Enttäuscht stieg Leopold wieder vom Wagen und wollte ihn gerade umrunden, als ein dreckiger kleiner Mann hinter dem Gefährt hervorsprang. Der Mann hatte fettiges, langes Haar, einen Stoppelbart und einen gebeugten Rücken. Was Leopold jedoch weitaus mehr beeindruckte war das lange Schwert in seiner Hand und die Wildheit in seinem Blick. Ohne in der Bewegung innezuhalten hob der Mann das Schwert und ließ es auf Leopolds Kopf zusausen. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, seine Sichel zu heben und den Schlag zu parieren, indem er ihn mit der hohlen Seite der Klinge auffing. Er stolperte ein paar Schritte zurück und sah entsetzt, dass zwei weitere Wegelagerer hinter dem ersten aufgetaucht waren und mit langsamen Schritten und einem irren lächeln auf den Gesichtern auf ihn zuhielten. Sie alle trugen mehr oder weniger zerlumpte Kleidung, in der Hand jedoch jeder ein scheinbar sorgfältig gepflegtes Schwert, das aussah, als hätte sein Besitzer es aus den Teilen eines kaputten Autos zusammengebaut, nichtsdestotrotz aber einen äußerst stabilen und scharfen Eindruck machte.
„Sie mal einer an“, sagte einer der beiden neu hinzugekommenen, „da ist ja doch noch einer übrig.“
„Hätte ich nicht gedacht“, grunzte der andere, ein gedrungener Kerl, der eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Hängebauchschwein aufwies, „ich war tatsächlich der Meinung, wir hätten sie alle erwischt.“
„Oh,“ ließ sich der kleine Krumme vernehmen, der direkt vor Leopold stand, „meint ihr wirklich, dass der einer von denen ist? Ich habe so das Gefühl, er gehört gar nicht... zum Club...“
Beifälliges Gelächter aus der zweiten Reihe. Leopold brachte keinen Ton heraus. Aus ihm würde wohl nie ein Held werden. Ein Held hätte jetzt irgendeinen lässigen Spruch parat. Doch schon ergriff der Krumme wieder das Wort und erlöste ihn vom Zwang, etwas zu sagen.
„Naja“, knurrte er, „einer mehr oder weniger, darauf kommt es ja jetzt auch nicht mehr an.“
Bei seinem letzten Wort sprang er nach vorn und schwang seine Klinge. Leopold duckte sich weg, geriet dabei ins Straucheln und fand sich auf dem Boden sitzend wieder. Verzweifelt versuchte er, rückwärts von seinem Gegner wegzukrabbeln, um etwas Abstand und Zeit zu gewinnen, aber dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt. Mit langen Schritten kam der Bandit hinterher, hob sein Schwert und ließ es auf Leopold niedersausen.
Im letzten Augenblick drehte Leopold sich zur Seite. Der scharfe Stahl durchschnitt die Luft und der Krumme taumelte. In diesem Augenblick drehte Leopold sich wieder zurück und schwang dabei mit der rechten Hand auf gut Glück die Sichel durch die Luft. Er hatte nicht gezielt, eigentlich auch gar nicht genau darüber nachgedacht, was er da eigentlich tat. Im Affekt schlug er das erste Mal mit seiner Waffe zu. Dem Ergebnis tat das jedoch keinen Abbruch. Leopold spürte, wie die Spitze der Sichel etwas traf, wie sie Gewebe durchschnitt und sich etwas warmes auf seine Hand ergoss. Schließlich öffnete er die Augen, die er beim umdrehen unwillkürlich geschlossen hatte. Er sah direkt in das erstaunte Gesicht des Banditen, der eben dabei war, das Gleichgewicht völlig zu verlieren. Unterhalb dieses Gesichts spritzte eine rote Flüssigkeit hervor und tränkte die beiden von oben bis unten. Mit einem schweren Plumps landete der tote Körper des Wegelagerers auf Leopolds höchst lebendigem. Einen Moment lang war er zu geschockt, um sich zu bewegen. Dann fielen ihm die anderen beiden Banditen wieder ein. Ohne einen weiteren Gedanken an die vorangegangene Szene zu verschwenden wand er sich unter der Leiche hervor und sah sich kampfbereit nach den Gefährten seines toten Gegners um.
Zwei weitere Leichen lagen im Rund der Senke. Leopold sah sie sich ungläubig an. Jeder von ihnen hatte ein Wurfmesser im Rücken. Eine große Blutlache hatte sich schon gebildet und begann gerade, sich mit der von ihm verursachten zu vereinigen. Er sah sich ängstlich um, aber es war niemand zu sehen. Schließlich nahm er die beiden Messer an sich und verließ diesen gespenstischen Ort.

***

Hinter den Überresten des Karrens regte sich etwas. Ein Schatten löste sich von den Umrissen des Gefährts und begab sich zum nächsten Hügel, um dem jungen Wanderer noch ein wenig nachzusehen.
Seine Gedanken kreisten um diesen jungen Mann. Die erste Einschätzung war wohl doch nicht so ganz richtig gewesen. Natürlich war der Junge unerfahren, aber am heutigen Tage hatte er sich gut geschlagen. Beinahe wäre alles schief gegangen. Zu spät, viel zu spät hatte der geheimnisvolle Fremde die Wegelagerer bemerkt. Wertvolle Zeit war verstrichen, während er auf Wurfweite herangeschlichen war. Schließlich hatte die Schattengestalt es geschafft, zwei der Wurfmesser ihr Ziel finden zu lassen, aber der dritte der Banditen hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon auf den kleinen gestürzt und ein gezielter Wurf, bei dem eine Verletzung des Jungen ausgeschlossen werden konnte, war nicht mehr möglich gewesen. Das erste Mal auf seiner Reise war er in einer Gefahrensituation ganz auf sich gestellt gewesen. Dass er diese Situation so gut gemeistert hatte imponierte seinem Beobachter. Möglicherweise würde der Junge sich den Verhältnissen hier draußen doch noch anpassen und die Fähigkeiten entwickeln, die nötig waren, um in dieser Welt zu überleben. Schade war es nur um die Wurfmesser. Der Frischling hatte sie eingesteckt. Früher oder später würde der Schatten sie sich wieder holen müssen. Es waren zwar noch drei übrig, aber es war nie besonders klug, sein Waffenarsenal zu weit zu verstreuen. Besser, alles griffbereit zu haben. Mit ruhigen, sicheren Bewegungen, denen doch eine katzenhafte Eleganz eigen war, machte sich die schwarz bekleidete Gestalt wieder auf den Weg, immer hinter Bäumen, Büschen oder Hügeln verborgen, immer dem jungen Mann nach, der dort vorne mit langen Schritten seinem unbekannten Ziel zustrebte.

***

Erst einige Stunden später machte Leopold wieder halt. Die Szene mit den Banditen wollte ihm nicht aus dem Kopf. Noch immer schauerte er zusammen, wenn er sich an das Gefühl erinnerte, wie die Klinge seiner Sichel Muskeln und sehnen des Halses seines Gegners durchschnitten hatte. Sofort erinnerte er sich auch an das entsprechende Geräusch, das ihn immer noch zusammenfahren ließ. Immer wieder versuchte er sich klar zu machen, dass er in Notwehr gehandelt und gar keine Wahl gehabt hatte, dass er außerdem ja nicht einmal beschlossen hatte, den Mann zu töten, sondern es einfach passiert war, aber trotzdem blieb eine innerliche Schockstarre und das Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben. Erschöpft setzte er sich nieder und versuchte, mit auf dem Weg aufgelesenen Stöckern, dürren Zweigen und etwas trockenem Gras ein Feuer zustande zu bringen. Zu seinem allergrößten Erstaunen wurden seine Bemühungen schon nach kurzer Zeit belohnt. Bald hatte er aus seiner anfänglichen Glut ein kleines Flämmchen gemacht, das langsam auf die ersten Zweige übergriff.
Inzwischen war es dunkel geworden. Leopold saß an seinem kleinen Feuer und wärmte sich die Hände und ein Stück alten Schinken, Überbleibsel seiner Vorräte von zu Hause. Bald würde er sie aufstocken müssen, am besten im nächsten Dorf. Einige Dinge hatte er noch, die er eintauschen konnte, nicht viele, aber seiner Einschätzung nach genug, um damit bis zu seiner Ankunft in Bucktopia über die Runden zu kommen. Zumindest, wenn er sich beeilte.

Leopold breitete seine Decke aus und ließ sich darauf nieder. Ein anstrengender Tag lag hinter ihm, ein weiterer wartete bereits. Höchste Zeit, die Kräfte im Schlaf zu erneuern. Er schloss die Hand um den Griff seiner Sichel und kurz darauf die Augen.

Montag, 7. Oktober 2013

Die Geschichte von blowing Moe


Lang, lang ist diese Geschichte her. Damals im wilden Osten, wo ein Mann nichts besaß als seinen Colt. Viel mehr zählte für solche wie mich auch nicht. Keine Frau, keine Kinder, keine Freunde, kein Geld. All das, sollte sich mit der Erfindung von Postkutschen-Überfällen ändern. Plötzlich hatte ich eine Zugehörigkeit, einen Job. Ich hatte Freunde, besonders in Magdetown, wo man uns feierte, denn wir waren nicht nur zahlende Barbesucher, sondern kurbelten auch sonstige Geschäfte an. Zum Beispiel besorgten wir dem Zimmermann regelmäßig Aufträge, wenn wir mal wieder jemanden umgelegt hatten. Zudem, waren wir die einzigen Leute, die sich ein Hotelzimmer mieteten, kurbelten die Waffenindustrie an und halfen, dass bei der Betriebserweiterung einer Tabakplantage. Alles in allem, waren wir gute Menschen.
An dem Abend von dem ich erzählen möchte, saß ich in der Kneipe, die Tasche voll mit Geld vom letzten Überfall. Am nächsten Morgen sollten mich meine Kumpanen abholen, mit denen ich dieses Ding gedreht hatte. Mein Pferd, welches ich aufgrund der schwarzen Flecken auf seinem sonst weißem Fell, Black genannt hatte, war mit ihnen unterwegs, weshalb mir nichts anderes übrig blieb, als diesen Abend in der Kneipe zu verbringen. Ich hatte bereits einige Whiskey getrunken und mindestens doppelt soviel Bier, als ich vor die Tür trat. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens war der Barkeeper der Kneipe TheHardCore eine Ratte, die mich schon um eine Menge Geld betrogen hatte, und ich wollte mich ungern mit ihm unterhalten. Zweitens, vernahm ich von draußen ein weniger gutes, leises Mundharmonikaspiel. Ich trat also vor die Tür. Der Zimmermann, Mr. Room, stand ebenfalls draußen. Ich stellte mich zu ihm und sagte: „Der muss wohl noch ein bisschen üben.“
Ich trank einen Schluck aus meinem Glas und spuckte eine Fliege aus, die in dem Bier ertrunken war. Dann sah ich zu Mr. Room, welcher mich erschrocken anstarrte: „Weißt du denn nicht wer das ist?“ fragte er „Das ist blowing Moe! Hast du nie von ihm gehört?“
Ich schüttelte den Kopf: „Nein, nie gehört.“
„Mein Gott! Ich verstehe ja, dass ihr Banditen nicht viel Sinn für Kultur habt, aber blowing Moe sollte man kennen!“
„Ach wirklich?“ Fragte ich. Ich begann mich für diesen Mundharmonikaspieler zu interessieren, der scheinbar besser war als es mein Ohr zu hören vermochte.
„Er hat früher auf den größten Bühnen des Ostens und angeblich sogar im Westen gespielt. Er hat mit seinem Mundharmonikaspiel ganze Massen von Menschen bewegt, auf seinen Konzerten, sind Frauen in Ohnmacht gefallen, andere haben von einer Sekunde auf die andere ihre Männer verlassen. Man erzählt sich sogar, dass Männer ihre Frauen für ihn verlassen haben sollen. Er hat Dinge gespielt, die Musikwissenschaftler damals für unmöglich hielten. Er hat Musikgeschichte geschrieben, hat Mundharmonikastücke geschrieben, die dem kaltherzigsten Menschen das Blut auftauten und ihm die Tränen in die Augen trieben. Anfangs wurde er ausgelacht. Es hier er könne nicht spielen und dann verschwand er. Über Jahre ist er umher gereist, hat sein Spiel verbessert und es, als er wieder kam, allen gezeigt... Jaja... blowing Moe...“
Erst schaute ich den Erzähler lediglich an. Ich wusste nicht genau, was ich von der Geschichte halten sollte, geschweige denn, ob sie schon zu ende war. Als ich mir schließlich zumindest letzterem sicher war, fragte ich: „Und was ist dann passiert?“
Der Zimmermann schaute eine Weile betreten zu Boden. Der Schrecken über meine Unwissenheit in seinem Gesicht, schien sich mit Trauer zu mischen. Nachdem ich auch noch eine zweite und dritte tote Fliege ausgespuckt hatte, und begann mich zu fragen, ob Mr Room überhaupt noch wach war, setzte er wieder zu erzählen an: „Dann,“ fuhr er fort, „passierte etwas schreckliches. Kaum zu glauben, dass du davon noch nichts gehört hast! Bei einem Konzert, mit einem Mundharmonikaorchester, verkrampfte sich plötzlich die Zunge von blowing Moe. Alle waren erschüttert. Alle schauten ihn mit erschrecken an, als sich die klaren Töne, in schiefe, schrille verwandelten. Ich war damals als kleiner Junge auf dem Konzert. Blowing Moe war mein Vorbild. Es versteht sich, dass ich erst recht schockiert war. Doch Moe spielte weiter, gab nochmal alles, spielte das beste Konzert seines Lebens, spielte unsagbar viele Zugaben und übernahm sich bei den Soli so stark, dass das Blut über sein Instrument floss. Am ende brach er zusammen. Es war vorbei! Im Krankenhaus hieß es, er hätte das TTS, was soviel bedeutet wie: twistet-tongue-syndrom. Mit der damaligen Medizin, war es riskant und kostspielig dies zu heilen, doch für blowing Moe war das kein Hindernis. Er ließ sich operieren, doch seither spielt er nicht mehr wie früher...“
Mir fehlten die Worte nach dieser bewegenden Geschichte. Ich war tatsächlich den Tränen nah, schaute den gebrochenen Musiker an und dann seinen größten Fan. Dann wandte ich mich zum gehen, doch seither, trage ich immer eine Mundharmonika in meiner Tasche. Zum gedenken, an den großartigen blowing Moe.



Victor Ian Clockwork
07.10.2013

Samstag, 5. Oktober 2013

Zur selben Zeit im Weltall - Beobachtungen


„Kapt'n, Kapt'n!“ Aufgeregt rennt der Junge Anurlim Druglufum durch die Gänge des Endlos zu scheinenden Schiffes. Die Sergrlfrit Nukernla (grüner Stern), ist tatsächlich ein verhältnismäßig großes Raumschiff. Gerade jetzt fragt sich Anurlim, warum sie in so einem großen Schiff trotz der hoch entwickelten Technik keine Möglichkeiten haben, sich schneller fort zu bewegen. Aber Anurlim selbst ist dafür nicht zuständig. Er wurde mit 56 Erdenjahren an Board des Schiffes geholt um unsere Erde zu beobachten. Das war im Jahre 1978. Er sollte die Geschehnisse auf der Erde beobachten. Umso mehr, als 2006 die Überlegung kam, die Erde zu zerstören, legte man sehr viel Wert auf seine Beobachtungen. Er hatte sich immer für die Erdenbewohner ausgesprochen, denn er sah in ihnen sehr hohes Potential. Sie hatten sich in der Zeit seiner Beobachtungen sehr weit entwickelt auch wenn er sagen musste, dass sie ihr Wissen besonders in den Vergangenen Jahren verkehrt angewandt hatten. Vor dem Gericht, hatte er immer weniger Argumente, warum man die Menschen am Leben lassen sollte. Er ließ sich immer etwas neuer einfallen.
Anurlim selbst versteht die Menschen selber nicht so richtig. Sie freuen sich, dass sie auf ihren Mond fliegen können. Ein Schriftstellem im 19. Jahrhundert hat dies bereits theoretisch getan. Anurlim hätte erwartet, dass sie ehrgeiziger sind aber dies ist belanglos. Nun belangloser als je zuvor, denn was er dem Kapt'n des Schiffes mit zuteilen hat ist eine für ihn grausame Nachricht. Nun brauchte sich niemand mehr Gedanken über die Erde zu machen, denn die Menschen hatten es bereits selber geschafft. In den letzten Tagen konnte er es beobachten. Aus der Entfernung, sind natürlich Messungen und Beobachtungen nicht mehr genau, jedoch war die Tatsache sicher: Die Erde ist zerstört. Nun gilt es sich die Sache näher anzusehen und zu beurteilen, ob es tatsächlich die Menschen waren, oder ob da doch noch jemand anderes seine Finger im Spiel hatte.
„Kapt'n! Da sind sie ja endlich!“
„Dies ist die Steuerbrücke, ich bin immer hier. Was ist denn los Herr Druglufum?“
„Die Menschen Kapt'n, sie haben sich vernichtet?“
„Was? Warum denn das? Sind sie sicher, dass sie es selber waren?“
„Kapt'n...“
„Nun holen sie doch erst einmal Luft Herr Druglufum. Und fangen sie nicht jeden Satz mit Kapt'n an!“
Anurlim atmet durch seine Atemorgane tief ein. Man muss dazu sagen, dass es für die Eripmaviah tötlich sein kann zu atmen. Sie tun dies nur wenn es notwendig ist. Ansonsten ziehen sie die wichtigsten Nährstoffe aus dem Blut kleinerer Lebewesen. Trotzdem: Was Muss, das muss.
„Also: Nun Herr Druglufum, sprechen sie.“
„Kapt'n... äh... also: Die Menschen haben sich selbst vernichtet...“
„Ja, da waren wir bereits...“
„Jaja...Also...“
„Ja?“
„Also: Den Messungen zu folgen, war es ein unvorhersehbares nukleares Unglück. Also ich konnte es nicht hervor sehen. Ich kenne dieses Uran und auch dieses Plutonium nicht. Aber irgendwie, benutzen... äh... benutzten die Menschen das eine zur Energieerzeugung und das andere scheinbar für kleinere Waffen wie Bomben...“
„Kleinere Waffen?“
„Naja, sie wissen schon Kapt'n: Bomben, Raketen und sowas. Also es ist wirklich nur ihr Planet davon betroffen?“
„Nur die Erde?“
„Ja Kapt'n!“
„Das ist gut! Dann schauen wir uns das genauer an, und sprengen anschließen den Rest, bevor das noch ein Problem für uns wird. Was ist?“
„Also wissen sie Kapt'n... Diese Wesen waren so schlau, haben so viel gemacht...“
Nun legt der gutmütige Kapt'n seine Hand auf die Schulter von Anurlim. „es gibt bestimmt noch andere Wesen, die sie erforschen können Herr Druglufum. Vielleicht sogar welche, die ein wenig weniger Suicidgefährdet und dafür ein wenig intelligenter sind.“
„Bestimmt Kapt'n!“
„Gehen sie nun etwas essen. Der Tag war anstrengend genug.“
„Ja Kapt'n!“
Als Anurlim Druglufum gerade gehen will und er über den langen Weg zum Essensaal nachdenkt, fällt ihm noch etwas ein: „Kapt'n?“
„Ja?“
„Wir könnten einmal eines dieser neumodischen Transportmittel für die Bewegung im Raumschiff installieren lassen.“
„Sie meinen Roller?“
„Ja Kapt'n.“
„Ich habe bereits welche bestellt. Wenn die Weltraumpost nicht all zu sehr schlampt, müssten sie Morgen ankommen.



Victor Ian Clockwork
05.10.2013

Bucktopia: Schattenseiten. Folge 1: Aufbruch

Liebe Mutter, lieber Vater,

es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ihr dies hier je zu lesen bekommt, aber für den Fall, dass ihr noch am Leben seid und an diesen Ort zurückkehrt schreibe ich euch diese Nachricht. Ich habe nun zwei Wochen lang auf eure Rückkehr aus dem Dorf gewartet, zwei Wochen, obwohl ihr sonst immer nach spätestens drei Tagen wieder da wart. Einmal war ich im Ort und habe die Leute gefragt, aber niemand konnte bestätigen, dass ihr überhaupt da angekommen wärt. Es fällt mir schwer, dies zu schreiben, aber ich muss davon ausgehen, dass euch etwas zugestoßen ist. Allein traue ich mich nicht, weiter hier zu leben, daher habe ich einen Plan gefasst. Ihr habt mir oft von unseren zahlreichen Verwandten erzählt, die über die Lande verstreut leben. Nur einmal habe ich einen von ihnen getroffen, meinen Onkel Harry, der uns vor drei Jahren besuchen kam. Ihn will ich suchen. Ich weiß zwar nicht wo er sich aufhält, aber auch dafür habe ich eine Lösung. In wenigen Wochen findet das große Treffen in Bucktopia statt, von überall werden Händler, Schausteller und alle anderen kommen, die das größte Fest dieses Kontinents nicht verpassen wollen. Harry, der seinen Lebensunterhalt ja hauptsächlich mit dem Verkauf von selbstgefertigten Werkzeugen verdient, wird sich diese Gelegenheit zum Handeln sicher nicht entgehen lassen. An sein Aussehen erinnere ich mich noch ganz gut, ich bin also zuversichtlich, dass ich ihn finde und fortan bei ihm leben kann. Wenn ihr dies lesen solltet, sucht mich bei ihm oder, wenn es dafür noch nicht zu spät ist, in Bucktopia.

In der Hoffnung, euch wiederzusehen
Euer Sohn
Leopold

***

Soweit, so gut. Es konnte losgehen. Leopold wuchtete seinen Rucksack auf die Schulter und stieg die Treppe des Gutshauses hinunter. Noch einmal sah er sich um. In diesem stattlichen Anwesen hatte er seit seiner Geburt gelebt. Seine Eltern waren sehr reich gewesen, bevor die große Katastrophe vor etwa 30 Jahren das Leben der Menschen radikal verändert hatte, doch durch die Zerstörung fast der gesamten Infrastruktur, ja, eigentlich so gut wie jeder höheren Technologie, waren die gesellschaftlichen Strukturen zusammengebrochen. Weite Teile der Erde waren verwüstet, besonders die Großstädte glichen Trümmerfeldern. Die meisten Menschen hatten sich wieder in Stämmen organisiert und durchstreiften Land und Städte auf der Suche nach Nahrung und noch verwendbaren Überbleibseln der alten Technologien. Fast niemand wusste mehr, wie diese Dinge funktionierten und die Chancen, dass die wenigen Menschen, die vor über 30 Jahren die Funktionsweise verschiedener technischer Gerätschaften zu durchschauen gelernt hatten die entsprechenden Gegenstände in die Hände bekamen, war äußerst gering. Die meisten Funde wurden daher benutzt, bis sie nicht mehr funktionierten, um dann auseinandergenommen und in eigenen, leichter verständlichen Werkzeugen und Erfindungen verbaut zu werden.
Diese äußerst seltenen alten Artefakte hatten bisher das Überleben von Leopolds Familie gesichert. Mit der Zeit hatten sie ihren Besitz Stück für Stück im Dorf gegen die Dinge des täglichen Bedarfs eingetauscht. Auf diese Weise konnten sie ihr privilegiertes Dasein weiter pflegen, wenn die Privilegien auch nunmehr nicht mehr in schicken Autos und teuren Urlauben bestanden, sondern darin, aufgrund ihres Besitzes an Sachwerten weder hart arbeiten noch sich um die Mahlzeiten des nächsten Tages sorgen zu müssen. Vor allem aber war es Leopolds Eltern möglich gewesen, ihrem einzigen Sohn eine äußerst behütete Kindheit und Jugend zu bieten. In dem herrschaftlichen Haus und den weiten Ländereien darum herum gab es, wenn man sich nicht zu draufgängerisch verhielt, keine großen Gefahren, ein kleines Paradies inmitten einer gnadenlosen Umwelt. Für Leopold war dies daher das erste Mal, dass er das elterliche Haus verließ, um weiter wegzugehen, als bis zum nächsten Dorf. Und das mit 19 Jahren!

***

Leopold wandte sich um und war eben im Begriff, loszugehen, als er schon wieder innehielt. Er überlegte. Bisher hatte er noch gar nicht daran gedacht, etwas mitzunehmen, womit er sich im Notfall verteidigen könnte. Zwar war er noch nie in den wirklich gefährlichen Gebieten gewesen, aber jetzt gingen ihm die vielen Geschichten durch den Kopf, die ihn selbst in Zeiten wildester Abenteuerlust und tödlicher Langeweile von derlei Expeditionen abgehalten hatten. Wegelagerer, wilde Tiere, Waldräuber, ja auch Wahnsinnige Anhänger blutiger Menschenopferkulte sollte es geben. Außerdem hatte er von vollkommen entstellten Wesen gehört, Mutanten, entstanden durch die Strahlung, die weite Teile des Planeten entvölkert hatte und von der niemand genau wusste, ob sie ausschließlich von den inzwischen verwahrlosten Atomkraftwerken stammte, oder ob auch der Einsatz nuklearer Waffen daran beteiligt gewesen war. Leopold schauderte. Ja, er würde eine Waffe brauchen. Wahrscheinlich würde sie ihm nicht viel bringen, da er nie gelernt hatte, sich seiner Haut zu wehren, aber er wollte jede Möglichkeit nutzen, seine Überlebenschancen zu verbessern.
Er gab sich einen Ruck und stapfte entschlossen hinüber zum Gartenschuppen. Echte Waffen besaßen sie nicht, aber hier müsste sich doch etwas geeignetes finden. Nachdenklich betrachtete er die Phalanx aus säuberlich aufgereihten, aber infolge der jahrelangen Verwahrlosung mit einer dicken Staubschicht überzogenen Gartengeräte. Er ergriff eine große Axt, die an der Wand lehnte, stellte sie aber sofort wieder zurück. Zu schwer, zu unhandlich. Die war vielleicht etwas für zwei Meter große und einen Meter breite Muskelpakete, aber seine von jugendlicher Schlankheit, oder vielmehr Schlacksigkeit, geprägte Statur ließ derartige Kraftübungen nicht zu.
Als nächstes nahm er ein langstieliges Gerät in die Hand, das vorne eine Art Haken besaß und so aussah, als sei es zum Auflockern harten Bodens gedacht, aber schon beim ersten Probeschwung bröselte ihm der morsche Stiel unter der Hand weg. Nicht sehr vertrauenerweckend. Auf keinen Fall ein Werkzeug, an dessen Haltbarkeit man das eigene Schicksal festgemacht wissen möchte. Leopold sah sich noch einmal gründlich um. Sein Blick fiel auf einen kleinen, kurzen Holzgriff mit geschwungener Klinge. Eine Sichel. Er nahm sie und wog sie in der Hand. Nicht schlecht. Handlich und scharf. Leopold steckte die Sichel in seinen Gürtel, nahm noch einen kleinen Schleifstein mit und verließ den Schuppen und kurz darauf das Anwesen seiner Eltern. So fiel der Vorhang nach dem ersten, langen Abschnitt seines Lebens. An diesen Ort sollte er für lange Zeit nicht mehr zurückkehren.

***

Ein geheimnisvoller Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen des nahegelegenen Wäldchens. Eine Gestalt in einem schwarzen Umhang verfolgte den Jungen Mann, der soeben das Herrenhaus verlassen hatte mit den Augen. Er schien eine längere Reise vorzuhaben. Das hieß wohl, dass hier niemand interessantes mehr auftauchen würde. Niemand, auf den es sich zu warten lohnen würde. Die Schattengestalt überlegte. Was nun? Endlich war das Haus gefunden, die monatelange Suche schien beendet, da stellte sich heraus, dass die Gesuchten gar nicht mehr da waren. Eine herbe Enttäuschung. Das war die einzige Spur gewesen. Es sei denn... Wohin wollte der Junge eigentlich? Ohne lange in der Nähe gewesen zu sein wusste der Schatten, dass dieser junge Erwachsene alles war – nur nicht erwachsen. Jedenfalls nicht reif für diese Welt da draußen, dass sah man ihm einfach an. Er hatte nicht die geringste Erfahrung darin, hier zu überleben, weil sein Überleben immer von anderen geschützt worden war. So einer ging nicht einfach so ohne triftigen Grund in die weite, wilde, gefährliche Welt hinein. Sein Grund musste sein, dass seine Eltern nicht wieder kamen. Sein Ziel also – seine Eltern? Andere Verwandte? Egal, die Chancen standen gut, dass sich auf diesem Weg weiterkommen ließ. Lautlos machte sich der Schatten auf den Weg, immer dem ahnungslosen Jungen hinterher, der dort drüben auf dem Weg mit seinem riesigen Rucksack einherschritt.

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Langsam sank die Sonne. Leopold sah mit gemischten Gefühlen zu, wie der große feurige Ball am Horizont verschwand und die Welt in Dunkelheit hüllte. Einerseits freute er sich darauf, nach einem durchwanderten Tag endlich schlafen zu können, andererseits war es seine erste Nacht außerhalb des Hauses seiner Eltern, das erste Mal, dass er sich den Gefahren der Natur, besonders aber denen der Menschen aussetzte. Er war sich seines Mangels an Erfahrung mit allen Arten von Gefahren, die ihm hier draußen lauern konnten, durchaus bewusst. Leider gab ihm dieses Wissen nicht den geringsten Anhaltspunkt, wie er sich zu verhalten habe. Leopold seufzte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich so vorsichtig wie möglich zu verhalten und sich ansonsten auf sein Glück zu verlassen. Er suchte sich ein Plätzchen, das ihm ein Mindestmaß an Sicherheit verhieß, da es von einer Seite durch ein Gebüsch vor Blicken geschützt war, zerrte seine Decke aus dem Rucksack, wickelte sich darin ein und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.

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Schließlich senkte sich die Nacht über die weiten Ebenen. Zwischen den Sträuchern raschelte es ein bisschen. Ein ärgerlicher Laut folgte. Noch ein kurzes rascheln. Dann war es wieder still. Eine dunkle Gestalt kam lautlos aus dem Gebüsch, neben dem sich der Junge niedergelassen hatte und huschte zu einem einzeln stehenden Baum. Flink wie eine Katze war die Gestalt an dem glatten Stamm emporgeklettert und saß nun im Astwerk, gut verborgen vom dichten Laub. Durch eine Lücke behielt der Unbekannte den Schlafenden im Auge. Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Wie rührend hilflos hatte sich dieser Neuling positioniert. Wie auf dem Präsentierteller lag er da und schlief wahrscheinlich so tief, dass man sich ruhigen Gewissens neben ihm hätte schlafen legen können, ohne dass er es vor dem nächsten Morgen bemerkt hätte.
Der schattenhafte Beobachter machte es sich auf seinem Ast bequem und beschloss, fünf Stunden lang zu schlafen. Fünf Stunden würden reichen und bis dahin würde der Kleine da unten mit Sicherheit noch nicht aufgebrochen sein.

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Plötzlich das Geräusch von Schritten. Fast wäre der Schatten von seinem Ast gefallen, eine äußerst demütigende Art des Aufwachens, zumindest, wenn man eine geheimnisvolle Daseinsform darstellt. Sofort wanderte sein Blick auf den einsamen Schläfer dort unten.
Der Schläfer war gar nicht mehr so einsam. Neben dem Jungen, der gar nicht daran dachte, sich in seinem Schlaf stören zu lassen, war ein Mann aufgetaucht, vielleicht 35 Jahre alt, abgerissene, schmutzige Kleidung, und machte sich am Rucksack des Kleinen zu schaffen. Die Gestalt auf dem Baum glitt schnell von demselben hinunter und schlich sich näher. Der Rucksack war egal, aber wenn dem nichtsahnenden Frischling da etwas zustieß, gab es niemanden mehr, der den Schatten zu seinem Ziel führen konnte. Er kannte diese Art Räuber. Da wurde nicht einfach heimlich das Gepäck geklaut, wenn es ging wurde gleich jeder beseitigt, der sich eines Tages beschweren könnte. Richtig, der Bandit hatte den Rucksack geschultert und zog ein langes Messer, fast schon ein kurzes Schwert, augenscheinlich in der Absicht, es dem Schlafenden zwischen die Rippen oder in den Hals zu jagen. Doch der Schatten war schon zur Stelle. Ein Messer drückte sich gegen den dreckigen Hals des Räubers, während eine Hand seinen Kopf an den Haaren nach hinten zog.
Nicht so schnell“ flüsterte es. „Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.“
Der Bandit war starr vor Angst.
Was willst du von mir?“
Nein, nein, die Frage müsste ganz anders lauten. Was willst du von dem Jungen?“
Ich bin ein armer Mann...“ keuchte der zerlumpte Kerl. Der Schweiß rann ihm in Strömen über die Stirn, aber er wagte es nicht, ihn wegzuwischen.
Natürlich bist du das. Welcher reiche Mann würde sich auch ohne Weiteres außerhalb der Siedlungen herumtreiben?“
Zur Antwort kam nur ein Stöhnen.
Nicht so laut, mein Freund, sonst wecken wir noch den Kleinen da und das wäre weder in meinem noch in deinem Interesse. Hör zu, ich mache dir einen Vorschlag.“
Der Fremde horchte auf. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
Du kannst den Rucksack behalten. Ich brauche ihn nicht und den Kleinen hält er nur auf.“ Die Stimme machte eine kurze Pause. „Damit machst du dich auf die Socken und lässt dich nie wieder irgendwo sehen, wo dieser Junge auftaucht, verstanden? Du wirst ihm nie mehr schaden und wenn du ihn durch Zufall mal irgendwo erblickst, trittst du sofort den Rückzug an. Das ist meine Bedingung. Können wir uns darauf einigen?“
Natürlich...“ Das klang zu gut um wahr zu sein. Wo war der Haken?
Gut“ sagte die Stimme, „dann haben wir ein Abkommen. Ich werde dir nicht auf Wiedersehen sagen, denn das wäre dein Tod. Tschüss.“
Der Mann spürte, wie sich der Griff der Finger in seinen Haaren lockerte. Gleichzeitig verschwand die Messerspitze von seinem Hals. Schnell wirbelte er herum, um zu sehen, wer ihn angegriffen hatte, aber da war niemand mehr. Hinter ihm war nur die Schwärze der Nacht. Der Bandit fröstelte. Er schnappte sich den Rucksack, der ihm heruntergefallen war, sah sich noch einmal ängstlich um und schlich sich davon, erst langsam und vorsichtig, dann immer schneller, bis er schließlich in gehetztem Galopp in die Dunkelheit entschwand.

***


Der Schatten sah ihn von seinem Baum aus in der Ferne verschwinden. Am Horizont bildete sich bereits ein schwacher rötlicher Streifen. Noch einmal warf die Gestalt auf dem Baum dem schlafenden jungen Mann einen Blick zu und beglückwünschte sich zu dem Einfall, den Räuber am Leben und mit dem Rucksack davonkommen zu lassen. Ohne schweres Gepäck würde er zweifellos schneller vorankommen. Noch ein Blick an den Himmel. Eine Stunde Schlaf würde noch möglich sein. Wie in schwarze Flügel wickelte sich das Wesen auf dem Baum in seinen Umhang ein und lehnte sich zurück.