MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Donnerstag, 12. Juni 2014

Der Oberste der Superhelden

Wenn euch in eurer Kindheit jemand gefragt hätte, ob ihr mal einen richtigen Helden kennen lernen wollt, was hättet ihr wohl geantwortet? Nicht wenige von euch, so vermute ich, hätte ohne Bedenken zugestimmt. Ein echter Held? Na klar. Wie oft kriegt man schon einen zu sehen? Leider ist ein solches Treffen aber nicht möglich. Warum? Gegenfrage: wann wird denn heute noch jemand „Held“ genannt? Meist in dem Moment, in dem sein Sarg mit der Flagge seines Heimatlandes darüber aus dem Flugzeug befördert wird, zusammen mit denen all der anderen Heldenmütigen, die nichts besseres mit ihrem Leben anzufangen wussten, als es politischen Verwerfungen zu opfern, die sie nicht verstanden. Helden trifft man nicht, weil sie gewöhnlich tot sind.
Anders ist es mit den Superhelden. Superhelden kehren aus ihren Gefechten immer zurück. Sie haben zwischendurch Tiefschläge, aber mithilfe ihrer Superkräfte und gelegentlich auch einmal mit Unterstützung einer anderen übermächtigen Kraft wie der „Kraft der Liebe/Freundschaft/Hoffnung/ [beliebige pathetische Bezeichnung einsetzen]“ schaffen sie es doch immer, aus ihren Kämpfen siegreich und gestärkt hervorzugehen, während sich hinter ihnen eine Schneise der Verwüstung durch die Landschaft zieht.

Beim letzten großen Krieg haben die Superhelden dieser Welt jedoch eindeutig übertrieben. Moment. Superhelden in unseren Kriegen? Wo gibt es denn sowas? Wie könnte es zu einer solchen Situation gekommen sein? Nun denn, Superhelden sind ihrer Natur gemäß mit gewissen Gaben ausgestattet. Die, selbstständig zu denken, gehört jedoch selten dazu. Zwar schwirren nicht wenige von ihnen tagein tagaus durch die Luft, springen von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer, führen die futuristischsten Über-Waffen, die man sich nur vorstellen kann oder haben einfach Oberarme wie eine Arnold-Schwarzenegger-Karrikatur, aber letztlich bleiben sie dann doch nichts weiter als eine Bande physisch krass übervorteilter Dumpfbacken, die dem zur Hilfe eilen, der zuerst laut schreit.
Nun bahnte sich also ein Krieg an, und verschiedenen Regierungschefs ging auf, dass man sich die Vorteile dieser Kämpfer sichern könnte. Man musste nur als erstes schreien. Also rief jedes Land die anwesenden Superhelden zusammen und erzählte ihnen schreckliche Dinge über die Absichten der Gegner, das eigene Volk zu unterjochen und die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen mit Füßen zu treten. „Freiheit“, so viel muss dazu gesagt werden, ist ein Wort, dass jedem Superhelden tief unter die Haut geht. Die Freiheit zu verteidigen, das ist ihre Aufgabe und so stellten sie sich ausnahmslos in den Dienst der verschiedenen Staaten. Das Bild, das sich nun bot, hätte unfairer nicht sein können: Die USA mit einem Heer von Superhelden, Japan zumindest mit etwas, was sich guten Gewissens ein „Schar“ oder „Gruppe“ nennen ließ. Alle anderen waren froh, wenn sie mit einem oder zwei übermächtigen Halbstarken aufwarten konnten. Der Ausgang des Kriegs schien festzustehen, bevor er überhaupt angefangen hatte, doch die Menschen hatten die Rechnung ohne oben beschriebene Eigenschaft von Superhelden gemacht. Denn Superheld war jeder von ihnen, egal, ob er eine runde Tausendschaft seinesgleichen hinter sich wusste, oder sie mit grimmigen Gesichtern auf sich zukommen sah. Und jeder Superheld kehrt aus seinen Gefechten zurück! Während also die Normalsterblichen sich einer nach dem anderen durch ihr gewaltsam erzwungenes Ableben ins Buch der Standard-Helden einschrieben, ging der Kampf der Superhelden einfach immer weiter. Natürlich legten sie, wie es halt ihre Art war, im Laufe des Kampfes die gesamte Umgebung in Schutt und Asche und da ihre Schlachten nie endeten, war irgendwann der gesamte Planet verwüstet. Kein Stein stand mehr auf dem anderen und als sich die mächtigen Beschützer der Menschen und ihrer Freiheit umsahen, stellten sie fest, dass da gar keine Menschen mehr waren, die man hätte beschützen können. Als sie mit ihren Gedanken so weit gekommen waren, der Krieg war seit etwa einer Woche mangels sterbefähiger Gegner eingestellt, setzten sich die Superhelden schließlich alle zusammen und hielten Rat.
Vor allem ein Problem stellte sich ihnen. So groß ihre Kräfte auch waren und so erfolgreich sie bis jetzt die Auswirkungen einer jeden Energiebilanz ignoriert hatten, ganz ohne Essen kam keiner von ihnen aus. Nach mehr als einer Woche ohne die ihnen von ihren jeweiligen Arbeitgebern zur Verfügung gestellten Rationen gab es kaum einen Magen mehr, der nicht mit lautstarken Unmutsbekundungen auf sich aufmerksam machte. Doch woher sollten sie etwas zu essen nehmen? Bisher hatte ihre Aufgabe darin bestanden, den Bösewichtern dieser Welt gepflegt aufs Maul zu geben. Natürlich war der eine oder andere von ihnen noch einer Nebenbeschäftigung nachgegangen, aber wie auf einer von jeder Zivilisation befreiten Welt an Nahrung zu kommen war, das wusste keiner von ihnen. Für Nahrung waren immer andere verantwortlich gewesen.
Doch das war nicht das einzige, womit sich die Superhelden dringend auseinandersetzen mussten. Die Nächte, so hatten sie gemerkt, wurden mitunter empfindlich kalt. Jeder von ihnen, der sich nicht im heldenhaften Kampf gegen eine miese Erkältung verlieren wollte, musste sich Gedanken darüber machen, wie er zu einem Dach über dem Kopf kam. Sie alle waren äußerst erfahren darin, Dinge kaputtzuschlagen, aber wenn es ums Aufbauen ging, fehlte ihnen schlicht die Erfahrung.
Nun saßen sie also alle in einem großen Bombenkrater mitten in einem noch größeren Waldstück am Hang eines noch größeren Berges versammelt und überlegten angestrengt, wie diese Probleme zu lösen seien. Das Grummeln der vielen hungrigen Mägen wurde lauter und lauter, was der Konzentrationsfähigkeit nicht eben zuträglich war, da ließ sich auf einmal ein überraschter Ausruf vernehmen.
„Da ist ja doch noch einer!“
Alle wandten sich um, erleichtert, die geistige Anstrengung für ein paar Augenblicke aussetzen zu können.
Am Rande des Kraters war soeben ein Mann erschienen. Ein älterer Herr mit langem, grauen Bart, mit Lumpen bekleidet und barfuß, der die vor ihm versammelte Menge grimmig musterte.
„Was tut ihr hier?“ rief er. „Was habt ihr hier zu suchen?“
„Wir haben hunger und überlegen, wie wir zu etwas zu essen kommen sollen.“
„Geht das vielleicht auch ein bisschen leiser?“ ließ sich wieder der alte Mann vernehmen. „Bei dem lauten Magenknurren kann ich mich nicht konzentrieren. Ich bin nicht Einsiedler geworden und in eine der einsamsten Gegenden der Erde gezogen, um mich dann hier von Armeen von Hungrigen aus meinen Gedanken reißen zu lassen.“
Der Alte drehte sich um und machte Anstalten, wieder im Wald zu verschwinden.
„Halt, warte,“ riefen die Superhelden, „kannst du uns nicht etwas zu essen verschaffen, und ein Dach über dem Kopf?“
Der Mann lachte.
„Euch allen? Wo soll ich denn diese Mengen hernehmen? Und in meine kleine Hütte passt ihr unter Garantie nicht. Vergesst es! Jagt euch gefälligst selbst etwas oder baut etwas an.“
„Das würden wir ja gerne, aber wie geht das?
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann meldete sich Thor zu Wort, der aus seinen Zeiten als Gott immer noch gewohnt war, Verantwortung für viele zu übernehmen.
„Hört zu, ich habe etwas zu sagen. Wir alle sind mit besonderen Gaben ausgestattet, die uns lange Zeit über mächtiger gemacht haben, als den durchschnittlichen Menschen. Diese Zeiten sind vorbei. Da außer uns und diesem alten Mann dort keiner mehr übrig ist, hat der durchschnittliche Mensch nun Superkräfte. Sie sind normal, nichts mehr besonderes und verdienen daher auch den Namen 'Superkräfte' nicht mehr.“
Die Menge starrte stumm vor sich hin, viele nickten in resignierter Zustimmung mit dem Kopf. Thor jedoch sprach weiter.
„Ihr Helden, die ihr keine mehr seid. Es gibt trotz alledem eine Fähigkeit, die nur einer auf dieser Erde hat, die für unser Überleben jedoch unerlässlich ist. Eine Fähigkeit, die diesen Einen zum einzigen verbliebenen Superhelden dieses Planetens macht. Es ist die Fähigkeit, zu überleben, und für unser Überleben zu sorgen und dieser Mann dort ist der einzige, der sie besitzt. Ich schlage daher vor, dass wir ihn zu unserem Anführer wählen. Er wird uns zeigen, wie man zu Nahrung kommt, wie man sich eine Unterkunft baut und wie man jeden anderen Bereich des Lebens meistert, der uns bisher von anderen abgenommen wurde.“
Er drehte sich zu dem Einsiedler.
„Zeige uns, was wir können müssen, um zu überleben. Wir werden dir folgen, die Arbeit für dich tun und dich in jedem Bereich des Lebens als unseren Anführer akzeptieren.“
Einen Moment herrschte Stille.
Dann brach tosender Applaus unter den Superhelden los. Man scharte sich um den neuen Anführer, ließ ihn hochleben und lobte seine Weisheit und seine überlegenen Fähigkeiten.

Zwanzig Jahre später bietet sich rund um das Tal ein ganz anderer Anblick. Eine erste Kleinstadt hat sich gebildet, im Umland befinden sich schon erste Dörfer. Die Leute leben hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht.
So gut wie jedes Kind wird mit besonderen Fähigkeiten geboren. Jedenfalls mit dem, was man früher als „besondere Fähigkeiten“ bezeichnet hätte. Inzwischen ist nichts Ungewöhnliches mehr dabei, wenn ein Kind den Schulweg kurzerhand fliegend zurücklegt oder mit schnellen Sprüngen von Hausdach zu Hausdach. Auch körperliche Extras wie Schildkrötenpanzer oder ein flammender Haarschopf sind nicht weiter spannend.
Aufgeregtes Geflüster kommt nur auf, wenn jemand auftaucht, der augenscheinlich keinerlei Superkräfte besitzt. Der normal über den Bürgersteig flaniert und vielleicht einen Bierbauch hat. Dann weiß ein jeder sofort: Das ist ein Nachfahre unseres alten Herrschers, der unser Volk vor dem Aussterben bewahrt hat! Vor diesen Leuten bildet sich eine Gasse, sie bekommen Geschenke gereicht, wohin auch immer sie kommen und vereinzelt hört man Hochrufe.


Mittelmäßigkeit ist wohl zu einem geschätzten Privileg geworden!