von Sir John
Rums!
Wir
sehen uns an, verwirrt, ein bisschen erschrocken.
Rums-rums-rums!
Irgendjemand
haut gegen die Tür. Alle sehen den Schlagzeuger an, den Fachmann auf dem Gebiet
jeglichen Schlagwerks, also auch, wie der Rest der Band zu denken scheint, zum
Schlagwerk umfunktionierter Kirchentüren. Den großartigen Beziehungen zweier
Bandmitglieder verdanken wir es, der quasi proberaumfreien Stadt zum Trotz seit
zwei Wochen in einer Kirche üben zu dürfen.
Nun
ist es also die Aufgabe des Schlagzeugers, die Ursache dieses Lärms an der Tür
ausfindig zu machen. Ich seufze. Warum habe ich nicht Trompete gelernt?
Der
leicht erregte ältere Gartenzwerg (geringer Wuchs, graues Haar, jedoch kein
Bart), der draußen vor der Tür steht, lässt, als ich selbige öffne, etwas
hinter seinem Rücken verschwinden und „unauffällig“ zu Boden fallen. War das
wirklich ein faustgroßer Stein, dessen Anblick ich eben noch erhaschen konnte?
Ich begutachte die tiefen Dellen in der uralten Holztür. Ja, das war definitiv
ein Stein. Die Holzsplitter auf dem Boden und das feine Sägemehl an einem der
herumliegenden Pflastersteine bestätigen meine Theorie, widerlegen jedoch
gleichzeitig Jahrhunderte einfältigen Glaubens an schwindende Kraft und
Impulsivität im Alter. Ich beschließe, dass der Mann, der mir zeitgleich mit
meinen kriminalistisch anmutenden Beobachtungen eine wahre Springflut der
Empörung entgegenschleuderte, wobei ich wirklich nicht zu sagen vermag, ob das
Wort „Springflut“ in diesem Fall im wörtlichen oder übertragenen Sinne zu
verstehen ist, nicht etwa ein rüstiger Rentner sondern eine getarnte
Kampfmaschine sein muss, die nicht nur durch eine beeindruckende Körperkraft
sondern auch durch den integrierten Wasserwerfer in der Lage ist, ihre Feinde
das Fürchten zu lehren. In der Tat sind seine Ausführungen von nicht
unbeträchtlichen Mengen feinen Sprühregens begleitet, die, von seinem nicht
enden wollenden Atem getragen, die Luft mit einem feinen Nebel und meinen
Pullover mit einem komplizierten Punktmuster feuchter Flecken versehen.
Ich
habe noch nicht viel von der Botschaft des Grauhaarigen Zwergs aufgenommen, nur
seine Unzufriedenheit mit unserem Hiersein ist deutlich zu spüren, als der Rest
der Band die Mutterinstinkte nicht mehr im Zaum halten kann und nachschauen
kommt, was denn aus ihrem Drummer geworden ist. Beim Anblick unseres
unverhofften Gastes sehen sie erst ihn, dann mich schräg an und bemühen sich im
Folgenden, den seine Ausführungen von Neuem beginnenden Opa zu verstehen. Auch
ich habe jetzt die Umstände des geheimnisvollen Lärms ausreichend erforscht, um
mich nun Sinn oder Unsinn der Beschwerden eines der hochdekorierten Mitglieder
unserer Gesellschaft zu lauschen. Laut eigener Aussage. Das Problem ist in etwa
folgendes.
In
den ehrwürdigen Neubau-Wohnblocks um uns herum wohnen Menschen. Nicht
irgendwelche Menschen, nein, diese sind, so unser Gegenüber, sämtlich
nervenkrank und äußerst lärmempfindlich. Immer wenn nun diese armen Personen
ihre Radios ausschalten können sie unsere Musik aus der Kirche hören. Er selbst
findet das ja ganz toll, dass wir Musik machen, er sei ja selbst sehr
engagiert, wolle sich aber jetzt nicht kümmern (worum auch immer) und
überhaupt, ob wir denn eine Erlaubnis hätten?
Ja.
Vom Pfarrer.
Der
Pfarrer hier sei ihm auch sehr unsympathisch, er selbst sei ja nicht in der
Kirche, aber der Pfarrer der Kirche drei Straßen weiter sei ihm viel
sympathischer, ob wir nicht da mal nachfragen wollen...?
Und
dort wohnen keine Menschen, die das stört?
Hmm,
naja, aber man könne ja mal fragen, ansonsten müssten wir eben leiser proben.
In
diesem Moment verschafft sich der Sänger Gehör, indem er den ohne Punkt und
Komma quatschenden Herrn unterbricht, um ihn mit unserer Lautstärkeproblematik
bekannt zu machen. Das Schlagzeug ist laut. Der Rest ist nicht zu hören wenn
nicht ebenso laut. Lösungsvorschläge?
Ob
man nicht das Schlagzeug leiser drehen könne?
Wie
bitte?
In
höflichem Ton erklärt der Sänger dem Unbedarften die Funktionsweise eines
akustischen Schlagzeugs. Wir haben es nicht verstärkt, also können wir die
Verstärkung auch nicht zurücknehmen. Ende.
Als
Folge entbrennt ein verbaler Schlagabtausch über die Möglichkeit, ein
unverstärktes Schlagzeug per Knöpfchen leiser zu drehen. Wir sind tatsächlich
an jemanden geraten, der uns nicht glauben will, dass das nicht geht. Ich
stelle mir vor, das lamentierende Kampfgerippe habe selbst einen
Lautstärkeregler hinter dem einen und den Auslöser eines Selbstzerstörungsmechanismus
hinter dem anderen Ohr und frage mich, welchen von beiden ich betätigen würde.
Vielleicht auch beide nacheinander?
Als
ich wieder auf Empfang schalte ist der Alte wieder bei seiner üblichen Leier
angekommen. Nein, nicht ganz. Dieses Mal macht er uns mit der Möglichkeit
vertraut, dass Anwohner das Ordnungsamt rufen könnten. Er selbst natürlich
nicht. Er sei der Letzte, der uns etwas Schlechtes wünsche, er wolle uns nur
schützen, weil, so hört es sich an, in den Blocks ringsum schon sämtliche
Nachbarn die Messer wetzen. Das Ordnungsamt fackele da nicht lange, versichert
er uns mit großen Augen, er wisse das, weil er selbst schon im Rechtswesen
tätig gewesen sei, er sei ja mal Jurist gewesen. Und Diplomingenieur. Und in
der Zeitung habe er auch schon gestanden, er wisse also, wovon er spreche.
Zum
ersten Mal im Verlauf des Gesprächs schaue ich ihn interessiert an. Nicht, dass
er etwas relevantes von sich gegeben hätte, aber nach dieser Aufzählung
thematisch unpassender Erfolge erwarte ich eigentlich, dass er mindestens noch
Mediziner und Literatur- sowie Friedensnobelpreisträger ist. Einen Moment lang
denke ich darüber nach, ihm genüsslich mein Lesekönig-Diplom aus der
Grundschule unter die Nase zu reiben, lasse es dann aber doch bleiben. Man muss
sich ja nicht auf das geistige Niveau eines unterentwickelten Orang-Utans
herablassen nur, um eine familiäre Atmosphäre zu schaffen.
Meinen
interessierten Blick scheint dieser Herr jedoch missverstanden zu haben.
Ermutigt durch den scheinbaren Erfolg seiner Worte fährt er fort, uns seines
Wohlwollens zu versichern. Plötzlich fällt ihm eine Frau Lenz ein, die mal im
Sozialamt um die Ecke gearbeitet hat. Nicht, dass die irgendetwas mit Musik am
Hut hätte, aber der gute Mann sieht Leute vor sich, die eindeutig jünger sind
als er selbst und da fällt ihm ein, dass es für jüngere Menschen Einrichtungen
gibt, die sich um sie kümmern, so dass er sich nicht kümmern muss und dass die
Frau Lenz damals vom Sozialamt zu irgendsoeinem Jugenddings gewechselt ist,
wohin weiß er nicht. Im Sozialamt sollen wir nachfragen, wohin es Frau Lenz,
die da vor fünf Jahren mal gearbeitet hat, inzwischen verschlagen hat. „Frau
Lenz macht jetzt Jugend“ versichert er uns immer wieder.
Bitte
was???
Frau
Lenz macht Jugend? Sind wir jetzt schon für die Kinderwünsche einer
ehemaligen Mitarbeiterin des Sozialamts zuständig? Meine Mutter hat auch mal
Jugend gemacht und kann uns trotzdem keinen Proberaum verschaffen!!!
Eine
weitere halbe Stunde geht ins Land, während der unser Gesprächspartner alles,
was er bisher gesagt hat noch zwei- bis dreimal wiederholt und dabei jeden
Einwand, den wir vorher schon gemacht haben, scheinbar wieder vergessen hat.
Während der Bassist und ich auf Autopilot geschaltet haben und in den kurzen
Atempausen im Argumentationsstakkato dieses Monuments der Redekunst abwechselnd
zustimmend und ablehnend brummen, versuchen der Gitarrist und der Sänger
weiterhin, vernünftige Argumente in die ansonsten sehr einseitige sowie
sinnlose Diskussion zu schmuggeln. Doch Opa ist unerbittlich. Nach weiteren
zehn Minuten, die er hauptsächlich dazu nutzt, uns immer wieder zu versichern,
wie gut er es fände, dass wir Musik machen, wenn wir es nur irgendwo machten,
wo er es nicht hört, zieht er, eine letzte Ordnungsamt-Drohung wie einen
Abschiedsgruß murmelnd, von dannen.
Wir
schauen uns an. „Frau Lenz macht jetzt Jugend?“ lässt sich der Sänger
vernehmen. Ich muss grinsen, obwohl wir mit unserer Band nun schon zum zweiten
Mal auf der Straße stehen. Dann gehen wir hinein, um unsere Instrumente
zusammenzupacken.
Inzwischen
haben wir einen Proberaum gefunden. Seit einigen Wochen üben wir in einem
Jugendclub, wo es keinen kümmert, wie laut wir sind. Der einzige Nachbar ist
eine Autowerkstatt, alles ist gut.
Frau
Lenz haben wir nicht erreicht. Wir haben gar nicht erst nach ihr gefragt. Es
gibt Dinge im Leben, die ein Mann ohne die Hilfe von ehemaligen Sozialamttanten
lösen muss. Nicht viele, aber es gibt sie. Vom Waldschrat aus der
Kirchennachbarschaft haben wir seither nie mehr etwas gehört.