MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Mittwoch, 26. Dezember 2012

Frau Lenz macht jetzt Jugend – eine Komödie in einem halben Akt


von Sir John

Rums!
Wir sehen uns an, verwirrt, ein bisschen erschrocken.
Rums-rums-rums!
Irgendjemand haut gegen die Tür. Alle sehen den Schlagzeuger an, den Fachmann auf dem Gebiet jeglichen Schlagwerks, also auch, wie der Rest der Band zu denken scheint, zum Schlagwerk umfunktionierter Kirchentüren. Den großartigen Beziehungen zweier Bandmitglieder verdanken wir es, der quasi proberaumfreien Stadt zum Trotz seit zwei Wochen in einer Kirche üben zu dürfen.
Nun ist es also die Aufgabe des Schlagzeugers, die Ursache dieses Lärms an der Tür ausfindig zu machen. Ich seufze. Warum habe ich nicht Trompete gelernt?
Der leicht erregte ältere Gartenzwerg (geringer Wuchs, graues Haar, jedoch kein Bart), der draußen vor der Tür steht, lässt, als ich selbige öffne, etwas hinter seinem Rücken verschwinden und „unauffällig“ zu Boden fallen. War das wirklich ein faustgroßer Stein, dessen Anblick ich eben noch erhaschen konnte? Ich begutachte die tiefen Dellen in der uralten Holztür. Ja, das war definitiv ein Stein. Die Holzsplitter auf dem Boden und das feine Sägemehl an einem der herumliegenden Pflastersteine bestätigen meine Theorie, widerlegen jedoch gleichzeitig Jahrhunderte einfältigen Glaubens an schwindende Kraft und Impulsivität im Alter. Ich beschließe, dass der Mann, der mir zeitgleich mit meinen kriminalistisch anmutenden Beobachtungen eine wahre Springflut der Empörung entgegenschleuderte, wobei ich wirklich nicht zu sagen vermag, ob das Wort „Springflut“ in diesem Fall im wörtlichen oder übertragenen Sinne zu verstehen ist, nicht etwa ein rüstiger Rentner sondern eine getarnte Kampfmaschine sein muss, die nicht nur durch eine beeindruckende Körperkraft sondern auch durch den integrierten Wasserwerfer in der Lage ist, ihre Feinde das Fürchten zu lehren. In der Tat sind seine Ausführungen von nicht unbeträchtlichen Mengen feinen Sprühregens begleitet, die, von seinem nicht enden wollenden Atem getragen, die Luft mit einem feinen Nebel und meinen Pullover mit einem komplizierten Punktmuster feuchter Flecken versehen.
Ich habe noch nicht viel von der Botschaft des Grauhaarigen Zwergs aufgenommen, nur seine Unzufriedenheit mit unserem Hiersein ist deutlich zu spüren, als der Rest der Band die Mutterinstinkte nicht mehr im Zaum halten kann und nachschauen kommt, was denn aus ihrem Drummer geworden ist. Beim Anblick unseres unverhofften Gastes sehen sie erst ihn, dann mich schräg an und bemühen sich im Folgenden, den seine Ausführungen von Neuem beginnenden Opa zu verstehen. Auch ich habe jetzt die Umstände des geheimnisvollen Lärms ausreichend erforscht, um mich nun Sinn oder Unsinn der Beschwerden eines der hochdekorierten Mitglieder unserer Gesellschaft zu lauschen. Laut eigener Aussage. Das Problem ist in etwa folgendes.

In den ehrwürdigen Neubau-Wohnblocks um uns herum wohnen Menschen. Nicht irgendwelche Menschen, nein, diese sind, so unser Gegenüber, sämtlich nervenkrank und äußerst lärmempfindlich. Immer wenn nun diese armen Personen ihre Radios ausschalten können sie unsere Musik aus der Kirche hören. Er selbst findet das ja ganz toll, dass wir Musik machen, er sei ja selbst sehr engagiert, wolle sich aber jetzt nicht kümmern (worum auch immer) und überhaupt, ob wir denn eine Erlaubnis hätten?
Ja. Vom Pfarrer.
Der Pfarrer hier sei ihm auch sehr unsympathisch, er selbst sei ja nicht in der Kirche, aber der Pfarrer der Kirche drei Straßen weiter sei ihm viel sympathischer, ob wir nicht da mal nachfragen wollen...?
Und dort wohnen keine Menschen, die das stört?
Hmm, naja, aber man könne ja mal fragen, ansonsten müssten wir eben leiser proben.
In diesem Moment verschafft sich der Sänger Gehör, indem er den ohne Punkt und Komma quatschenden Herrn unterbricht, um ihn mit unserer Lautstärkeproblematik bekannt zu machen. Das Schlagzeug ist laut. Der Rest ist nicht zu hören wenn nicht ebenso laut. Lösungsvorschläge?
Ob man nicht das Schlagzeug leiser drehen könne?
Wie bitte?
In höflichem Ton erklärt der Sänger dem Unbedarften die Funktionsweise eines akustischen Schlagzeugs. Wir haben es nicht verstärkt, also können wir die Verstärkung auch nicht zurücknehmen. Ende.
Als Folge entbrennt ein verbaler Schlagabtausch über die Möglichkeit, ein unverstärktes Schlagzeug per Knöpfchen leiser zu drehen. Wir sind tatsächlich an jemanden geraten, der uns nicht glauben will, dass das nicht geht. Ich stelle mir vor, das lamentierende Kampfgerippe habe selbst einen Lautstärkeregler hinter dem einen und den Auslöser eines Selbstzerstörungsmechanismus hinter dem anderen Ohr und frage mich, welchen von beiden ich betätigen würde. Vielleicht auch beide nacheinander?
Als ich wieder auf Empfang schalte ist der Alte wieder bei seiner üblichen Leier angekommen. Nein, nicht ganz. Dieses Mal macht er uns mit der Möglichkeit vertraut, dass Anwohner das Ordnungsamt rufen könnten. Er selbst natürlich nicht. Er sei der Letzte, der uns etwas Schlechtes wünsche, er wolle uns nur schützen, weil, so hört es sich an, in den Blocks ringsum schon sämtliche Nachbarn die Messer wetzen. Das Ordnungsamt fackele da nicht lange, versichert er uns mit großen Augen, er wisse das, weil er selbst schon im Rechtswesen tätig gewesen sei, er sei ja mal Jurist gewesen. Und Diplomingenieur. Und in der Zeitung habe er auch schon gestanden, er wisse also, wovon er spreche.
Zum ersten Mal im Verlauf des Gesprächs schaue ich ihn interessiert an. Nicht, dass er etwas relevantes von sich gegeben hätte, aber nach dieser Aufzählung thematisch unpassender Erfolge erwarte ich eigentlich, dass er mindestens noch Mediziner und Literatur- sowie Friedensnobelpreisträger ist. Einen Moment lang denke ich darüber nach, ihm genüsslich mein Lesekönig-Diplom aus der Grundschule unter die Nase zu reiben, lasse es dann aber doch bleiben. Man muss sich ja nicht auf das geistige Niveau eines unterentwickelten Orang-Utans herablassen nur, um eine familiäre Atmosphäre zu schaffen.
Meinen interessierten Blick scheint dieser Herr jedoch missverstanden zu haben. Ermutigt durch den scheinbaren Erfolg seiner Worte fährt er fort, uns seines Wohlwollens zu versichern. Plötzlich fällt ihm eine Frau Lenz ein, die mal im Sozialamt um die Ecke gearbeitet hat. Nicht, dass die irgendetwas mit Musik am Hut hätte, aber der gute Mann sieht Leute vor sich, die eindeutig jünger sind als er selbst und da fällt ihm ein, dass es für jüngere Menschen Einrichtungen gibt, die sich um sie kümmern, so dass er sich nicht kümmern muss und dass die Frau Lenz damals vom Sozialamt zu irgendsoeinem Jugenddings gewechselt ist, wohin weiß er nicht. Im Sozialamt sollen wir nachfragen, wohin es Frau Lenz, die da vor fünf Jahren mal gearbeitet hat, inzwischen verschlagen hat. „Frau Lenz macht jetzt Jugend“ versichert er uns immer wieder.
Bitte was???
Frau Lenz macht Jugend? Sind wir jetzt schon für die Kinderwünsche einer ehemaligen Mitarbeiterin des Sozialamts zuständig? Meine Mutter hat auch mal Jugend gemacht und kann uns trotzdem keinen Proberaum verschaffen!!!
Eine weitere halbe Stunde geht ins Land, während der unser Gesprächspartner alles, was er bisher gesagt hat noch zwei- bis dreimal wiederholt und dabei jeden Einwand, den wir vorher schon gemacht haben, scheinbar wieder vergessen hat. Während der Bassist und ich auf Autopilot geschaltet haben und in den kurzen Atempausen im Argumentationsstakkato dieses Monuments der Redekunst abwechselnd zustimmend und ablehnend brummen, versuchen der Gitarrist und der Sänger weiterhin, vernünftige Argumente in die ansonsten sehr einseitige sowie sinnlose Diskussion zu schmuggeln. Doch Opa ist unerbittlich. Nach weiteren zehn Minuten, die er hauptsächlich dazu nutzt, uns immer wieder zu versichern, wie gut er es fände, dass wir Musik machen, wenn wir es nur irgendwo machten, wo er es nicht hört, zieht er, eine letzte Ordnungsamt-Drohung wie einen Abschiedsgruß murmelnd, von dannen.
Wir schauen uns an. „Frau Lenz macht jetzt Jugend?“ lässt sich der Sänger vernehmen. Ich muss grinsen, obwohl wir mit unserer Band nun schon zum zweiten Mal auf der Straße stehen. Dann gehen wir hinein, um unsere Instrumente zusammenzupacken.

Inzwischen haben wir einen Proberaum gefunden. Seit einigen Wochen üben wir in einem Jugendclub, wo es keinen kümmert, wie laut wir sind. Der einzige Nachbar ist eine Autowerkstatt, alles ist gut.
Frau Lenz haben wir nicht erreicht. Wir haben gar nicht erst nach ihr gefragt. Es gibt Dinge im Leben, die ein Mann ohne die Hilfe von ehemaligen Sozialamttanten lösen muss. Nicht viele, aber es gibt sie. Vom Waldschrat aus der Kirchennachbarschaft haben wir seither nie mehr etwas gehört.