MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Freitag, 28. November 2014

Michael




Von Mr. Big



Hallo, mein Name ist Michael. Heute ist der Tag, an dem ich sterbe. Absurd, ich weiß, aber manchmal ist das Leben eben so. Dabei fing der Tag wie immer an. Früh morgens klingelte mein Wecker und riss mich aus einem leichten Schlaf. Die letzten Schnipsel eines Traumes fegten noch durch meinen Kopf. So kam es, dass ich just in dem Moment bevor ich aufwachte, eine Silhouette sah. Die Fratze eines hasserfüllten Gesichtes schaute mich an. Panisch machte ich die Augen auf und die Schnipsel verflogen wie Blätter im Wind.


Als ich mich an den Frühstückstisch setzte, stürzte sogleich meine Großmutter herbei, um mich großzügig zu bedienen. Ich war den Sommer über zu ihr gezogen, weil ich das Gefühl hatte, dass sie in den letzten Jahren immer einsamer geworden war. Ich hatte beschlossen, sie für ein paar Tage zu besuchen und ihr Gesellschaft zu leisten.

Ein riesiger Teller voller Pancakes stand nun vor mir auf dem Tisch. „Na mein Kleiner, hast du schlecht geschlafen? Du siehst so blass aus?“

„Es ist nichts, Oma“, antwortete ich. „Ich glaube, ich hatte einen Albtraum.“ Sie fing an zu lachen. „Ein Junge in deinem Alter sollte sich von Albträumen nicht so mitnehmen lassen. Iss erstmal, damit du bei Kräften bleibst. Nicht das du mir vom Fleisch fällst.“

Das ist witzig, denn ich bin fast zwei Meter groß und wiege 130 Kilo. Manche bezeichnen mich als mollig, ich bevorzuge das Wort muskulös.

„Was hast du heute noch vor?“, fragte sie mich. 

„Mit Dorian treffen, rumhängen, nichts weiter.“

„Aha, so, so, na dann. Iss schnell auf und dann raus mit dir. Die Sonne scheint herrlich. Genieße den letzten Sommertag, bald fängt der Ernst des Lebens an.“

Womit sie nicht ganz Unrecht hat. Doch bevor ich in ein paar Tagen meine Ausbildung in dieser kleinen verschlafenen Stadt beginnen sollte, hatte ich mir vorgenommen, noch einmal so richtig einen Drauf zu machen. Zusammen mit meinem besten Freund Dorian.

Dorian und ich, wir sind typische Jugendliche, so typisch wie zwei Kerle in den USA halt sein können. Wir hängen gerne zusammen rum, gucken Football oder trinken Bier. Doch heute wollten wir feiern. Wir haben den High-School-Abschluss in der Tasche! An einem heißen, schwülen Tag wie diesen, gibt es einfach nichts besseres, als mit dem Auto raus an den Mississippi zu fahren und einfach die Seele baumeln zu lassen. 

„Hey, lass uns noch schnell bei diesem Shop vorbeigehen, ein paar Zigarillos holen“, sagte ich. „Kein Problem.“ meinte Dorian. „Meiner Alter will mir eh erst Nachmittag das Auto geben.“

Wenig später gingen wir rauchend die leeren Straßen der Kleinstadt entlang, ohne so recht darauf zu achten, was wir taten. Wir waren beschwipst vom Gefühl des großen Abenteuers und dem was vor uns lag.


Ein Streifenwagen tauchte neben uns auf. Es war das einzige Auto weit und breit.

„Hey, wieso lauft ihr nicht auf dem Fußgängerweg?“ fuhr uns ein weißer Polizist an.

Dorian und mir war das herzlich egal, schließlich war weit und breit kein weiteres Auto zu sehen. Ich beachtete ihn nicht weiter. Als Schwarzer in Amerika ist man es gewöhnt, von der Polizei angefaucht zu werden. Irgendetwas gibt es immer.

Der Cop ließ nicht locker „Hey, was ist falsch mit euch?“, rief er uns zu. 

Was für ein Arsch. Ich war eigentlich nicht auf Stress aus, aber irgendwas an diesem Typen passte mir gewaltig nicht. Irgendwas in seinem Blick war…abwertend.

Er schaute auf den Zigarillo in meiner Hand. „Habt ihr die geklaut? Komm mal ran hier, na mach schon!“  

Na gut, dachte ich mir, aber heute spielen wir nach meine Regeln. Ich stellte mein Bein in dem Moment vor seine Tür, als er gerade aussteigen wollte. Plötzlich war er hilflos in seinem Wagen gefangen.

 „GEH VERDAMMT NOCHMAL VON DER TÜR WEG!“ 

„Ich denk nicht dran.“ Sagte ich und lehnte mich in seinen Wagen. 

Ein Gerangel entstand. Der Kerl hielt mich an meinem Arm fest und beschimpfte mich mit allem, was er hatte. Ich merkte schnell, dass es wohl eine dumme Idee gewesen war, diesen Cop zu reizen und wollte abhauen, aber er hielt mich fest. Ich stieß ihn zurück. Er schrie mich an. 

Dann fiel ein Schuss. 

Was war bloß geschehen?

Ich schaute herab und sah, wo mich der Schuss gestreift hatte. Ein brennender Schmerz breitete sich an meiner Seite aus. Panik erfasste mich. Aus der Panik wurde Angst, die pure Angst ums Überleben.

Ich musste weg, weg, einfach nur weg von diesem Cop, diesem Auto. Wo ist Dorian, fragte ich mich. Ich rannte und rannte, aber es war zu spät. Da hörte ich bereits seine Stimme sagen. „Auf den Boden! AUF DEN BODEN!“

Mir wurde schwindelig, ich war in einer Trance zwischen Schock und Schmerz gefangen und merkte, wie das Leben leise aus mir herausfloss. Ich konnte weder vor noch zurück. Ich war in der Falle. Es blieb nur eine Chance, lebend aus dieser Sache herauszukommen. Ich drehte mich langsam um und war dabei die Hände hochzunehmen, als ich in sein Gesicht sah und dachte: Oh mein Gott. Ich kenne dieses Gesicht.

Das letzte, was ich sah, war der Abzug, der nach hinten gedrückt wurde. Ich erinnere mich noch gut an die letzte Sekunde auf dieser Erde, denn sie dehnte sich zu einer Unendlichkeit aus. Mein ganzes Leben zog an mir vorbei. Meine Eltern, Freunde, meine Kindheit, meine Schulzeit, Dorian…sie alle waren Teile eines unendlichen Moments, bevor die Lichter ausgingen und ich in ein tiefes, bodenloses Loch stürzte.


Eilmeldung

Am Dienstag haben die Geschworenen in den USA entschieden, dass der Polizist Darren Wilson, der den schwarzen Teenager Michael Brown erschoss, nicht wegen Mordes angeklagt wird. Später sagte der Polizist in einem Interview, er habe seinen Job richtig gemacht und würde wieder so handeln.



Am Ende wird alles gut, hat meine Oma immer gesagt. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende.

Ich höre auf zu fallen. Die Schwärze wird zu einem dunklen Grau, wird heller und heller bis die weiße Unendlichkeit sich vor mir ausbreitet.
 

Dienstag, 18. November 2014

Zukunftsbeweis

Die Zukunft ist ein verdammt anspruchsvolles Biest. Andauernd will sie meine Aufmerksamkeit. „Du musst an deine Zukunft denken“ heißt es von allen Seiten. Lerne einen Beruf, such dir einen Job, schließe Versicherungen ab, spare Geld, erwirb Landbesitz, baue ein Haus...! Und wofür? Für die Zukunft.
Dabei ist diese Zukunft von all den Dingen, denen man sein Leben weihen kann, vielleicht das Unwirklichste. Ich lebe nun schon seit über zwei Jahrzehnten auf dieser Erde. Zwei Jahrzehnte, in denen wieder und wieder die Zukunft als Ziel meiner Handlungen heraufbeschworen wurde. Zwei Jahrzehnte, in denen ich ihr trotzdem nie begegnet bin. An die Vergangenheit kann ich mich erinnern und soweit ich mich zurückbesinnen kann war die Gegenwart immer für mich da, aber die Zukunft, dieses heuchlerische Etwas, hat sich nie blicken lassen. Ich meine, sind wir denn überhaupt sicher, dass sie existiert? Niemand hat sie gesehen, niemand ist mit ihr umgegangen. Nur ein vages Konzept dessen, was noch kommen wird ist uns bekannt. Natürlich könnte man einwenden, dass es in der Natur der Zukunft liegt, nie Gegenwart zu sein, aber mal ehrlich: Wenn etwas nie sein sondern immer nur sein werden wird, warum sollten wir diesem Etwas dann einen so hohen Stellenwert einräumen?
Vielleicht gibt es den einen oder anderen Zeitreiseenthusiasten, der meint, irgendwann müssten wir doch in der Lage sein, in die Zukunft zu reisen, wodurch ihre Existenz bewiesen und ihre Relevanz hergestellt wäre, aber das halte ich für unmöglich, denn wenn wir in die Zukunft reisten, würden wir dort (oder dann) sein. Die Zukunft ist jedoch nicht die Zeit, in der man ist, sondern die, in der man sein wird, so wie die Vergangenheit die ist, in der man einmal war. Vielleicht ist es dereinst mal möglich, in die Zeit der Völkerwanderung oder in die der bemannten interstellaren Raumfahrt zu reisen, aber niemals wird es sich dabei um eine Reise in die Vergangenheit oder Zukunft handeln, jedenfalls nicht für den Reisenden selbst. Ankommen tut man immer in der Gegenwart.
Die Existenz der Zukunft ist also unbewiesen. Dennoch ist sie die Zeit, der wir die meiste Aufmerksamkeit schenken. Manchmal verweilen wir mit unseren Gedanken zwar in der Vergangenheit, manchmal – ganz selten – konzentrieren wir uns auch nur auf unsere Gegenwart, aber unser Leben richten wir nicht so aus, dass es gut ist, sondern so, dass es gut wird. Was aber immer nur im Werden begriffen ist, ist nie. Ist es nicht vielleicht langsam mal an der Zeit, die Gegenwart mehr zu würdigen? Im Gegensatz zu Zukunft und Vergangenheit ist sie immer bei uns, und das war schon immer so. Ich kann mich an keinen einzigen Augenblick erinnern, der nicht gegenwärtig gewesen wäre. Die Gegenwart ist verlässlich. Sie enthält sich des Werdens und Vergehens, dem Künftiges wie Vergangenes unterworfen sind. Sie ist einfach, ein stabiler Zustand, da das Sein an sich keine Veränderung kennt.
Ich würde also gern mehr für die Gegenwart tun. Es will mir nur leider nicht so recht gelingen. Wenn ich etwas tue, nimmt dieses Etwas Zeit in Anspruch. Das heißt, dass das Ergebnis erst nach der Tätigkeit zum Tragen kommt, in der Zukunft also. Ich kann demnach nichts für die Gegenwart tun. Ich kann nur etwas für die Gegenwart getan haben, was ja nicht das ist, was ich wollte. Was ich im Moment tue, ist immer für die Zukunft.
Der Ausweg aus diesem Dilemma ist einfach. Jede Tätigkeit orientiert sich in die Zukunft, weil sie Veränderung bezweckt und daraus besteht. Um der Gegenwart zu huldigen muss ich dem Zustand den Vorzug geben. Ich muss allem Tun entsagen und mich ganz aufs Sein konzentrieren. Weg mit Zukunftssorgen, weg mit schmerzhafter Erinnerung an Vergangenes. Was ist ist, was zählt. Denn Sein ist nur, was noch nie gewesen ist und auch nicht sein wird, da das Sein-Werdende ja nicht ist sondern sein wird, bevor es gewesen sein wird, wodurch es nie das Seiende ist. Gemäß dieser Erkenntnis werde ich von nun an nichts mehr tun, sondern nur noch existieren, damit die Gegenwart endlich bekommt, was sie verdient.
Und die Zukunft?
Nun, wenn mich das nächste Mal jemand auffordert, etwas für meine Zukunft zu tun, werde ich ihm meinen neuen Grundsatz verkünden, der da lautet:

„Solange die Zukunft nichts für mich getan hat, tue ich auch nichts für die Zukunft.“
Fair, oder?

Dienstag, 4. November 2014

Jack's Welt - Episode IV



Im Bann der Viper




Von Mr. Big

 
Sie liefen den langen Korridor entlang. Das Gemäuer schien immer enger zu werden, je weiter sie eindrangen. In der Ferne waren Umrisse einer riesigen Halle zu erkennen. Verführerisch glitzerte das weiße Licht. Es spendete so etwas wie Ruhe und Sicherheit inmitten dieser seltsamen Kälte, die sie umgab.

Er war schon öfter alleine hier durchgegangen, erinnerte sich Jim.

Immer noch wirkte dieser sterile Bau so abschreckend und zugleich anziehend. Mit jedem Schritt tauchte er tiefer in das Geheimnis ein, legte langsam den Mantel der Unwissenheit ab und öffnete seine Sinne für die Erleuchtung. 

Schon als kleines Kind war Jim stets ein wissbegieriges Kerlchen gewesen. Mutter und Vater hatten gehörig zu tun gehabt, ihm jedes Detail der Welt zu erläutern. Die Kindheitsforschung hat irgendwann einmal in einer ihrer zahlreichen Analysen festgestellt, dass ein Vierjähriger im Durchschnitt 300 Fragen pro Tag stellt. In diesem Zusammenhang war es ein Wunder, dass seine Eltern nicht wahnsinnig geworden sind und ihn den Mund zugeklebt hatten, denn Jim toppte diese Zahl bei weitem. Was normalerweise als lebenslanger Lernprozess begann, durch Bildungswege zunahm, im Studium den Scheitelpunkt erreichte und irgendwann im hohen Alter abebbte, war bei ihm eine durchweg steigende Kurve gewesen, bis zum heutigen Tag. 

Während  seiner pubertären Phase wiederum, lernte er schnell, dass zu häufiges Nachfragen zwar dem Lehrer schmeichelte, vielen anderen aber Grund genug war, ihn als „Sonderling“, „Nerd“ oder „Streber“ abzustempeln, was unter Schülern quasi eine Freikarte für Mobbing war. Kurzum, Jims Kindheit war anstrengend gewesen. 

Nachdem er endlich die grauenhaften Hallen der Oberstufe hinter sich gebracht hatte, standen die Pforten der höheren Bildungswege offen. Das „Studentenleben“ veränderte sein Verhalten schlagartig. Er wurde ruhiger. Er stellte weniger Fragen, er arbeite für sich selbst, abends in Bibliotheken, versteckt hinter den Mauern aus Büchern und Pamphleten.

Plötzlich wurde seine Leistung anerkannt. Professoren lobten ihn über den grünen Klee. Seine Noten näherten sich der sagenumwobenen Eins Komma null an. 

In dieser Zeit perfektionierte er zudem seine Anpassungsfähigkeit. Mithilfe eines romandicken Terminkalenders stricke er sich ein Netz aus Arbeits- und Ruhephasen. Studentische Partys baute er konsequent mit ein. Am Ende entstand ein Meisterwerk der Planungskunst. Mit nur einem klitzekleinen Schönheitsfehler: Es gab zeitliche Überschneidungen. Sie waren schon immer ein Problem für ihn gewesen. Manchmal hätte er einen zweiten Jim an seiner Seite gebraucht…warum hatte noch niemand die Mitose für Menschen erfunden? 

So verging diese wunderschöne Zeit viel zu schnell. Das Diplom warfen sie ihn nach vier Jahren hinterher. Die nächste Stufe auf der Karriereleiter führte ihn ohne große Unterbrechung in die wissenschaftliche Abteilung seiner Fakultät, wo er im Verborgenen seinem Wissendrang nachgehen durfte. Und das mit flexiblen Arbeitszeiten (!), ein Geschenk für einen Planungsfreak wie ihn. 

Alles lief super und eines Tages, als er im Büro über einem höchstwissenschaftlichen Buch hing, klopfte ihn jemand auf die Schulter. Der Beginn einer abenteuerlichen Wende.
Endlich waren sie am Ort der Lichtquelle angekommen. Ihnen strahlte ein Raum voll mit Computerequipment entgegen. Hinter symmetrisch perfekt angeordneten Schreibtischen saßen einige wenige Menschen, die ihre Gesichter in den aufgebauten Bildschirmen vergruben, oder gerade telefonierten. Eine allgegenwärtige Geschäftigkeit war deutlich zu spüren.

Jim sah sich um.

Rechts und links zogen sich Büroelemente wie an einer Kette durch den riesigen Raum, zwischenzeitlich unterbrochen von einigen steinernen Säulen. Ganz am Ende, in der hintersten Ecke, standen massiv wirkende Hochleistungsservern, die ein moderates Brummen durch den Saal sendeten. Es blinkten, im sekundengenauen Takt, kleine, blaue LED-Lampen aus den Türmen auf. Bei aller Anziehungskraft, lenkten sie aber dennoch nicht von dem kuriosen Gebilde ab, dass über ihren Köpfen hing.

Eine monströse, kugelförmige Uhr war in den Saal eingelassen. Sie war aus goldenem Messing gefertigt und wirkte alt, sehr alt, geradezu verhöhnend für jene Technik, die unter ihr emporragte. Lange, gusseiseren Ketten hielte sie in der Schwebe, während Scheinwerfer auf die gewölbte Schale der Uhrendecke fielen. Von jeder Seite des Raumes war die Uhr perfekt einsehbar. Und das für alle Mitarbeiter, zu jener Zeit. Eine Meisterleistung der Ingenieurskunst.
Diesem goldenen Riesen kam eine zentrale Rolle im System des Cubes zu. Die massiven Zeiger, die jede Stunde in Minuten und jede Minuten in Sekunden aufteilten, waren Wächter einer Dimension, die es für alle einzuhalten galt: Die Zeit. 

Klick. Klick. Klick, knisterte es durch den Raum. Nicht sehr laut, dennoch nahm es jeder wahr. Es war der Herzschlag des Gebäudes. 

Zeit ist Macht, einer der Leitsprüche des Cube, war in gusseisernen Lettern auf dem Körper dieser Vorrichtung eingraviert. Ein jeder Mitarbeiter, der in einem gedankenverlorenen Moment an die Decke blickte, sah es. 

Wer hingegen an die Fassade am Ende des Raumes blickte, bekam es mit dem Schrecken zu tun. 

Dort hing ein giftgrüner, matt glänzender Leib und starrte auf die ahnungslosen Mitarbeiter herab. Der Kopf des Ungetüms war nach vorne ausgerichtet. Eiskalte Augen durchbohrten jeden Winkel der Kammer. Unter dem diffusen Licht des Raumes wirkte es lebendiger denn je. Die Viper. Das Symbol der Organisation.  

Sie schien alle Geschehnisse genauestens zu beobachten. Nichts blieb ihr verborgen, vor allem die Neuankömmlinge nicht. Ihre Augen schienen nur auf sie fixiert zu sein und jeden ihrer Schritte zu beobachten.

„Ich bin schon eine ganze Weile dabei, aber dieser Ding da jagt mir immer noch jeder Mal einen Schauer über den Rücken, wenn ich es sehe“, flüsterte Chloe, während ein Frösteln ihren Körper überzog und sie hastig mit den Handflächen über ihre Oberarme strich. 

„Eine geniale Konstruktion, findest du nicht? Sie zeigt den Bewachern, dass auch sie genauestens überwacht werden. Zu jeder Zeit, an jedem Ort. Auch wenn du zu uns gehörst, heißt das noch lange nicht, dass du vor uns sicher bist…“ Jim grübelte noch einen Moment über seine letzten Worte, bevor er sich aus dem Bann der Viper löste und in Richtung des großen, quadratischen Tisches in der Mitte des Raumes ging. Hier fanden die Planungssitzungen statt. Der Boss erwartete sie bereits. Er stand mit dem Rücken zu ihnen.

„Sie sind spät dran, Agent Jim. Haben Sie dafür irgendeine Entschuldigung?“

Die Stimme schnitt wie ein Messer durch den Raum, sodass für einen Moment alle Mitarbeiter aufhorchten, bevor sie sich wieder pflichtbewusst auf ihre Arbeit stürzten. Einige verfolgten allerdings weiterhin die Szene.

„Nun ich…“, versuchte er in gewohnt lässiger Manier zu erwidern, doch er kam nicht mehr dazu.
Der Boss wandte sich um. Eine athletisch gebaute Frau, Ende Vierzig schaute mit eisernem Blick in die Runde.

„Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Pünktlichkeit oberste Priorität ist. Falls Sie dies jemals vergessen sollten, schauen Sie einfach nach oben. Ich denke unser Leitspruch macht es deutlich.

Zeit ist Macht.  Die Letter hingen vorwurfsvoll in der Luft.

„Am besten kommen sie sofort zum Punkt. Inwieweit ist Zivilist J eine Gefährdung für unsere Operation? Ich werde keine Risiken dulden. Es gibt nur diese eine Chance, das Ganze elegant über die Bühne zu bringen und die müssen wir nutzen.“

Jim schluckte.  Alles, was er gerade noch frech heraus sagen wollte, war ihm just im Halse stecken geblieben.

„Was stehen Sie da so rum. Nun erzählen Sie schon.“

Der Boss war einfach beeindruckend…und bedrohlich zugleich. Aschblonde Haare bedeckten einen Teil ihrer Augen. Das kalte Gesicht und der ansonsten militärisch kurze Haarschnitt ließen das Bildnis einer Frau fast völlig aus ihren Zügen verschwinden. Was zurückblieb, war eine kampferprobte Militär, die genau wusste, was sie wollte.

 „Nun, ehm“, begann Jim zu zögerlich, fing sich aber recht schnell wieder, „laut meines analytischen Interviews sehe ich keine Tendenz zu irgendeiner Handlung, die mit unseren Plänen kollidieren könnte. Er wird keine Gefahr für die Operation darstellen.“

„Schön und gut an, aber wie schaut es aus der Sicht des <guten Freundes > aus? Wie schätzen sie es ein, rein subjektiv.“

Mit einem Wink gab sie ihm zu verstehen, dass jetzt eine persönliche Meinung angebracht wäre. Jim entschied, dass es klug sei, ihrem Befehl Folge zu leisten.

„Ich denke, Jack hat sich ein paar Flusen in den Kopf gesetzt, die uns aber nicht weiter kümmern sollten. Wenn verlangt, könnte man zur Sicherheit seine Wohnung verwanzen und schauen, ob er noch irgendwas in die Richtung unternimmt. Aber ich glaube nicht, dass er die Eier hat, etwas Großes alleine zu unternehmen, nicht, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Dafür ist er einfach nicht der Typ.“

Es hätte nichts gebracht, sie anzulügen. Sie war eine Art Mensch, der den sechsten Sinn für so etwas besaß. Auch das kleinste, nervöse Abgleiten in Mimik oder Gestik wäre von ihr knallhart aufgedeckt worden. 

Ihr kalter Blick ruhte schwer auf ihm. Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich irgendwer bewegte.

„Wir könnten unseren Feldspäher aktivieren und ihn beschatten.“, warf Chloe ein. „Zumindest für die nächsten Tage. Nur zur Sicherheit.“

Endlich löste sich der klammerartige Blick des Bosses und Johns Schläfen entspannten sich etwas.

„Guter Vorschlag, Agent…“, der Boss hatte Mühe den richten Namen zu finden.

„Chloe, Leutenant.“, warf sie ein.

„Sehr gute Idee, Agent Chloe. Ich mag Leute, die mitdenken. Wie Sie wissen, hat es oberste Priorität, dass lupenrein über die Bühne zu bringen. Ich rede hier von einer gezielten Aktion, die in wenigen Stunden abgeschlossen ist.

Nun gut, dann bereiten sie alles vor, damit wir die nächsten Schritte tun können. Wir werden diese türkische Mafiazelle fein säuberlich aus ihrer Verankerung reißen und Glied für Glied auseinandernehmen. Zur Sicherheit“, wie der Boss ausgesprochen deutlich betonte, „setze ich derweil Milas auf Ihren Freund Jack an. Er soll herausfinden, ob er uns Schwierigkeiten bereitet oder nicht.“ 

Sie blickte  auf den Schreibtisch ganz in Ihrer Nähe.
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„Milas!“, brüllte sie.

„Jawohl, Ma‘ am?“ antwortete eine pflichtbewusste Stimme wie aus der Pistole geschossen.

„Herkommen.“

Ein schlaksiger Kerl erhob sich von seinem Arbeitsplatz. Kaum hatte er von dem fein säuberlich gestapelten Aktenberg auf seinem Tisch aufgeblickt, schien ihn auch schon der Tatendrang aus dem Gesicht zu sprudeln. Mit Aussicht auf spannendere Arbeit nahm er Haltung an und kam mit Stechschritt zu ihnen herüber.

„Sie haben einen neuen Auftrag. Beschatten Sie den Zivilisten Jack und verwanzen sie seine Wohnung. Lassen Sie ihn für 24 Stunden nicht aus den Augen. Ich will wissen, wie er sich bewegt, wohin er sich bewegt, was ihn bewegt, das volle Programm. Danach erstatten sie mir sofort Bericht.“