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Dienstag, 4. November 2014

Jack's Welt - Episode IV



Im Bann der Viper




Von Mr. Big

 
Sie liefen den langen Korridor entlang. Das Gemäuer schien immer enger zu werden, je weiter sie eindrangen. In der Ferne waren Umrisse einer riesigen Halle zu erkennen. Verführerisch glitzerte das weiße Licht. Es spendete so etwas wie Ruhe und Sicherheit inmitten dieser seltsamen Kälte, die sie umgab.

Er war schon öfter alleine hier durchgegangen, erinnerte sich Jim.

Immer noch wirkte dieser sterile Bau so abschreckend und zugleich anziehend. Mit jedem Schritt tauchte er tiefer in das Geheimnis ein, legte langsam den Mantel der Unwissenheit ab und öffnete seine Sinne für die Erleuchtung. 

Schon als kleines Kind war Jim stets ein wissbegieriges Kerlchen gewesen. Mutter und Vater hatten gehörig zu tun gehabt, ihm jedes Detail der Welt zu erläutern. Die Kindheitsforschung hat irgendwann einmal in einer ihrer zahlreichen Analysen festgestellt, dass ein Vierjähriger im Durchschnitt 300 Fragen pro Tag stellt. In diesem Zusammenhang war es ein Wunder, dass seine Eltern nicht wahnsinnig geworden sind und ihn den Mund zugeklebt hatten, denn Jim toppte diese Zahl bei weitem. Was normalerweise als lebenslanger Lernprozess begann, durch Bildungswege zunahm, im Studium den Scheitelpunkt erreichte und irgendwann im hohen Alter abebbte, war bei ihm eine durchweg steigende Kurve gewesen, bis zum heutigen Tag. 

Während  seiner pubertären Phase wiederum, lernte er schnell, dass zu häufiges Nachfragen zwar dem Lehrer schmeichelte, vielen anderen aber Grund genug war, ihn als „Sonderling“, „Nerd“ oder „Streber“ abzustempeln, was unter Schülern quasi eine Freikarte für Mobbing war. Kurzum, Jims Kindheit war anstrengend gewesen. 

Nachdem er endlich die grauenhaften Hallen der Oberstufe hinter sich gebracht hatte, standen die Pforten der höheren Bildungswege offen. Das „Studentenleben“ veränderte sein Verhalten schlagartig. Er wurde ruhiger. Er stellte weniger Fragen, er arbeite für sich selbst, abends in Bibliotheken, versteckt hinter den Mauern aus Büchern und Pamphleten.

Plötzlich wurde seine Leistung anerkannt. Professoren lobten ihn über den grünen Klee. Seine Noten näherten sich der sagenumwobenen Eins Komma null an. 

In dieser Zeit perfektionierte er zudem seine Anpassungsfähigkeit. Mithilfe eines romandicken Terminkalenders stricke er sich ein Netz aus Arbeits- und Ruhephasen. Studentische Partys baute er konsequent mit ein. Am Ende entstand ein Meisterwerk der Planungskunst. Mit nur einem klitzekleinen Schönheitsfehler: Es gab zeitliche Überschneidungen. Sie waren schon immer ein Problem für ihn gewesen. Manchmal hätte er einen zweiten Jim an seiner Seite gebraucht…warum hatte noch niemand die Mitose für Menschen erfunden? 

So verging diese wunderschöne Zeit viel zu schnell. Das Diplom warfen sie ihn nach vier Jahren hinterher. Die nächste Stufe auf der Karriereleiter führte ihn ohne große Unterbrechung in die wissenschaftliche Abteilung seiner Fakultät, wo er im Verborgenen seinem Wissendrang nachgehen durfte. Und das mit flexiblen Arbeitszeiten (!), ein Geschenk für einen Planungsfreak wie ihn. 

Alles lief super und eines Tages, als er im Büro über einem höchstwissenschaftlichen Buch hing, klopfte ihn jemand auf die Schulter. Der Beginn einer abenteuerlichen Wende.
Endlich waren sie am Ort der Lichtquelle angekommen. Ihnen strahlte ein Raum voll mit Computerequipment entgegen. Hinter symmetrisch perfekt angeordneten Schreibtischen saßen einige wenige Menschen, die ihre Gesichter in den aufgebauten Bildschirmen vergruben, oder gerade telefonierten. Eine allgegenwärtige Geschäftigkeit war deutlich zu spüren.

Jim sah sich um.

Rechts und links zogen sich Büroelemente wie an einer Kette durch den riesigen Raum, zwischenzeitlich unterbrochen von einigen steinernen Säulen. Ganz am Ende, in der hintersten Ecke, standen massiv wirkende Hochleistungsservern, die ein moderates Brummen durch den Saal sendeten. Es blinkten, im sekundengenauen Takt, kleine, blaue LED-Lampen aus den Türmen auf. Bei aller Anziehungskraft, lenkten sie aber dennoch nicht von dem kuriosen Gebilde ab, dass über ihren Köpfen hing.

Eine monströse, kugelförmige Uhr war in den Saal eingelassen. Sie war aus goldenem Messing gefertigt und wirkte alt, sehr alt, geradezu verhöhnend für jene Technik, die unter ihr emporragte. Lange, gusseiseren Ketten hielte sie in der Schwebe, während Scheinwerfer auf die gewölbte Schale der Uhrendecke fielen. Von jeder Seite des Raumes war die Uhr perfekt einsehbar. Und das für alle Mitarbeiter, zu jener Zeit. Eine Meisterleistung der Ingenieurskunst.
Diesem goldenen Riesen kam eine zentrale Rolle im System des Cubes zu. Die massiven Zeiger, die jede Stunde in Minuten und jede Minuten in Sekunden aufteilten, waren Wächter einer Dimension, die es für alle einzuhalten galt: Die Zeit. 

Klick. Klick. Klick, knisterte es durch den Raum. Nicht sehr laut, dennoch nahm es jeder wahr. Es war der Herzschlag des Gebäudes. 

Zeit ist Macht, einer der Leitsprüche des Cube, war in gusseisernen Lettern auf dem Körper dieser Vorrichtung eingraviert. Ein jeder Mitarbeiter, der in einem gedankenverlorenen Moment an die Decke blickte, sah es. 

Wer hingegen an die Fassade am Ende des Raumes blickte, bekam es mit dem Schrecken zu tun. 

Dort hing ein giftgrüner, matt glänzender Leib und starrte auf die ahnungslosen Mitarbeiter herab. Der Kopf des Ungetüms war nach vorne ausgerichtet. Eiskalte Augen durchbohrten jeden Winkel der Kammer. Unter dem diffusen Licht des Raumes wirkte es lebendiger denn je. Die Viper. Das Symbol der Organisation.  

Sie schien alle Geschehnisse genauestens zu beobachten. Nichts blieb ihr verborgen, vor allem die Neuankömmlinge nicht. Ihre Augen schienen nur auf sie fixiert zu sein und jeden ihrer Schritte zu beobachten.

„Ich bin schon eine ganze Weile dabei, aber dieser Ding da jagt mir immer noch jeder Mal einen Schauer über den Rücken, wenn ich es sehe“, flüsterte Chloe, während ein Frösteln ihren Körper überzog und sie hastig mit den Handflächen über ihre Oberarme strich. 

„Eine geniale Konstruktion, findest du nicht? Sie zeigt den Bewachern, dass auch sie genauestens überwacht werden. Zu jeder Zeit, an jedem Ort. Auch wenn du zu uns gehörst, heißt das noch lange nicht, dass du vor uns sicher bist…“ Jim grübelte noch einen Moment über seine letzten Worte, bevor er sich aus dem Bann der Viper löste und in Richtung des großen, quadratischen Tisches in der Mitte des Raumes ging. Hier fanden die Planungssitzungen statt. Der Boss erwartete sie bereits. Er stand mit dem Rücken zu ihnen.

„Sie sind spät dran, Agent Jim. Haben Sie dafür irgendeine Entschuldigung?“

Die Stimme schnitt wie ein Messer durch den Raum, sodass für einen Moment alle Mitarbeiter aufhorchten, bevor sie sich wieder pflichtbewusst auf ihre Arbeit stürzten. Einige verfolgten allerdings weiterhin die Szene.

„Nun ich…“, versuchte er in gewohnt lässiger Manier zu erwidern, doch er kam nicht mehr dazu.
Der Boss wandte sich um. Eine athletisch gebaute Frau, Ende Vierzig schaute mit eisernem Blick in die Runde.

„Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Pünktlichkeit oberste Priorität ist. Falls Sie dies jemals vergessen sollten, schauen Sie einfach nach oben. Ich denke unser Leitspruch macht es deutlich.

Zeit ist Macht.  Die Letter hingen vorwurfsvoll in der Luft.

„Am besten kommen sie sofort zum Punkt. Inwieweit ist Zivilist J eine Gefährdung für unsere Operation? Ich werde keine Risiken dulden. Es gibt nur diese eine Chance, das Ganze elegant über die Bühne zu bringen und die müssen wir nutzen.“

Jim schluckte.  Alles, was er gerade noch frech heraus sagen wollte, war ihm just im Halse stecken geblieben.

„Was stehen Sie da so rum. Nun erzählen Sie schon.“

Der Boss war einfach beeindruckend…und bedrohlich zugleich. Aschblonde Haare bedeckten einen Teil ihrer Augen. Das kalte Gesicht und der ansonsten militärisch kurze Haarschnitt ließen das Bildnis einer Frau fast völlig aus ihren Zügen verschwinden. Was zurückblieb, war eine kampferprobte Militär, die genau wusste, was sie wollte.

 „Nun, ehm“, begann Jim zu zögerlich, fing sich aber recht schnell wieder, „laut meines analytischen Interviews sehe ich keine Tendenz zu irgendeiner Handlung, die mit unseren Plänen kollidieren könnte. Er wird keine Gefahr für die Operation darstellen.“

„Schön und gut an, aber wie schaut es aus der Sicht des <guten Freundes > aus? Wie schätzen sie es ein, rein subjektiv.“

Mit einem Wink gab sie ihm zu verstehen, dass jetzt eine persönliche Meinung angebracht wäre. Jim entschied, dass es klug sei, ihrem Befehl Folge zu leisten.

„Ich denke, Jack hat sich ein paar Flusen in den Kopf gesetzt, die uns aber nicht weiter kümmern sollten. Wenn verlangt, könnte man zur Sicherheit seine Wohnung verwanzen und schauen, ob er noch irgendwas in die Richtung unternimmt. Aber ich glaube nicht, dass er die Eier hat, etwas Großes alleine zu unternehmen, nicht, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Dafür ist er einfach nicht der Typ.“

Es hätte nichts gebracht, sie anzulügen. Sie war eine Art Mensch, der den sechsten Sinn für so etwas besaß. Auch das kleinste, nervöse Abgleiten in Mimik oder Gestik wäre von ihr knallhart aufgedeckt worden. 

Ihr kalter Blick ruhte schwer auf ihm. Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich irgendwer bewegte.

„Wir könnten unseren Feldspäher aktivieren und ihn beschatten.“, warf Chloe ein. „Zumindest für die nächsten Tage. Nur zur Sicherheit.“

Endlich löste sich der klammerartige Blick des Bosses und Johns Schläfen entspannten sich etwas.

„Guter Vorschlag, Agent…“, der Boss hatte Mühe den richten Namen zu finden.

„Chloe, Leutenant.“, warf sie ein.

„Sehr gute Idee, Agent Chloe. Ich mag Leute, die mitdenken. Wie Sie wissen, hat es oberste Priorität, dass lupenrein über die Bühne zu bringen. Ich rede hier von einer gezielten Aktion, die in wenigen Stunden abgeschlossen ist.

Nun gut, dann bereiten sie alles vor, damit wir die nächsten Schritte tun können. Wir werden diese türkische Mafiazelle fein säuberlich aus ihrer Verankerung reißen und Glied für Glied auseinandernehmen. Zur Sicherheit“, wie der Boss ausgesprochen deutlich betonte, „setze ich derweil Milas auf Ihren Freund Jack an. Er soll herausfinden, ob er uns Schwierigkeiten bereitet oder nicht.“ 

Sie blickte  auf den Schreibtisch ganz in Ihrer Nähe.
.
„Milas!“, brüllte sie.

„Jawohl, Ma‘ am?“ antwortete eine pflichtbewusste Stimme wie aus der Pistole geschossen.

„Herkommen.“

Ein schlaksiger Kerl erhob sich von seinem Arbeitsplatz. Kaum hatte er von dem fein säuberlich gestapelten Aktenberg auf seinem Tisch aufgeblickt, schien ihn auch schon der Tatendrang aus dem Gesicht zu sprudeln. Mit Aussicht auf spannendere Arbeit nahm er Haltung an und kam mit Stechschritt zu ihnen herüber.

„Sie haben einen neuen Auftrag. Beschatten Sie den Zivilisten Jack und verwanzen sie seine Wohnung. Lassen Sie ihn für 24 Stunden nicht aus den Augen. Ich will wissen, wie er sich bewegt, wohin er sich bewegt, was ihn bewegt, das volle Programm. Danach erstatten sie mir sofort Bericht.“




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