Im Bann der Viper
Von Mr. Big
Sie
liefen den langen Korridor entlang. Das Gemäuer schien immer enger zu werden,
je weiter sie eindrangen. In der Ferne waren Umrisse einer riesigen Halle zu
erkennen. Verführerisch glitzerte das weiße Licht. Es spendete so etwas wie
Ruhe und Sicherheit inmitten dieser seltsamen Kälte, die sie umgab.
Er
war schon öfter alleine hier durchgegangen, erinnerte sich Jim.
Immer
noch wirkte dieser sterile Bau so abschreckend und zugleich anziehend. Mit
jedem Schritt tauchte er tiefer in das Geheimnis ein, legte langsam den Mantel
der Unwissenheit ab und öffnete seine Sinne für die Erleuchtung.
Schon
als kleines Kind war Jim stets ein wissbegieriges Kerlchen gewesen. Mutter und
Vater hatten gehörig zu tun gehabt, ihm jedes Detail der Welt zu erläutern. Die
Kindheitsforschung hat irgendwann einmal in einer ihrer zahlreichen Analysen
festgestellt, dass ein Vierjähriger im Durchschnitt 300 Fragen pro Tag stellt.
In diesem Zusammenhang war es ein Wunder, dass seine Eltern nicht wahnsinnig
geworden sind und ihn den Mund zugeklebt hatten, denn Jim toppte diese Zahl bei
weitem. Was normalerweise als lebenslanger Lernprozess begann, durch Bildungswege
zunahm, im Studium den Scheitelpunkt erreichte und irgendwann im hohen Alter
abebbte, war bei ihm eine durchweg steigende Kurve gewesen, bis zum heutigen
Tag.
Während seiner pubertären Phase wiederum, lernte er
schnell, dass zu häufiges Nachfragen zwar dem Lehrer schmeichelte, vielen anderen
aber Grund genug war, ihn als „Sonderling“, „Nerd“ oder „Streber“ abzustempeln,
was unter Schülern quasi eine Freikarte für Mobbing war. Kurzum, Jims Kindheit
war anstrengend gewesen.
Nachdem
er endlich die grauenhaften Hallen der Oberstufe hinter sich gebracht hatte,
standen die Pforten der höheren Bildungswege offen. Das „Studentenleben“ veränderte
sein Verhalten schlagartig. Er wurde ruhiger. Er stellte weniger Fragen, er arbeite
für sich selbst, abends in Bibliotheken, versteckt hinter den Mauern aus
Büchern und Pamphleten.
Plötzlich
wurde seine Leistung anerkannt. Professoren lobten ihn über den grünen Klee.
Seine Noten näherten sich der sagenumwobenen Eins Komma null an.
In
dieser Zeit perfektionierte er zudem seine Anpassungsfähigkeit. Mithilfe eines
romandicken Terminkalenders stricke er sich ein Netz aus Arbeits- und
Ruhephasen. Studentische Partys baute er konsequent mit ein. Am Ende entstand
ein Meisterwerk der Planungskunst. Mit nur einem klitzekleinen Schönheitsfehler:
Es gab zeitliche Überschneidungen. Sie waren schon immer ein Problem für ihn
gewesen. Manchmal hätte er einen zweiten Jim an seiner Seite gebraucht…warum
hatte noch niemand die Mitose für Menschen erfunden?
So
verging diese wunderschöne Zeit viel zu schnell. Das Diplom warfen sie ihn nach
vier Jahren hinterher. Die nächste Stufe auf der Karriereleiter führte ihn ohne
große Unterbrechung in die wissenschaftliche Abteilung seiner Fakultät, wo er im
Verborgenen seinem Wissendrang nachgehen durfte. Und das mit flexiblen
Arbeitszeiten (!), ein Geschenk für einen Planungsfreak wie ihn.
Alles
lief super und eines Tages, als er im Büro über einem höchstwissenschaftlichen
Buch hing, klopfte ihn jemand auf die Schulter. Der Beginn einer
abenteuerlichen Wende.
Endlich
waren sie am Ort der Lichtquelle angekommen. Ihnen strahlte ein Raum voll mit Computerequipment
entgegen. Hinter symmetrisch perfekt angeordneten Schreibtischen saßen einige
wenige Menschen, die ihre Gesichter in den aufgebauten Bildschirmen vergruben,
oder gerade telefonierten. Eine allgegenwärtige Geschäftigkeit war deutlich zu
spüren.
Jim
sah sich um.
Rechts
und links zogen sich Büroelemente wie an einer Kette durch den riesigen Raum,
zwischenzeitlich unterbrochen von einigen steinernen Säulen. Ganz am Ende, in
der hintersten Ecke, standen massiv wirkende Hochleistungsservern, die ein moderates
Brummen durch den Saal sendeten. Es blinkten, im sekundengenauen Takt, kleine,
blaue LED-Lampen aus den Türmen auf. Bei aller Anziehungskraft, lenkten sie
aber dennoch nicht von dem kuriosen Gebilde ab, dass über ihren Köpfen hing.
Eine
monströse, kugelförmige Uhr war in den Saal eingelassen. Sie war aus goldenem
Messing gefertigt und wirkte alt, sehr alt, geradezu verhöhnend für jene
Technik, die unter ihr emporragte. Lange, gusseiseren Ketten hielte sie in der
Schwebe, während Scheinwerfer auf die gewölbte Schale der Uhrendecke fielen. Von
jeder Seite des Raumes war die Uhr perfekt einsehbar. Und das für alle
Mitarbeiter, zu jener Zeit. Eine Meisterleistung der Ingenieurskunst.
Diesem
goldenen Riesen kam eine zentrale Rolle im System des Cubes zu. Die massiven
Zeiger, die jede Stunde in Minuten und jede Minuten in Sekunden aufteilten,
waren Wächter einer Dimension, die es für alle einzuhalten galt: Die Zeit.
Klick.
Klick. Klick, knisterte es durch den Raum. Nicht sehr laut, dennoch nahm es
jeder wahr. Es war der Herzschlag des Gebäudes.
Zeit ist Macht, einer der Leitsprüche des Cube, war in
gusseisernen Lettern auf dem Körper dieser Vorrichtung eingraviert. Ein jeder
Mitarbeiter, der in einem gedankenverlorenen Moment an die Decke blickte, sah
es.
Wer
hingegen an die Fassade am Ende des Raumes blickte, bekam es mit dem Schrecken
zu tun.
Dort
hing ein giftgrüner, matt glänzender Leib und starrte auf die ahnungslosen
Mitarbeiter herab. Der Kopf des Ungetüms war nach vorne ausgerichtet. Eiskalte
Augen durchbohrten jeden Winkel der Kammer. Unter dem diffusen Licht des Raumes
wirkte es lebendiger denn je. Die Viper. Das Symbol der Organisation.
Sie
schien alle Geschehnisse genauestens zu beobachten. Nichts blieb ihr verborgen,
vor allem die Neuankömmlinge nicht. Ihre Augen schienen nur auf sie fixiert zu
sein und jeden ihrer Schritte zu beobachten.
„Ich
bin schon eine ganze Weile dabei, aber dieser Ding da jagt mir immer noch jeder
Mal einen Schauer über den Rücken, wenn ich es sehe“, flüsterte Chloe, während ein
Frösteln ihren Körper überzog und sie hastig mit den Handflächen über ihre
Oberarme strich.
„Eine
geniale Konstruktion, findest du nicht? Sie zeigt den Bewachern, dass auch sie genauestens
überwacht werden. Zu jeder Zeit, an jedem Ort. Auch wenn du zu uns gehörst, heißt
das noch lange nicht, dass du vor uns sicher bist…“ Jim grübelte noch einen
Moment über seine letzten Worte, bevor er sich aus dem Bann der Viper löste und
in Richtung des großen, quadratischen Tisches in der Mitte des Raumes ging.
Hier fanden die Planungssitzungen statt. Der Boss erwartete sie bereits. Er
stand mit dem Rücken zu ihnen.
„Sie
sind spät dran, Agent Jim. Haben Sie dafür irgendeine Entschuldigung?“
Die
Stimme schnitt wie ein Messer durch den Raum, sodass für einen Moment alle Mitarbeiter
aufhorchten, bevor sie sich wieder pflichtbewusst auf ihre Arbeit stürzten.
Einige verfolgten allerdings weiterhin die Szene.
„Nun
ich…“, versuchte er in gewohnt lässiger Manier zu erwidern, doch er kam nicht
mehr dazu.
Der
Boss wandte sich um. Eine athletisch gebaute Frau, Ende Vierzig schaute mit
eisernem Blick in die Runde.
„Ich
möchte Sie darauf hinweisen, dass Pünktlichkeit oberste Priorität ist. Falls
Sie dies jemals vergessen sollten, schauen Sie einfach nach oben. Ich denke
unser Leitspruch macht es deutlich.
Zeit ist Macht. Die Letter hingen vorwurfsvoll in der Luft.
„Am
besten kommen sie sofort zum Punkt. Inwieweit ist Zivilist J eine Gefährdung
für unsere Operation? Ich werde keine Risiken dulden. Es gibt nur diese eine
Chance, das Ganze elegant über die Bühne zu bringen und die müssen wir nutzen.“
Jim
schluckte. Alles, was er gerade noch frech
heraus sagen wollte, war ihm just im Halse stecken geblieben.
„Was
stehen Sie da so rum. Nun erzählen Sie schon.“
Der
Boss war einfach beeindruckend…und bedrohlich zugleich. Aschblonde Haare
bedeckten einen Teil ihrer Augen. Das kalte Gesicht und der ansonsten militärisch
kurze Haarschnitt ließen das Bildnis einer Frau fast völlig aus ihren Zügen
verschwinden. Was zurückblieb, war eine kampferprobte Militär, die genau
wusste, was sie wollte.
„Nun, ehm“, begann Jim zu zögerlich, fing sich
aber recht schnell wieder, „laut meines analytischen Interviews sehe ich keine
Tendenz zu irgendeiner Handlung, die mit unseren Plänen kollidieren könnte. Er
wird keine Gefahr für die Operation darstellen.“
„Schön
und gut an, aber wie schaut es aus der Sicht des <guten Freundes > aus?
Wie schätzen sie es ein, rein subjektiv.“
Mit
einem Wink gab sie ihm zu verstehen, dass jetzt eine persönliche Meinung
angebracht wäre. Jim entschied, dass es klug sei, ihrem Befehl Folge zu
leisten.
„Ich
denke, Jack hat sich ein paar Flusen in den Kopf gesetzt, die uns aber nicht
weiter kümmern sollten. Wenn verlangt, könnte man zur Sicherheit seine Wohnung
verwanzen und schauen, ob er noch irgendwas in die Richtung unternimmt. Aber
ich glaube nicht, dass er die Eier hat, etwas Großes alleine zu unternehmen,
nicht, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Dafür ist er einfach nicht der Typ.“
Es
hätte nichts gebracht, sie anzulügen. Sie war eine Art Mensch, der den sechsten
Sinn für so etwas besaß. Auch das kleinste, nervöse Abgleiten in Mimik oder
Gestik wäre von ihr knallhart aufgedeckt worden.
Ihr
kalter Blick ruhte schwer auf ihm. Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich
irgendwer bewegte.
„Wir
könnten unseren Feldspäher aktivieren und ihn beschatten.“, warf Chloe ein.
„Zumindest für die nächsten Tage. Nur zur Sicherheit.“
Endlich
löste sich der klammerartige Blick des Bosses und Johns Schläfen entspannten
sich etwas.
„Guter
Vorschlag, Agent…“, der Boss hatte Mühe den richten Namen zu finden.
„Chloe,
Leutenant.“, warf sie ein.
„Sehr
gute Idee, Agent Chloe. Ich mag Leute, die mitdenken. Wie Sie wissen, hat es
oberste Priorität, dass lupenrein über die Bühne zu bringen. Ich rede hier von
einer gezielten Aktion, die in wenigen Stunden abgeschlossen ist.
Nun
gut, dann bereiten sie alles vor, damit wir die nächsten Schritte tun können. Wir
werden diese türkische Mafiazelle fein säuberlich aus ihrer Verankerung reißen
und Glied für Glied auseinandernehmen. Zur Sicherheit“, wie der Boss
ausgesprochen deutlich betonte, „setze ich derweil Milas auf Ihren Freund Jack
an. Er soll herausfinden, ob er uns Schwierigkeiten bereitet oder nicht.“
Sie
blickte auf den Schreibtisch ganz in
Ihrer Nähe.
.
„Milas!“,
brüllte sie.
„Jawohl,
Ma‘ am?“ antwortete eine pflichtbewusste Stimme wie aus der Pistole geschossen.
„Herkommen.“
Ein
schlaksiger Kerl erhob sich von seinem Arbeitsplatz. Kaum hatte er von dem fein
säuberlich gestapelten Aktenberg auf seinem Tisch aufgeblickt, schien ihn auch
schon der Tatendrang aus dem Gesicht zu sprudeln. Mit Aussicht auf spannendere
Arbeit nahm er Haltung an und kam mit Stechschritt zu ihnen herüber.
„Sie
haben einen neuen Auftrag. Beschatten Sie den Zivilisten Jack und verwanzen sie
seine Wohnung. Lassen Sie ihn für 24 Stunden nicht aus den Augen. Ich will
wissen, wie er sich bewegt, wohin er sich bewegt, was ihn bewegt, das volle
Programm. Danach erstatten sie mir sofort Bericht.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen