MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Freitag, 25. Dezember 2015

Vier Schichten - Teil III

Von Mr. Big

III

Ihre braunen, unergründlichen Augen lassen keine Rückschlüsse darauf zu, was sie über mich denkt. Ich bemerke, dass wir mit zunehmender Dauer Krümel produzieren, die sich wie kleine Geröllhäufchen auf dem Tellerboden absetzen. Ich schaue auf den Haufen und sehe das Ende unseres Treffens, die unsicheren Tage danach, ich sehe unbeantwortete Anrufe und Mailboxnachrichten. Der Strom an negativen Gedanken nimmt zu, ich muss ihn eindämmen, und zwar schnell, sonst droht er mich mitzureißen. Da stelle ich fest, dass ich es bin, der den Schutt produziert. Also kann ich ihn auch wieder entfernen. Ich hole weit aus und tauche meine Gabel in das Geröll und schlucke meine Sorgen einfach runter. Johanna sieht, wie energisch ich mich über den Schutt hermache und beginnt zu lachen.

„Wawf if so wiffig?“ halte ich ihr mit vollem Mund entgegen, was dazu führt, dass wir beide loslachen müssen.

„Nur so, ich wollte mich gerade auch über diese verdammten Krümel hermachen! Kann ja nicht sein, dass das Einzige, was von diesem schönen Kuchen bleibt, diese Krümel sind. Klar, sie gehören dazu. Aber so schlimm sind sie ja auch nicht.“

Kurios. Das ist der Moment, wo ich realisiere, dass wir total auf der gleichen Wellenlänge sind. Als wir zu Ende gegessen haben und der Aufbruch naht, stelle ich fest, dass ich die Frage aller Fragen noch nicht gestellt habe. Will sie mich wiedersehen? Ich bezahle, bringe ihr den Mantel und versuche meine Chancen aus ihrem Gesicht zu lesen. Sie lächelt mich an. Zum ersten Mal sehe ich die Silberkette, die sie die ganze Zeit um ihren Hals trug. An der Kette befindet sich ein Anhänger, der ein verliebtes Paar zeigt. Ein Zeichen? Ich hole tief Luft. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. 

„Ich muss dich wiedersehen.“, sage ich in dem Moment, als wir auf die Straße gehen.

„Wenn du das musst, dann müssen wir das wohl so machen.“

 „Soll ich dir schreiben?“

„Gerne, ich melde mich dann bei dir und bin beim nächsten Mal auf jeden Fall pünktlich.“

„Ich nehm dich beim Wort…und danke für den tollen Nachmittag.“

Mit einem Lächeln geht sie davon. Ich schaue ihr hinterher, wie sie die Straße entlangläuft und werde dieses Gefühl nicht los, das absolut Richtige getan zu haben. Ich drehe mich um und mache mich auf den Weg zur nächsten Busstation. Als ich die Mauer neben dem Café entlanggehe, bemerke ich, dass jemand die Worte „Der Tag gehört dir“ an die Wand gesprüht hat. Ich bleibe kurz stehen und genieße die herbstliche Luft. Dann richte ich meinen Hemdkragen, kuschel mich in meine dicke Jacke und beginne den Heimweg in Richtung Zukunft. Was auch immer die nächste Station sein wird, nur eines steht fest: Es wird großartig.


Donnerstag, 24. Dezember 2015

Vier Schichten - Teil II


Von Mr. Big

II

Johanna nimmt neben mir auf dem Sofa Platz. Etwas verlegen starten wir beide in die Konversation:

„Und wie geht’s dir?“

Oh man, was frage ich da eigentlich? Ihr geht es blendend. Sie ist charmant und intelligent. Ihr liegt die Welt zu Füßen.

„Gut, gut.“, antwortet sie.

„Hast du denn gut hergefunden?“

„Naja fast. Und bei dir?“

„Alles gut soweit.“

Die großen rhetorischen Ergüsse bleiben noch aus. Allerdings verschafft mir der Smalltalk etwas Zeit, mir gedanklich durch die Haare zu fahren. Sie ist einfach nur Wow. Lange, dunkelbraune Haare, braune, lebhafte Augen. Beine die sagen, hey, schau dir die Mal an. Um ihren Hals ist ein seidenes Tuch gespannt, das zum Rest farblich abgestimmt ist. Diese Frau hat eindeutig Stil. Während ich versuche, ein Götzenbild von ihr in meinen Neuronenspeicher zu brennen, platzt es plötzlich aus ihr heraus:

 „Es tut mir sooo leid, dass ich mich verspätet habe! Ich weiß auch nicht, was da heute los war. Ich bin rechtzeitig aufgebrochen, dann kam die Bahn ewig nicht, dann bin ich am Café vorbeigelaufen und musste einen Passanten nach dem Weg fragen…“

Ihre Entschuldigung ist wie Balsam für die Seele. Ich möchte mich in ihre Worte hineinsetzen und damit einreiben und…

„…deswegen war das mit der Hausarbeit so wichtig, weißt du?“

Moment, welche Hausarbeit, was habe ich verpasst?

„Ähm, öh, ähm…“

So ein Mist, einmal kurz nicht aufgepasst und schon den Anschluss verpasst. Okay, jetzt elegant das Thema wechseln, ohne zu gezwungen zu wirken. Ich schaue mich um…was ist in greifbarer Nähe …die Kerze, die Servietten…die Speisekarte! Mein Rettungsanker. Meine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte.

 „Alsoooo…weißt du schon, was du bestellen möchtest? Ich hab hier mal die…“

„Ich weiß es schon, ich nehme einen Chai Latte.“

Okay, soviel dazu. Noch immer schwebt das ominöse Thema Hausarbeit in der Luft und ich habe keine Ahnung, was ich darauf erwidern soll. Mein Blick erspäht die Theke, die jetzt auf wundersame Weise zu meinem knallroten Rettungsboot wird.

„Lust auf ein Stück Kuchen? Da vorne scheint es ein paar Stücke zu geben“

 „Klar, gerne.“

In der anfänglichen Hektik hat sie ganz vergessen ihren Schal abzunehmen. Ich sehe zu, wie ein glänzender Anhänger zum Vorschein kommt. Mir bleibt keine Zeit, genaue Details zu erfassen, denn wir sind schon auf dem Weg zu Theke.

 „Moin, was darf’s denn für EUCH sein?“ fragt sodann die Verkäuferin in perfekter Hamburger Mundart. Die bewusste Überbetonung des Wortes „Euch“ führt dazu, dass Johanna und ich uns verlegen anschauen und meine Haut förmlich akupunktiert wird von diesen Worten. Na toll, und in solch einer Situation sollst du als Mann eine Auswahl zu treffen. Ein kniffliges Unterfangen… viele Kuchen- und Tortenstücke…alles nicht wirklich etwas Besonderes. Es vergehen einige Sekunden der Ratlosigkeit, bis die Verkäuferin die Situation erkennt und eingreift.

„Wir haben auch noch ein ganz besonderes Stück auf Lager, das wird euch gefallen, einen Moment“

Sie verschwindet kurz ins Hinterzimmer und ein paar Sekunden später strahlt uns ein vierschichtiges Kuchenwunder von einem silbernen Tablett aus an. Schoko, Vanille, Blaubeere und Nuss. Damit kann man einfach nicht falsch liegen.

„Das nehmen wir“, sage ich, „und dazu noch zwei Gabeln, bitte!“

Zurück an unserem Platz sitzen wir uns erwartungsvoll gegenüber. Der Smalltalk ist vorbei. Jetzt wird der andere auf Herz und Nieren geprüft. Wer macht den ersten Zug? Ist es der Mann, der von Natur aus grobschlächtigere Geselle, unkultiviert und roh, wird er mit seiner Gabel die wundervoll angehäufte Verführung zerstören oder doch der Dame den ersten Zug überlassen? Ich suche ihren Blick. Sie bringt die Gabel in Position, geht ein Stück nach vorne und zögert dann kurz.

„Willst du zuerst, oder ich?“

Ha, die Falle habe ich kommen sehen.

„Nein, nimm du ruhig. Ladies first.“

Badaabum. Falle entschärft. Ich betrachte Johanna, wie sie mit ihrer Gabel den Kuchen aufrichtet, langsam, fast schon schüchtern in die erste Kuchenschicht eintaucht, dort kurz verweilt und dann die erste Schicht abtrennt.

„ Der ist sooo köstlich.“

„Das kann ich mir vorstellen. Ich teste mal die nächste Schicht.“

Während wir so vor uns hin essen und die Zeit genießen, denke ich über den Kuchen nach und seine vierschichtige Instanz, durch die ich Johanna kennenlerne. Wie Indiana Jones hangele ich mich durch Kuchen und Konversation und bringe dabei so einiges zum Vorschein.

In der ersten Schicht, der Schokolade, entdecke ich ihre Liebe für Süßes, für Weißwein und gute Musik. Etwas tiefer geht es in der zweiten Schicht. Hier bemerke ich Verspieltheit, Ehrlichkeit und Lebensfreude. Die dritte Schicht, die Blaubeeren, imponieren mir. Ihr kesses Auftreten lässt mich darauf schließen, dass ich lieber keine Spielchen mit ihr spielen sollte. In der finalen Schicht, der harten Nussschicht, ist es anders.


Diese letzte Kuchenschicht ist der eine Moment im Universum, den du selbst definieren kannst. Nichts ist festgelegt. Es gibt nur mich, sie und das Café. Die Gabel ist unser Stift, mit dem wir die ersten Zeilen unserer Geschichte schreiben. Der Teller sind die Seiten für das Meisterwerk. So fange ich an mit meiner Gabel die vermeintliche Zukunft zu skizzieren, anzudeuten, abzuwägen. Wir beginnen ein Kennenlernen auf Kuchenebene. Happen für Happen. Schnitt für Schnitt.

Fortsetzung folgt morgen...

Mittwoch, 23. Dezember 2015

Vier Schichten - Teil I


Von Mr. Big

I

Hamburg, Altona

Aufgeregt rücke ich meinen Kragen zurecht, ziehe lange Bahnen durch mein nagelneues, sorgsam gebügeltes Hemd. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, schlagen die Zeiger der Uhr auf meine Nerven ein und machen mich nervöser und nervöser. In einem Zustand zwischen Euphorie und Apathie, bemerke ich, dass meine Hände schweißnass sind. Was geht hier bloß vor? Ruhig bleiben, immer schön ein- und ausatmen, probiere ich mir einzureden. Ach was, zum Teufel mit ruhig bleiben. Ich bin ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch! In der Hoffnung einer kurzen nervlichen Verschnaufpause blicke ich aus dem Fenster und bewundere die wunderschöne Gasse, die sich dort auftut.

Draußen scheint die Zeit einen Sprung gemacht zu haben. Obwohl es laut Kalender noch Sommer ist, sind schon die ersten Anzeichen des Herbstes zu erkennen. Gelbe Blätter fliegen sanft durch die Luft, während ihre Brüder und Schwestern bereits ihre Plätze auf dem Kopfsteinpflaster eingenommen haben. Die frische Nachmittagsluft bringt so manche Passanten in Bedrängnis. Sie ziehen sich schildkrötengleich in ihre Jacken zurück.

Mein Blick fixiert wieder die schwarz-weiße Uhr, die lustlos über der Theke hängt. Ihr mechanisches Klicken ist unter den Nebengeräuschen nicht auszumachen, dennoch verursacht jede Bewegung des Zeigers, die ich mit ansehe, ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut. Beruhige dich, noch ist nichts passiert. Noch ist Zeit. Zeit, die Essenz unseres Lebens, das entscheidende Kalkül, welches Abschnitte in Momente und Momente in Zeitpunkte verwandelt, die sich unaufhörlich aneinander reiben. Winzige Mikrosekunden werden freigesetzt, bieten Platz für flüchtige Gedanken. Wie Körner in einer Sanduhr rieseln sie im Takt der Zeiger zu Boden.

Ich überprüfe meine Vitalwerte. Mein Verstand springt von Tisch zu Tisch zu Tisch, quer durch das Café. Ich fliege gedanklich durch den Raum, vorbei an Gästen, Personal, an Tellern voll mit Kuchen und Tassen voll mit Kaffee und bleibe vor mir selbst stehen. Wie ich wohl gerade wirke? Die lockigen Haare, akkurat zerzaust, schwingen sich leicht um beide Ohren. Die Frisur, ein geordnetes Chaos, der Drei-Tage-Bart, die stoppeligen Kotletten. Alles zusammengenommen ergibt das Bild eines typischen Singles.

Hier im Café LilliSu herrscht reger Betrieb. Von meinem Sofa aus kann ich die anderen Besucher beobachten, was großen Spaß macht. Doch je mehr ich nachdenke, desto weiter entferne ich mich aus dem Café, zurück in meine Traumzwischenwelt. Tausend Fragen schießen durch meinen Kopf. Was weißt du schon über sie? Hast du dich passend angezogen? Was studiert sie nochmal? Wird sie kommen? Warum habe ich dieses Café ausgesucht? Was sind ihre Hobbies? Wird sie kommen? Über was werden wir sprechen? Wie wird ihr erster Eindruck sein? Und vor allem: Wird sie kommen?

Nun ist sie schon fünf Minuten zu spät…kein Grund zur Sorge, aber ich spüre, dass jede Zelle meines Körpers in heller Aufregung ist. In mir drin veranstalten die Moleküle einen Kurzstreckensprint auf unbekannte Länge. Ich bin aus der Puste vom Sitzen, was rede ich da, vom Warten und auf die Uhr starren. Ich muss mich ablenken. Ich spüre, wie mein Herz an mein Hemd schlägt, das mittlerweile wie ein Neopren-Anzug an meiner Brust klebt.

Das Café beginnt sich bereits zu leeren. Bald werde ich allein im LilliSu sitzen. Ich beginne, langsamer zu werden. Zäh wie Brei fließt die Enttäuschung durch meine Adern. Das Zittern beginnt zu versiegen. Fünfzehn Minuten nach um 3. Ich bin sehr altmodisch, wenn es um bestimmte Regeln geht. Das akademische Viertel ist um. Sie kommt nicht mehr, beginnt eine Stimme in meinem Kopf zu sagen. Ich wehre mich mit aller Macht gegen die Gedanken.

„Ach was soll’s“ sage ich laut und greife meine Jacke. Ich bin gerade dabei, nach dem Türknauf zu greifen, als die Tür aufschwingt und Johanna das Café betritt. Von ihr geht eine Aura aus, die einmal quer durch den Raum wirbelt. Ich schmeiße die Jacke schnell zurück zum Sofa, versichere mich, dass der Kragen richtig sitzt und begrüße sie mit einem ehrlichen:

„Schön, dass du doch noch gekommen bist.“

Sie wirkt etwas aus der Puste, wirft mir aber ein nettes Lächeln zu, das fünfzehn Minuten nervlichen Terror restlos auslöscht.

„Ich wurde aufgehalten, aber ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Danke, dass du gewartet hast.“

Schon gut, du bist es ja nicht, die die Löcher in meinem Nervensystem nachher flicken muss. Aber vielleicht brauche ich das auch gar nicht. Meine nervliche Raserei wird zu einem innerlichen Blumenpflücken, wenn ich dich ansehe.

 „Wo sitzt du?“, fragt sie. „Gleich dort drüben, sage ich und zeige auf das alte, aber bequeme Sofa gleich in der Nähe. Der Ort ist unschwer zu übersehen, er ist der Einzige, wo eine Jacke quer über dem Tisch liegt.


Das Café besitzt seinen ganz eigenen Charme. Während auf unserer Seite des Raumes Massivholztische aufwarten, sind in der anderen Hälfte beigefarbene Tische und Stühle zu sehen. Diese duale Farbschema aus hell und dunkel zieht sich entlang der Wände bis zu der Regalreihe, in deren Abteilungen alles zu finden ist, von Reisetipps über aktuelle Tageszeitungen bis zu esoterischen Magazinen und Mitnehm-Postkarten. Am äußersten Ende führt ein kleiner Gang hinein in die Küche, rechts daneben thront die Theke mit ihrem Angebot. Die Kellnerinnen, die bereits drohten in den Winterschlaf zu fallen, sind wie reaktiviert. Johannas Erscheinen ist ihr persönliches Aktionszeichen. Plötzlich erwacht das verschlafene Café zum Leben. Die Theke füllt sich, eine Kerze wird angezündet und wie durch Zauberei materialisieren sich in Millisekunden zwei Speisekarten auf unserem Tisch.

Fortsetzung folgt morgen...