MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Donnerstag, 24. Dezember 2015

Vier Schichten - Teil II


Von Mr. Big

II

Johanna nimmt neben mir auf dem Sofa Platz. Etwas verlegen starten wir beide in die Konversation:

„Und wie geht’s dir?“

Oh man, was frage ich da eigentlich? Ihr geht es blendend. Sie ist charmant und intelligent. Ihr liegt die Welt zu Füßen.

„Gut, gut.“, antwortet sie.

„Hast du denn gut hergefunden?“

„Naja fast. Und bei dir?“

„Alles gut soweit.“

Die großen rhetorischen Ergüsse bleiben noch aus. Allerdings verschafft mir der Smalltalk etwas Zeit, mir gedanklich durch die Haare zu fahren. Sie ist einfach nur Wow. Lange, dunkelbraune Haare, braune, lebhafte Augen. Beine die sagen, hey, schau dir die Mal an. Um ihren Hals ist ein seidenes Tuch gespannt, das zum Rest farblich abgestimmt ist. Diese Frau hat eindeutig Stil. Während ich versuche, ein Götzenbild von ihr in meinen Neuronenspeicher zu brennen, platzt es plötzlich aus ihr heraus:

 „Es tut mir sooo leid, dass ich mich verspätet habe! Ich weiß auch nicht, was da heute los war. Ich bin rechtzeitig aufgebrochen, dann kam die Bahn ewig nicht, dann bin ich am Café vorbeigelaufen und musste einen Passanten nach dem Weg fragen…“

Ihre Entschuldigung ist wie Balsam für die Seele. Ich möchte mich in ihre Worte hineinsetzen und damit einreiben und…

„…deswegen war das mit der Hausarbeit so wichtig, weißt du?“

Moment, welche Hausarbeit, was habe ich verpasst?

„Ähm, öh, ähm…“

So ein Mist, einmal kurz nicht aufgepasst und schon den Anschluss verpasst. Okay, jetzt elegant das Thema wechseln, ohne zu gezwungen zu wirken. Ich schaue mich um…was ist in greifbarer Nähe …die Kerze, die Servietten…die Speisekarte! Mein Rettungsanker. Meine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte.

 „Alsoooo…weißt du schon, was du bestellen möchtest? Ich hab hier mal die…“

„Ich weiß es schon, ich nehme einen Chai Latte.“

Okay, soviel dazu. Noch immer schwebt das ominöse Thema Hausarbeit in der Luft und ich habe keine Ahnung, was ich darauf erwidern soll. Mein Blick erspäht die Theke, die jetzt auf wundersame Weise zu meinem knallroten Rettungsboot wird.

„Lust auf ein Stück Kuchen? Da vorne scheint es ein paar Stücke zu geben“

 „Klar, gerne.“

In der anfänglichen Hektik hat sie ganz vergessen ihren Schal abzunehmen. Ich sehe zu, wie ein glänzender Anhänger zum Vorschein kommt. Mir bleibt keine Zeit, genaue Details zu erfassen, denn wir sind schon auf dem Weg zu Theke.

 „Moin, was darf’s denn für EUCH sein?“ fragt sodann die Verkäuferin in perfekter Hamburger Mundart. Die bewusste Überbetonung des Wortes „Euch“ führt dazu, dass Johanna und ich uns verlegen anschauen und meine Haut förmlich akupunktiert wird von diesen Worten. Na toll, und in solch einer Situation sollst du als Mann eine Auswahl zu treffen. Ein kniffliges Unterfangen… viele Kuchen- und Tortenstücke…alles nicht wirklich etwas Besonderes. Es vergehen einige Sekunden der Ratlosigkeit, bis die Verkäuferin die Situation erkennt und eingreift.

„Wir haben auch noch ein ganz besonderes Stück auf Lager, das wird euch gefallen, einen Moment“

Sie verschwindet kurz ins Hinterzimmer und ein paar Sekunden später strahlt uns ein vierschichtiges Kuchenwunder von einem silbernen Tablett aus an. Schoko, Vanille, Blaubeere und Nuss. Damit kann man einfach nicht falsch liegen.

„Das nehmen wir“, sage ich, „und dazu noch zwei Gabeln, bitte!“

Zurück an unserem Platz sitzen wir uns erwartungsvoll gegenüber. Der Smalltalk ist vorbei. Jetzt wird der andere auf Herz und Nieren geprüft. Wer macht den ersten Zug? Ist es der Mann, der von Natur aus grobschlächtigere Geselle, unkultiviert und roh, wird er mit seiner Gabel die wundervoll angehäufte Verführung zerstören oder doch der Dame den ersten Zug überlassen? Ich suche ihren Blick. Sie bringt die Gabel in Position, geht ein Stück nach vorne und zögert dann kurz.

„Willst du zuerst, oder ich?“

Ha, die Falle habe ich kommen sehen.

„Nein, nimm du ruhig. Ladies first.“

Badaabum. Falle entschärft. Ich betrachte Johanna, wie sie mit ihrer Gabel den Kuchen aufrichtet, langsam, fast schon schüchtern in die erste Kuchenschicht eintaucht, dort kurz verweilt und dann die erste Schicht abtrennt.

„ Der ist sooo köstlich.“

„Das kann ich mir vorstellen. Ich teste mal die nächste Schicht.“

Während wir so vor uns hin essen und die Zeit genießen, denke ich über den Kuchen nach und seine vierschichtige Instanz, durch die ich Johanna kennenlerne. Wie Indiana Jones hangele ich mich durch Kuchen und Konversation und bringe dabei so einiges zum Vorschein.

In der ersten Schicht, der Schokolade, entdecke ich ihre Liebe für Süßes, für Weißwein und gute Musik. Etwas tiefer geht es in der zweiten Schicht. Hier bemerke ich Verspieltheit, Ehrlichkeit und Lebensfreude. Die dritte Schicht, die Blaubeeren, imponieren mir. Ihr kesses Auftreten lässt mich darauf schließen, dass ich lieber keine Spielchen mit ihr spielen sollte. In der finalen Schicht, der harten Nussschicht, ist es anders.


Diese letzte Kuchenschicht ist der eine Moment im Universum, den du selbst definieren kannst. Nichts ist festgelegt. Es gibt nur mich, sie und das Café. Die Gabel ist unser Stift, mit dem wir die ersten Zeilen unserer Geschichte schreiben. Der Teller sind die Seiten für das Meisterwerk. So fange ich an mit meiner Gabel die vermeintliche Zukunft zu skizzieren, anzudeuten, abzuwägen. Wir beginnen ein Kennenlernen auf Kuchenebene. Happen für Happen. Schnitt für Schnitt.

Fortsetzung folgt morgen...

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