Der Cube
Von Mr. Big
Anmerkung des Autors
Für alle, die nicht mehr
so genau Bescheid wissen, wie alles angefangen hat:
Die Episoden I und II gibt’s
zum Nachlesen unter dem Label „Jack’s Welt“ auf der linken Seite des Blog.
Jack
saß ziemlich genervt an seinem Schreibtisch und rollte einen Füllfederhalter in
der rechten Hand hin und her. Nach dem Treffen mit Jim war ihm nicht wirklich
besser zumute. Sein Freund war erstens keine große Hilfe gewesen und zweitens
unnatürlich abweisend gegenüber seinem Problem. Klar, pragmatisch wie Jim nun
mal ist, waren die Antworten, die er bekommen hatte, nun mal auch gewesen.
Dennoch war es seinem Freund nicht gelungen, dieses Gefühl in ihm zu zerstreuen,
dass irgendetwas nicht stimmte mit den Dönerhändlern.
Es
war noch früh am Nachmittag. Jack konnte nicht einfach weitermachen wie bisher.
An adäquate Ablenkung war auch nicht zu denken. Also dachte er weiter nach, was
er erlebt, gesehen, gefühlt hatte. Egal, was Jim auch sagte, er würde bestimmt
nicht einfach lockerlassen. Hinzu kam noch der Faktor Adrian. Auch wenn er zu
dem Dönerverkäufer in den Jahren seines exzessiven Konsums dieses Genussmittels
keine platonische Kumpelbeziehung aufgebaut hatte, war man doch gut Freund,
trank ab und zu mal einen Bier oder türkischen Schnaps (Raki) oder ging auch
mal nach der Arbeit weg. Oder aber man schaute im Club-Kebab-Laden Champions
League bzw. Türkische Superliga und feierte frenetisch bei jedem Sieg von Trabzonspor
gegen Galatasaray Istanbul.
Das
war nämlich das Coole an Adrian. Er war einfach ein lockerer Typ, mit dem Jack
über Gott (in Adrians Fall Allah) und die Welt philosophieren konnte und der
noch dazu absolut gutgläubig war. Bezogen auf diese Eigenschaft, war er ein
Anti-Jim im besten Sinne. Und das war hier durch und durch positiv gemeint! Wo es
mit Jim nicht viel zu tratschen und zu spekulieren gab, konnte Jack mit Adrian
ganze Verschwörungsszenarien und Intrigendrehbücher entwerfen.
Wenn
es zum Beispiel irgendwelche Gerüchte über Transfers von Spielern innerhalb der
türkischen Liga gab, dann wusste Adrian Bescheid. Eben jener Verteidiger
wechselte dann nur deshalb zu so einem Schund-Verein wie Rizespor, weil der
Freund seiner Schwester eine Affäre mit der Frau seines Trainers gehabt hatte.
Was für ein Frevel, was für eine Schande, besonders in der Türkei! Hinzu kam
aber auch, dass die Mutter des wechselwilligen Spielers wiederum Augen auf den
rechten Mittelfeldspieler seines Noch-Vereins geworfen hatte. Der saß momentan
auf der Ersatzbank und besaß deswegen viel zu viel Zeit zwischen den
Trainingseinheiten, die er in die innige Pflege von „Fanbeziehungen“ steckte,
und „stecken“ war wohl ein absolut
zutreffend gewähltes Verb für diese Art von Beschäftigung… Wie dem auch sei - Der
türkische Fußball ist eben verrückt, pflegte Adrian dann immer zu sagen. Und
Jack stimmte ihm zu, wobei er im gleichen Atemzug bestätigte, dass das in
Deutschland ebenso der Fall war.
Das
war meistens Auslöser von Teil 2 der allwöchentlichen Fußballdiskussion. Dann
kamen sie immer auf die Bundesliga zu sprechen und solche Themen wie: „Bayern München ist das beste Team der
Welt“ (Adrian), „Bayern München ist das Arschlochkind des deutschen Fußballs“
(Jack), „Ich finde ja immer noch Schalke sehr sympathisch“ (x-beliebiger Typ,
der sich in Gespräche einklinken muss, die ihn nichts angehen), „Ihr habt doch
alle einen an der Klatsche!“ (Jim)
Wenn
solche Gespräche mal wirklich ausuferten, führte Adrian ihm immer die totale
Dominanz der bayrischen Tormaschinerie vor Augen.
Jack
konterte dann bewusst mit dem einzigen Argument, das ihm noch blieb: Moral. Er berief
sich auf den heiligen Hoeneß, der ja quasi für alles stand, was Bayern München
verkörperte. Und der war bis zu Nasenspitze in finanzielle Machenschaften
verstrickt. Dann sah es plötzlich ganz schlecht aus für Adrian und seine
Argumente.
Nichtdestotrotz
mochten sich die beiden. Nun aber war da das folgende Problem: Der Chef von
Club-Kebab hatte ihm gesagt, dass Adrian „krank“ sei. Nur war der
Dönerverkäufer ein ziemlich fitter Geselle, machte regelmäßig Sport, ernährte
sich gesund, ja fast sogar vegetarisch und das, obwohl er den ganzen Tag von
Fleisch umgeben war! Des Weiteren achtete er mit Tai-Chi auf seelische
Ausgeglichenheit und verband das Ganze mit einer Prise ästhetischer Bildung,
sprich, er studierte Kunstwissenschaften.
Wenn
so einer, kerngesund bis in die letzte Pore, nun aber „krankgemeldet“ war,
wusste er, dass das nur eines zu bedeuten hatte: Adrian war feiern gewesen, und
zwar hart am Limit. Am nächsten Tag mit einem Kater hinter dem Dönertresen zu
stehen und Kunden anzupflaumen mit „Willste nun scharfe Soße oder nicht? Şeytan!“
(heißt übrigens soviel wie „zum Teufel“), kam für den Chef nicht in Frage.
Deswegen schickte er in solchen Fällen schnurstracks nach Hause.
Jacks
Blick fiel auf den Abreißkalender auf seinem Schreibtisch. Das Wort Donnerstag
strahlte mit dicken, schwarzen Lettern zurück. Es war zum Verzweifeln. Wieso
war der Dönerverkäufer nicht arbeiten? Mittwochs war nie Party in der Stadt.
Mittwoch war Bergfest, ja, aber auch Arbeitstag Nummer eins. Unter Jacks Jungs
hatte sich so etwas wie ein Gesetz gebildet, das besagte:
Wer
Montag flockig aus dem Wochenende kam, raffte sich Dienstag zu seiner üblichen Form
auf, arbeitete Mittwoch und Donnerstag wie ein Berserker und ließ den Freitag,
Freitag sein. Bis zum Abend zumindest, da war dann Party hart angesetzt.
Absoluter Exzess. Yolo, um es auf Neudeutsch auszudrücken. Den Samstag brachte
man dann noch irgendwie hinter sich und Sonntag war der Tag zum Auskurieren,
bis der Kreislauf wieder von neuem begann.
Ergo,
war hier etwas faul und zwar ganz gewaltig. Jack rätselte vor sich hin. Ihm kam
eine Idee. Er kramte sein Handy aus der Hosentasche, durchpflügte sein
Kontaktverzeichnis nach dem Letter A und wählte die Nummer des Dönerverkäufers.
Ein Klingeln erklang am anderen Ende. Einmal, zweimal, dann immer und immer
wieder, aber ohne Erfolg. Adrian ging nicht an sein Handy. Entweder - er war wirklich
richtig krank oder - er hatte keinen Bock über die Auswärtspleite von
Trabzonspor zu reden…
Enttäuscht
steckte er sein Handy wieder weg und vergrub das Gesicht in den Handflächen. Ungewissheit
war so schlimm! Am liebsten würde er gleich losziehen und alle seine Gedanken
zerstreuen, die ihm permanent durch den Kopf jagten.
Was
geht unter den Besitzern der Dönerläden vor sich? Wo ist Adrian? Gibt es eine
Mafia in dieser beschaulichen Stadt? Wird Trabzonspor seine letztjährige
Bestleistung überbieten können? Sollte er einfach noch einmal mit Jim reden?
Irgendwie bekam er Hunger auf Fleisch…am besten in Fladenbrot…aber bitte, das
war ja jetzt unpassend. Oder etwa nicht?
Ein Gedanke schlich durch Jacks Kopf
und setzte sich langsam in den Synapsenbahnen fest. Wenn er bloß einen Beweis
liefern könnte, dass er Recht hatte…dann würde Jim sicherlich nicht mehr so
daherreden, sondern den Ernst der Lage erkennen. Aber um an so einen Beweis zu
kommen, verlangte es nach einer großen Portion Fingerspitzengefühl, ein
bisschen Stealth-Action, gezieltes Zuschlagen und wieder verschwinden, am
besten ungesehen und unbemerkt. Was er brauchte, war einen Plan. Nur wo sollte
der so schnell herkommen??
Sein Kopf fiel auf die Tischplatte.
***
Auf
der anderen Seite der Stadt lief Jim gerade eine Allee entlang, die links und
rechts mit Kiefern gespickt war. Die Sonne hing gelassen über den
frühlingshaften Gutwetterwolken. Unter den Füßen breitete sich das
Kopfsteinpflaster in wendigen Bahnen aus und vergrub sich zu beiden Seiten in
Straßen, Gassen und Hinterhöfen. Eine industriell geprägte Atmosphäre schlich
über den Stadtteil, der vor allem Ministerien, Versicherungen und allgemein Plattenbauten
beherbergte.
„Oh
man, ich bin schon wieder auf den letzten Drücker. Hab ich auch alles dabei?
Ich hoffe es.“
Er
beschleunigte seinen Schritt und bog in eine schmale Gasse. Für einen
Augenblick wurde er eins mit dem Schatten der Fassaden. Als er hinaustrat,
hatte sich sein Aussehen merklich verändert. Ein neuer Mensch war da
aufgetaucht.
Anstatt
einer nichtssagenden, grauen Jacke trug er jetzt ein schwarzes Jackett und eine
Anzughose. Die kurzen, schwarzen Haare waren unter einem Borsalino-Hut verborgen,
dem gleichen Hut-Typ, dem auch Churchill und Al Capone die Ehre erwiesen hatten
und der sich in der Businesswelt immer noch großer Beliebtheit erfreute. Auf
der Nase prangte eine schwarze Sonnenbrille.
Und
was war da mit Jims Gehstil passiert? Gerade schlürfte er noch die Allee
herunter. Nun federte er auf feinen, ledernen Ausgehschuhen dahin.
„Showtime.“,
sagte er zu sich selbst und ein Grinsen umspielte seine Lippen. Warum den
Stress machen, wenn man sowieso weiß, dass alle auf einen warten? Ein paar
Minuten zu spät sein, gehört schließlich zum guten Ton, gerade, wenn man so
brisante Informationen im Gepäck hatte wie er.
Jim
trat hinaus in das weitläufige Gelände. Sonnenstrahlen fielen auf ihn herab und
prallten gegen die verspiegelten, pechschwarzen Gläser seiner Brille.
In
den grauen Weiten dieses Stadtteils gab es nur ein Gebäude, das wirklich von
Bedeutung war. Weder die Größe noch die Farbe oder der Baustil ließen auf die
Wichtigkeit schließen, die hinter den schwarzen, gekachelten Wänden verborgen
lag.
Jim
lief darauf zu.
Jeder
Ahnungslose würde einfach denken, es handelte sich um das, wonach es aussah.
Ein riesiges Archiv in Würfelform. Doch, wie sein Kumpel Jack manchmal zu sagen
pflegte, hinter den Kulissen spielt die eigentliche Musik.
Er
stand vor der schwarzen, gleichförmigen Fläche und nahm langsam die Brille ab.
Es war genau hier. Das Schloss. Seine Hände begannen kontrolliert und
zielstrebig nach den Fugen zwischen den Kacheln zu tasten. Erst kratzten sie an
der Oberfläche, dann drangen sie tiefer vor, fanden den Hohlraum dahinter. Jim
holte ein winziges, haarnadelgroßes Objekt aus seiner Jackentasche. Der kleine,
schlangenförmige Schlüssel lag jetzt in seiner Hand. Er atmete tief durch und
steckte ihn in die Fuge.
Im
nächsten Moment glitten die Kacheln auseinander und gaben den dahinterliegenden
Korridor frei. Jim atme tief durch und schlüpfte ins Innere.
Die
Tür schloss sich wieder. Dunkelheit überwältigte ihn. Für einen Moment vergaß
er alles um sich herum und ergab sich der totalen Finsternis des Raumes. Aber
irgendetwas war merkwürdig. Er spürte, dass er nicht allein war.
„Du
bist spät dran.“
Ein
leichter Schreck durchfuhr seinen Körper. Eine Sekunde später erlangte er seine
Coolness zurück.
„Das
Beste kommt zum Schluss.“
„Warum
hat das so lange gedauert?“
Die
Stimme war unerbittlich.
„Wir
haben viel geredet. Ich habe viel erfahren.“
„Du
musst umgehend Bericht erstatten.“
„Nur
mit der Ruhe, lass mich doch erstmal ankommen!“, entgegnete Jim forsch.
Jemand
machte das Licht an.
Seine
Augen verengten sich zu Schlitzen.
Ein blondes Geschöpf tauchte vor ihm auf.
Chloe wischte sich hastig eine Strähne
aus dem Gesicht. Sie war überhaupt nicht begeistert von dem großspurigen Gehabe
ihres Kollegen. Schon wieder über eine Viertelstunde zu spät, ein Novum für
einen Agenten! Doch was Jim an Pünktlichkeit fehlte, machte er durch andere
Fähigkeiten wieder wett. Sonst würde er auch nicht hier sein. Und Recht hatte
sie damit. Um in den Cube zu gelangen, brauchte es schon mehr als reinen Gehirnschmalz,
Sportlichkeit und Integrität. Übermenschliche Auffassungsgabe machte den
Unterschied. Die Teilnehmer des Projektes wurden nicht berufen, sie wurden
auserwählt. Wer hineinwollte, kam noch lange nicht hinein. Wer aber schon
ahnte, auf dem Gebiet eine besondere Gabe zu haben, der kam früher oder später
hierher.
Von
außen war das alles nur ein schwarzer Würfel. Die Illusion, die zum Schutz
diente, bis man lernte: Illusion ist alles. Niemand hätte es für möglich
gehalten, so ein Gebäude unbemerkt in diesem Stadtgebiet zu errichten. Und doch
war es geschehen. Vor den Augen aller Leute war eine Hightech-Spionagezentrale
entstanden und niemand hatte davon Wind bekommen.
Von
den wenigen privilegierten Teilnehmern standen zwei sich in diesem Moment gegenüber
und taxierten einander mit aller Eindringlichkeit, die die Regeln menschlichen
Blickaustausches so hergaben.
„Er
ahnt etwas.“
„Wer,
dein Freund Jack?“
„Ja,
er hat etwas mitbekommen. Das könnte die ganze Operation gefährden. Ich habe
probiert es ihm auszureden, aber ich bin mir nicht sicher, ob es mir auch
gelungen ist. Immerhin hat er eine blühende Fantasie, das habe ich ihm auch
gesagt. Doch wenn er sich etwas in den Kopf setzt, ist er nur schwer wieder
davon abzubringen.“
„Wir
müssen ihn im Auge behalten. Die Operation geht vor.“
„Natürlich.
Das werde ich tun. Ich habe ja auch den besten Draht zu ihm.“
„Er
ist dein Freund. Jetzt musst du aber umdenken und ihn als Subjekt wahrnehmen.“
„Das
eine schließt das andere nicht aus, meine Liebe.“
„Naja,
es ist schon öfter schiefgegangen, wenn man Privates mit Beruflichem
vermischt.“
„Ich
will ja nicht mit ihm schlafen, Chloe. Keine Sorge, er wird mich schon nicht
verführen.“
Jim
zog eine Grimasse.
„Du
bist ein Idiot.“
„Stimmt
nicht, sonst wär ich ja nicht hier.“ Diese Gespräche gingen ihr so auf die
Nerven. Sie seufzte.
„Einer
schlüpft immer durchs Netz. Da macht der Cube keine Ausnahme.“
„Das
war jetzt aber gemein. Du hast wirklich ernsthaft meine Gefühle verletzt.“,
befand Jim auf ironische Weise.
„Halt
die Klappe.“
„So
böse Worte aus so einem süßen Mund.“
„Jim,
du kannst mich mal.“, sagte Chloe, aber ein Lächeln umspielte dabei ihre Lippen.
Verflixt und zugenäht, sie konnte einfach nicht böse auf ihn sein.
„…ich
würde ja näher auf dein Angebot eingehen, aber leider habe ich zu tun. Wie du
schon sagtest, ich muss Bericht erstatten und bin spät dran. Also auf zum
Kingpin. Willst du mich begleiten?“
„Hab
ich eine Wahl? Ist ja auch meine Operation.“
„Man
hat immer eine Wahl, das weißt du.“
Dann
begaben sie sich ins Innere des Cube.