MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Freitag, 21. Februar 2014

Jack's Welt - Episode III






Der Cube


Von Mr. Big



Anmerkung des Autors


Für alle, die nicht mehr so genau Bescheid wissen, wie alles angefangen hat:
Die Episoden I und II gibt’s zum Nachlesen unter dem Label „Jack’s Welt“ auf der linken Seite des Blog.



Jack saß ziemlich genervt an seinem Schreibtisch und rollte einen Füllfederhalter in der rechten Hand hin und her. Nach dem Treffen mit Jim war ihm nicht wirklich besser zumute. Sein Freund war erstens keine große Hilfe gewesen und zweitens unnatürlich abweisend gegenüber seinem Problem. Klar, pragmatisch wie Jim nun mal ist, waren die Antworten, die er bekommen hatte, nun mal auch gewesen. Dennoch war es seinem Freund nicht gelungen, dieses Gefühl in ihm zu zerstreuen, dass irgendetwas nicht stimmte mit den Dönerhändlern.

Es war noch früh am Nachmittag. Jack konnte nicht einfach weitermachen wie bisher. An adäquate Ablenkung war auch nicht zu denken. Also dachte er weiter nach, was er erlebt, gesehen, gefühlt hatte. Egal, was Jim auch sagte, er würde bestimmt nicht einfach lockerlassen. Hinzu kam noch der Faktor Adrian. Auch wenn er zu dem Dönerverkäufer in den Jahren seines exzessiven Konsums dieses Genussmittels keine platonische Kumpelbeziehung aufgebaut hatte, war man doch gut Freund, trank ab und zu mal einen Bier oder türkischen Schnaps (Raki) oder ging auch mal nach der Arbeit weg. Oder aber man schaute im Club-Kebab-Laden Champions League bzw. Türkische Superliga und feierte frenetisch bei jedem Sieg von Trabzonspor gegen Galatasaray Istanbul. 

Das war nämlich das Coole an Adrian. Er war einfach ein lockerer Typ, mit dem Jack über Gott (in Adrians Fall Allah) und die Welt philosophieren konnte und der noch dazu absolut gutgläubig war. Bezogen auf diese Eigenschaft, war er ein Anti-Jim im besten Sinne. Und das war hier durch und durch positiv gemeint! Wo es mit Jim nicht viel zu tratschen und zu spekulieren gab, konnte Jack mit Adrian ganze Verschwörungsszenarien und Intrigendrehbücher entwerfen.

Wenn es zum Beispiel irgendwelche Gerüchte über Transfers von Spielern innerhalb der türkischen Liga gab, dann wusste Adrian Bescheid. Eben jener Verteidiger wechselte dann nur deshalb zu so einem Schund-Verein wie Rizespor, weil der Freund seiner Schwester eine Affäre mit der Frau seines Trainers gehabt hatte. Was für ein Frevel, was für eine Schande, besonders in der Türkei! Hinzu kam aber auch, dass die Mutter des wechselwilligen Spielers wiederum Augen auf den rechten Mittelfeldspieler seines Noch-Vereins geworfen hatte. Der saß momentan auf der Ersatzbank und besaß deswegen viel zu viel Zeit zwischen den Trainingseinheiten, die er in die innige Pflege von „Fanbeziehungen“ steckte, und „stecken“  war wohl ein absolut zutreffend gewähltes Verb für diese Art von Beschäftigung… Wie dem auch sei - Der türkische Fußball ist eben verrückt, pflegte Adrian dann immer zu sagen. Und Jack stimmte ihm zu, wobei er im gleichen Atemzug bestätigte, dass das in Deutschland ebenso der Fall war.

Das war meistens Auslöser von Teil 2 der allwöchentlichen Fußballdiskussion. Dann kamen sie immer auf die Bundesliga zu sprechen und solche Themen  wie: „Bayern München ist das beste Team der Welt“ (Adrian), „Bayern München ist das Arschlochkind des deutschen Fußballs“ (Jack), „Ich finde ja immer noch Schalke sehr sympathisch“ (x-beliebiger Typ, der sich in Gespräche einklinken muss, die ihn nichts angehen), „Ihr habt doch alle einen an der Klatsche!“ (Jim)

Wenn solche Gespräche mal wirklich ausuferten, führte Adrian ihm immer die totale Dominanz der bayrischen Tormaschinerie vor Augen.

Jack konterte dann bewusst mit dem einzigen Argument, das ihm noch blieb: Moral. Er berief sich auf den heiligen Hoeneß, der ja quasi für alles stand, was Bayern München verkörperte. Und der war bis zu Nasenspitze in finanzielle Machenschaften verstrickt. Dann sah es plötzlich ganz schlecht aus für Adrian und seine Argumente.

Nichtdestotrotz mochten sich die beiden. Nun aber war da das folgende Problem: Der Chef von Club-Kebab hatte ihm gesagt, dass Adrian „krank“ sei. Nur war der Dönerverkäufer ein ziemlich fitter Geselle, machte regelmäßig Sport, ernährte sich gesund, ja fast sogar vegetarisch und das, obwohl er den ganzen Tag von Fleisch umgeben war! Des Weiteren achtete er mit Tai-Chi auf seelische Ausgeglichenheit und verband das Ganze mit einer Prise ästhetischer Bildung, sprich, er studierte Kunstwissenschaften.

Wenn so einer, kerngesund bis in die letzte Pore, nun aber „krankgemeldet“ war, wusste er, dass das nur eines zu bedeuten hatte: Adrian war feiern gewesen, und zwar hart am Limit. Am nächsten Tag mit einem Kater hinter dem Dönertresen zu stehen und Kunden anzupflaumen mit „Willste nun scharfe Soße oder nicht? Şeytan!“ (heißt übrigens soviel wie „zum Teufel“), kam für den Chef nicht in Frage. Deswegen schickte er in solchen Fällen schnurstracks nach Hause. 

Jacks Blick fiel auf den Abreißkalender auf seinem Schreibtisch. Das Wort Donnerstag strahlte mit dicken, schwarzen Lettern zurück. Es war zum Verzweifeln. Wieso war der Dönerverkäufer nicht arbeiten? Mittwochs war nie Party in der Stadt. Mittwoch war Bergfest, ja, aber auch Arbeitstag Nummer eins. Unter Jacks Jungs hatte sich so etwas wie ein Gesetz gebildet, das besagte:

Wer Montag flockig aus dem Wochenende kam, raffte sich Dienstag zu seiner üblichen Form auf, arbeitete Mittwoch und Donnerstag wie ein Berserker und ließ den Freitag, Freitag sein. Bis zum Abend zumindest, da war dann Party hart angesetzt. Absoluter Exzess. Yolo, um es auf Neudeutsch auszudrücken. Den Samstag brachte man dann noch irgendwie hinter sich und Sonntag war der Tag zum Auskurieren, bis der Kreislauf wieder von neuem begann.

Ergo, war hier etwas faul und zwar ganz gewaltig. Jack rätselte vor sich hin. Ihm kam eine Idee. Er kramte sein Handy aus der Hosentasche, durchpflügte sein Kontaktverzeichnis nach dem Letter A und wählte die Nummer des Dönerverkäufers. Ein Klingeln erklang am anderen Ende. Einmal, zweimal, dann immer und immer wieder, aber ohne Erfolg. Adrian ging nicht an sein Handy. Entweder - er war wirklich richtig krank oder - er hatte keinen Bock über die Auswärtspleite von Trabzonspor zu reden…

Enttäuscht steckte er sein Handy wieder weg und vergrub das Gesicht in den Handflächen. Ungewissheit war so schlimm! Am liebsten würde er gleich losziehen und alle seine Gedanken zerstreuen, die ihm permanent durch den Kopf jagten.

Was geht unter den Besitzern der Dönerläden vor sich? Wo ist Adrian? Gibt es eine Mafia in dieser beschaulichen Stadt? Wird Trabzonspor seine letztjährige Bestleistung überbieten können? Sollte er einfach noch einmal mit Jim reden? Irgendwie bekam er Hunger auf Fleisch…am besten in Fladenbrot…aber bitte, das war ja jetzt unpassend. Oder etwa nicht?

Ein Gedanke schlich durch Jacks Kopf und setzte sich langsam in den Synapsenbahnen fest. Wenn er bloß einen Beweis liefern könnte, dass er Recht hatte…dann würde Jim sicherlich nicht mehr so daherreden, sondern den Ernst der Lage erkennen. Aber um an so einen Beweis zu kommen, verlangte es nach einer großen Portion Fingerspitzengefühl, ein bisschen Stealth-Action, gezieltes Zuschlagen und wieder verschwinden, am besten ungesehen und unbemerkt. Was er brauchte, war einen Plan. Nur wo sollte der so schnell herkommen?? 

Sein Kopf fiel auf die Tischplatte. 

 ***



Auf der anderen Seite der Stadt lief Jim gerade eine Allee entlang, die links und rechts mit Kiefern gespickt war. Die Sonne hing gelassen über den frühlingshaften Gutwetterwolken. Unter den Füßen breitete sich das Kopfsteinpflaster in wendigen Bahnen aus und vergrub sich zu beiden Seiten in Straßen, Gassen und Hinterhöfen. Eine industriell geprägte Atmosphäre schlich über den Stadtteil, der vor allem Ministerien, Versicherungen und allgemein Plattenbauten beherbergte.

„Oh man, ich bin schon wieder auf den letzten Drücker. Hab ich auch alles dabei? Ich hoffe es.“ 

Er beschleunigte seinen Schritt und bog in eine schmale Gasse. Für einen Augenblick wurde er eins mit dem Schatten der Fassaden. Als er hinaustrat, hatte sich sein Aussehen merklich verändert. Ein neuer Mensch war da aufgetaucht. 

Anstatt einer nichtssagenden, grauen Jacke trug er jetzt ein schwarzes Jackett und eine Anzughose. Die kurzen, schwarzen Haare waren unter einem Borsalino-Hut verborgen, dem gleichen Hut-Typ, dem auch Churchill und Al Capone die Ehre erwiesen hatten und der sich in der Businesswelt immer noch großer Beliebtheit erfreute. Auf der Nase prangte eine schwarze Sonnenbrille.

Und was war da mit Jims Gehstil passiert? Gerade schlürfte er noch die Allee herunter. Nun federte er auf feinen, ledernen Ausgehschuhen dahin.

„Showtime.“, sagte er zu sich selbst und ein Grinsen umspielte seine Lippen. Warum den Stress machen, wenn man sowieso weiß, dass alle auf einen warten? Ein paar Minuten zu spät sein, gehört schließlich zum guten Ton, gerade, wenn man so brisante Informationen im Gepäck hatte wie er.

Jim trat hinaus in das weitläufige Gelände. Sonnenstrahlen fielen auf ihn herab und prallten gegen die verspiegelten, pechschwarzen Gläser seiner Brille.

In den grauen Weiten dieses Stadtteils gab es nur ein Gebäude, das wirklich von Bedeutung war. Weder die Größe noch die Farbe oder der Baustil ließen auf die Wichtigkeit schließen, die hinter den schwarzen, gekachelten Wänden verborgen lag.

Jim lief darauf zu.

Jeder Ahnungslose würde einfach denken, es handelte sich um das, wonach es aussah. Ein riesiges Archiv in Würfelform. Doch, wie sein Kumpel Jack manchmal zu sagen pflegte, hinter den Kulissen spielt die eigentliche Musik.  

Er stand vor der schwarzen, gleichförmigen Fläche und nahm langsam die Brille ab. Es war genau hier. Das Schloss. Seine Hände begannen kontrolliert und zielstrebig nach den Fugen zwischen den Kacheln zu tasten. Erst kratzten sie an der Oberfläche, dann drangen sie tiefer vor, fanden den Hohlraum dahinter. Jim holte ein winziges, haarnadelgroßes Objekt aus seiner Jackentasche. Der kleine, schlangenförmige Schlüssel lag jetzt in seiner Hand. Er atmete tief durch und steckte ihn in die Fuge. 

Im nächsten Moment glitten die Kacheln auseinander und gaben den dahinterliegenden Korridor frei. Jim atme tief durch und schlüpfte ins Innere.

Die Tür schloss sich wieder. Dunkelheit überwältigte ihn. Für einen Moment vergaß er alles um sich herum und ergab sich der totalen Finsternis des Raumes. Aber irgendetwas war merkwürdig. Er spürte, dass er nicht allein war. 

„Du bist spät dran.“ 

Ein leichter Schreck durchfuhr seinen Körper. Eine Sekunde später erlangte er seine Coolness zurück.

„Das Beste kommt zum Schluss.“
„Warum hat das so lange gedauert?“
Die Stimme war unerbittlich.
„Wir haben viel geredet. Ich habe viel erfahren.“
„Du musst umgehend Bericht erstatten.“
„Nur mit der Ruhe, lass mich doch erstmal ankommen!“, entgegnete Jim forsch.


Jemand machte das Licht an.
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.  
Ein blondes Geschöpf tauchte vor ihm auf.


Chloe wischte sich hastig eine Strähne aus dem Gesicht. Sie war überhaupt nicht begeistert von dem großspurigen Gehabe ihres Kollegen. Schon wieder über eine Viertelstunde zu spät, ein Novum für einen Agenten! Doch was Jim an Pünktlichkeit fehlte, machte er durch andere Fähigkeiten wieder wett. Sonst würde er auch nicht hier sein. Und Recht hatte sie damit. Um in den Cube zu gelangen, brauchte es schon mehr als reinen Gehirnschmalz, Sportlichkeit und Integrität. Übermenschliche Auffassungsgabe machte den Unterschied. Die Teilnehmer des Projektes wurden nicht berufen, sie wurden auserwählt. Wer hineinwollte, kam noch lange nicht hinein. Wer aber schon ahnte, auf dem Gebiet eine besondere Gabe zu haben, der kam früher oder später hierher. 

Von außen war das alles nur ein schwarzer Würfel. Die Illusion, die zum Schutz diente, bis man lernte: Illusion ist alles. Niemand hätte es für möglich gehalten, so ein Gebäude unbemerkt in diesem Stadtgebiet zu errichten. Und doch war es geschehen. Vor den Augen aller Leute war eine Hightech-Spionagezentrale entstanden und niemand hatte davon Wind bekommen.

Von den wenigen privilegierten Teilnehmern standen zwei sich in diesem Moment gegenüber und taxierten einander mit aller Eindringlichkeit, die die Regeln menschlichen Blickaustausches so hergaben.

„Er ahnt etwas.“
„Wer, dein Freund Jack?“
„Ja, er hat etwas mitbekommen. Das könnte die ganze Operation gefährden. Ich habe probiert es ihm auszureden, aber ich bin mir nicht sicher, ob es mir auch gelungen ist. Immerhin hat er eine blühende Fantasie, das habe ich ihm auch gesagt. Doch wenn er sich etwas in den Kopf setzt, ist er nur schwer wieder davon abzubringen.“
„Wir müssen ihn im Auge behalten. Die Operation geht vor.“
„Natürlich. Das werde ich tun. Ich habe ja auch den besten Draht  zu ihm.“
„Er ist dein Freund. Jetzt musst du aber umdenken und ihn als Subjekt wahrnehmen.“
„Das eine schließt das andere nicht aus, meine Liebe.“
„Naja, es ist schon öfter schiefgegangen, wenn man Privates mit Beruflichem vermischt.“
„Ich will ja nicht mit ihm schlafen, Chloe. Keine Sorge, er wird mich schon nicht verführen.“
Jim zog eine Grimasse.
„Du bist ein Idiot.“
„Stimmt nicht, sonst wär ich ja nicht hier.“ Diese Gespräche gingen ihr so auf die Nerven. Sie seufzte.
„Einer schlüpft immer durchs Netz. Da macht der Cube keine Ausnahme.“
„Das war jetzt aber gemein. Du hast wirklich ernsthaft meine Gefühle verletzt.“, befand Jim auf ironische Weise.
„Halt die Klappe.“
„So böse Worte aus so einem süßen Mund.“
„Jim, du kannst mich mal.“, sagte Chloe, aber ein Lächeln umspielte dabei ihre Lippen. Verflixt und zugenäht, sie konnte einfach nicht böse auf ihn sein.
„…ich würde ja näher auf dein Angebot eingehen, aber leider habe ich zu tun. Wie du schon sagtest, ich muss Bericht erstatten und bin spät dran. Also auf zum Kingpin. Willst du mich begleiten?“
„Hab ich eine Wahl? Ist ja auch meine Operation.“
„Man hat immer eine Wahl, das weißt du.“

Dann begaben sie sich ins Innere des Cube.