Von Mr. Big
I
Hamburg,
Altona
Aufgeregt rücke ich meinen Kragen
zurecht, ziehe lange Bahnen durch mein nagelneues, sorgsam gebügeltes Hemd. Mit
jeder Sekunde, die verstreicht, schlagen die Zeiger der Uhr auf meine Nerven
ein und machen mich nervöser und nervöser. In einem Zustand zwischen Euphorie
und Apathie, bemerke ich, dass meine Hände schweißnass sind. Was geht hier bloß
vor? Ruhig bleiben, immer schön ein- und ausatmen, probiere ich mir einzureden.
Ach was, zum Teufel mit ruhig bleiben. Ich bin ein Vulkan kurz vor dem
Ausbruch! In der Hoffnung einer kurzen nervlichen Verschnaufpause blicke ich
aus dem Fenster und bewundere die wunderschöne Gasse, die sich dort auftut.
Draußen scheint die Zeit einen Sprung
gemacht zu haben. Obwohl es laut Kalender noch Sommer ist, sind schon die
ersten Anzeichen des Herbstes zu erkennen. Gelbe Blätter fliegen sanft durch
die Luft, während ihre Brüder und Schwestern bereits ihre Plätze auf dem Kopfsteinpflaster
eingenommen haben. Die frische Nachmittagsluft bringt so manche Passanten in
Bedrängnis. Sie ziehen sich schildkrötengleich in ihre Jacken zurück.
Mein Blick fixiert wieder die
schwarz-weiße Uhr, die lustlos über der Theke hängt. Ihr mechanisches Klicken
ist unter den Nebengeräuschen nicht auszumachen, dennoch verursacht jede
Bewegung des Zeigers, die ich mit ansehe, ein leichtes Kribbeln auf meiner
Haut. Beruhige dich, noch ist nichts passiert. Noch ist Zeit. Zeit, die Essenz
unseres Lebens, das entscheidende Kalkül, welches Abschnitte in Momente und Momente
in Zeitpunkte verwandelt, die sich unaufhörlich aneinander reiben. Winzige
Mikrosekunden werden freigesetzt, bieten Platz für flüchtige Gedanken. Wie
Körner in einer Sanduhr rieseln sie im Takt der Zeiger zu Boden.
Ich überprüfe meine Vitalwerte. Mein
Verstand springt von Tisch zu Tisch zu Tisch, quer durch das Café. Ich fliege
gedanklich durch den Raum, vorbei an Gästen, Personal, an Tellern voll mit
Kuchen und Tassen voll mit Kaffee und bleibe vor mir selbst stehen. Wie ich
wohl gerade wirke? Die lockigen Haare, akkurat zerzaust, schwingen sich leicht
um beide Ohren. Die Frisur, ein geordnetes Chaos, der Drei-Tage-Bart, die
stoppeligen Kotletten. Alles zusammengenommen ergibt das Bild eines typischen
Singles.
Hier im Café LilliSu herrscht reger
Betrieb. Von meinem Sofa aus kann ich die anderen Besucher beobachten, was
großen Spaß macht. Doch je mehr ich nachdenke, desto weiter entferne ich mich
aus dem Café, zurück in meine Traumzwischenwelt. Tausend Fragen schießen durch
meinen Kopf. Was weißt du schon über sie? Hast du dich passend angezogen? Was
studiert sie nochmal? Wird sie kommen? Warum habe ich dieses Café ausgesucht?
Was sind ihre Hobbies? Wird sie kommen? Über was werden wir sprechen? Wie wird
ihr erster Eindruck sein? Und vor allem: Wird sie kommen?
Nun ist sie schon fünf Minuten zu
spät…kein Grund zur Sorge, aber ich spüre, dass jede Zelle meines Körpers in
heller Aufregung ist. In mir drin veranstalten die Moleküle einen
Kurzstreckensprint auf unbekannte Länge. Ich bin aus der Puste vom Sitzen, was
rede ich da, vom Warten und auf die Uhr starren. Ich muss mich ablenken. Ich
spüre, wie mein Herz an mein Hemd schlägt, das mittlerweile wie ein
Neopren-Anzug an meiner Brust klebt.
Das Café beginnt sich bereits zu
leeren. Bald werde ich allein im LilliSu sitzen. Ich beginne, langsamer zu
werden. Zäh wie Brei fließt die Enttäuschung durch meine Adern. Das Zittern
beginnt zu versiegen. Fünfzehn Minuten nach um 3. Ich bin sehr altmodisch, wenn
es um bestimmte Regeln geht. Das akademische Viertel ist um. Sie kommt nicht
mehr, beginnt eine Stimme in meinem Kopf zu sagen. Ich wehre mich mit aller
Macht gegen die Gedanken.
„Ach was soll’s“ sage ich laut und
greife meine Jacke. Ich bin gerade dabei, nach dem Türknauf zu greifen, als die
Tür aufschwingt und Johanna das Café betritt. Von ihr geht eine Aura aus, die
einmal quer durch den Raum wirbelt. Ich schmeiße die Jacke schnell zurück zum
Sofa, versichere mich, dass der Kragen richtig sitzt und begrüße sie mit einem
ehrlichen:
„Schön, dass du doch noch gekommen
bist.“
Sie wirkt etwas aus der Puste, wirft
mir aber ein nettes Lächeln zu, das fünfzehn Minuten nervlichen Terror restlos
auslöscht.
„Ich wurde aufgehalten, aber ich bin
so schnell gekommen, wie ich konnte. Danke, dass du gewartet hast.“
Schon gut, du bist es ja nicht, die
die Löcher in meinem Nervensystem nachher flicken muss. Aber vielleicht brauche
ich das auch gar nicht. Meine nervliche Raserei wird zu einem innerlichen
Blumenpflücken, wenn ich dich ansehe.
„Wo sitzt du?“, fragt sie. „Gleich dort
drüben, sage ich und zeige auf das alte, aber bequeme Sofa gleich in der Nähe.
Der Ort ist unschwer zu übersehen, er ist der Einzige, wo eine Jacke quer über
dem Tisch liegt.
Das Café besitzt seinen ganz eigenen
Charme. Während auf unserer Seite des Raumes Massivholztische aufwarten, sind
in der anderen Hälfte beigefarbene Tische und Stühle zu sehen. Diese duale
Farbschema aus hell und dunkel zieht sich entlang der Wände bis zu der
Regalreihe, in deren Abteilungen alles zu finden ist, von Reisetipps über
aktuelle Tageszeitungen bis zu esoterischen Magazinen und Mitnehm-Postkarten.
Am äußersten Ende führt ein kleiner Gang hinein in die Küche, rechts daneben
thront die Theke mit ihrem Angebot. Die Kellnerinnen, die bereits drohten in
den Winterschlaf zu fallen, sind wie reaktiviert. Johannas Erscheinen ist ihr
persönliches Aktionszeichen. Plötzlich erwacht das verschlafene Café zum Leben.
Die Theke füllt sich, eine Kerze wird angezündet und wie durch Zauberei
materialisieren sich in Millisekunden zwei Speisekarten auf unserem Tisch.
Fortsetzung folgt morgen...
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