MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Mittwoch, 23. Dezember 2015

Vier Schichten - Teil I


Von Mr. Big

I

Hamburg, Altona

Aufgeregt rücke ich meinen Kragen zurecht, ziehe lange Bahnen durch mein nagelneues, sorgsam gebügeltes Hemd. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, schlagen die Zeiger der Uhr auf meine Nerven ein und machen mich nervöser und nervöser. In einem Zustand zwischen Euphorie und Apathie, bemerke ich, dass meine Hände schweißnass sind. Was geht hier bloß vor? Ruhig bleiben, immer schön ein- und ausatmen, probiere ich mir einzureden. Ach was, zum Teufel mit ruhig bleiben. Ich bin ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch! In der Hoffnung einer kurzen nervlichen Verschnaufpause blicke ich aus dem Fenster und bewundere die wunderschöne Gasse, die sich dort auftut.

Draußen scheint die Zeit einen Sprung gemacht zu haben. Obwohl es laut Kalender noch Sommer ist, sind schon die ersten Anzeichen des Herbstes zu erkennen. Gelbe Blätter fliegen sanft durch die Luft, während ihre Brüder und Schwestern bereits ihre Plätze auf dem Kopfsteinpflaster eingenommen haben. Die frische Nachmittagsluft bringt so manche Passanten in Bedrängnis. Sie ziehen sich schildkrötengleich in ihre Jacken zurück.

Mein Blick fixiert wieder die schwarz-weiße Uhr, die lustlos über der Theke hängt. Ihr mechanisches Klicken ist unter den Nebengeräuschen nicht auszumachen, dennoch verursacht jede Bewegung des Zeigers, die ich mit ansehe, ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut. Beruhige dich, noch ist nichts passiert. Noch ist Zeit. Zeit, die Essenz unseres Lebens, das entscheidende Kalkül, welches Abschnitte in Momente und Momente in Zeitpunkte verwandelt, die sich unaufhörlich aneinander reiben. Winzige Mikrosekunden werden freigesetzt, bieten Platz für flüchtige Gedanken. Wie Körner in einer Sanduhr rieseln sie im Takt der Zeiger zu Boden.

Ich überprüfe meine Vitalwerte. Mein Verstand springt von Tisch zu Tisch zu Tisch, quer durch das Café. Ich fliege gedanklich durch den Raum, vorbei an Gästen, Personal, an Tellern voll mit Kuchen und Tassen voll mit Kaffee und bleibe vor mir selbst stehen. Wie ich wohl gerade wirke? Die lockigen Haare, akkurat zerzaust, schwingen sich leicht um beide Ohren. Die Frisur, ein geordnetes Chaos, der Drei-Tage-Bart, die stoppeligen Kotletten. Alles zusammengenommen ergibt das Bild eines typischen Singles.

Hier im Café LilliSu herrscht reger Betrieb. Von meinem Sofa aus kann ich die anderen Besucher beobachten, was großen Spaß macht. Doch je mehr ich nachdenke, desto weiter entferne ich mich aus dem Café, zurück in meine Traumzwischenwelt. Tausend Fragen schießen durch meinen Kopf. Was weißt du schon über sie? Hast du dich passend angezogen? Was studiert sie nochmal? Wird sie kommen? Warum habe ich dieses Café ausgesucht? Was sind ihre Hobbies? Wird sie kommen? Über was werden wir sprechen? Wie wird ihr erster Eindruck sein? Und vor allem: Wird sie kommen?

Nun ist sie schon fünf Minuten zu spät…kein Grund zur Sorge, aber ich spüre, dass jede Zelle meines Körpers in heller Aufregung ist. In mir drin veranstalten die Moleküle einen Kurzstreckensprint auf unbekannte Länge. Ich bin aus der Puste vom Sitzen, was rede ich da, vom Warten und auf die Uhr starren. Ich muss mich ablenken. Ich spüre, wie mein Herz an mein Hemd schlägt, das mittlerweile wie ein Neopren-Anzug an meiner Brust klebt.

Das Café beginnt sich bereits zu leeren. Bald werde ich allein im LilliSu sitzen. Ich beginne, langsamer zu werden. Zäh wie Brei fließt die Enttäuschung durch meine Adern. Das Zittern beginnt zu versiegen. Fünfzehn Minuten nach um 3. Ich bin sehr altmodisch, wenn es um bestimmte Regeln geht. Das akademische Viertel ist um. Sie kommt nicht mehr, beginnt eine Stimme in meinem Kopf zu sagen. Ich wehre mich mit aller Macht gegen die Gedanken.

„Ach was soll’s“ sage ich laut und greife meine Jacke. Ich bin gerade dabei, nach dem Türknauf zu greifen, als die Tür aufschwingt und Johanna das Café betritt. Von ihr geht eine Aura aus, die einmal quer durch den Raum wirbelt. Ich schmeiße die Jacke schnell zurück zum Sofa, versichere mich, dass der Kragen richtig sitzt und begrüße sie mit einem ehrlichen:

„Schön, dass du doch noch gekommen bist.“

Sie wirkt etwas aus der Puste, wirft mir aber ein nettes Lächeln zu, das fünfzehn Minuten nervlichen Terror restlos auslöscht.

„Ich wurde aufgehalten, aber ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Danke, dass du gewartet hast.“

Schon gut, du bist es ja nicht, die die Löcher in meinem Nervensystem nachher flicken muss. Aber vielleicht brauche ich das auch gar nicht. Meine nervliche Raserei wird zu einem innerlichen Blumenpflücken, wenn ich dich ansehe.

 „Wo sitzt du?“, fragt sie. „Gleich dort drüben, sage ich und zeige auf das alte, aber bequeme Sofa gleich in der Nähe. Der Ort ist unschwer zu übersehen, er ist der Einzige, wo eine Jacke quer über dem Tisch liegt.


Das Café besitzt seinen ganz eigenen Charme. Während auf unserer Seite des Raumes Massivholztische aufwarten, sind in der anderen Hälfte beigefarbene Tische und Stühle zu sehen. Diese duale Farbschema aus hell und dunkel zieht sich entlang der Wände bis zu der Regalreihe, in deren Abteilungen alles zu finden ist, von Reisetipps über aktuelle Tageszeitungen bis zu esoterischen Magazinen und Mitnehm-Postkarten. Am äußersten Ende führt ein kleiner Gang hinein in die Küche, rechts daneben thront die Theke mit ihrem Angebot. Die Kellnerinnen, die bereits drohten in den Winterschlaf zu fallen, sind wie reaktiviert. Johannas Erscheinen ist ihr persönliches Aktionszeichen. Plötzlich erwacht das verschlafene Café zum Leben. Die Theke füllt sich, eine Kerze wird angezündet und wie durch Zauberei materialisieren sich in Millisekunden zwei Speisekarten auf unserem Tisch.

Fortsetzung folgt morgen...

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