Ein
knacken aus dem nahen Gehölz. Wie von der Tarantel gestochen
schnellte Leopold aus der Decke, die Sichel bereits in der Hand.
Zwischen den Bäumen erschien ein junger Mann mit schulterlangen,
braunen Haaren, überquerte stolpernderweise die Hälfte des
abschüssigen Wiesenstückes zwischen ihnen und blieb etwa fünf
Meter vor Leopold stehen. Der Mann schien etwas älter zu sein als
Leopold, allerdings nicht viel. Vielleicht 25. Er trug einen langen
Mantel, dessen Ursprüngliche Farbe nicht auszumachen war, da man
nicht erkennen konnte, welches Stück ein Flicken und welches der
ursprüngliche Stoff war, so oft war das merkwürdige Kleidungsstück
repariert worden. Eine alte Schweißerbrille mit runden Gläsern
hatte er sich in die Stirn geschoben. Unter dem farbenfrohen Mantel
blitzte der Knauf einer Pistole hervor.
Die
beeindruckende Wirkung dieser martialischen Aufmachung wurde leider
von dem nicht sehr geistreichen Gesichtsausdruck geschmälert, den
der Mann zur Schau trug. Irgendetwas schien sich nicht ganz so zu
verhalten, wie er es angenommen hatte.
„Äh,
Hallo...“ Verflixt, dachte Leopold, ich höre mich in etwa so
intelligent an, wie der Typ da drüben gerade aussieht.
Der
Mann gewann scheinbar seine Fassung zurück. Als erste Tat schloss er
seinen Mund, der bis dahin halb offen gestanden hatte. Dann schickte
er sich an, etwas zu erwidern.
„Hast
du zufällig gerade jemanden vorbeikommen sehen? Etwas kleiner als
ich, schwarzer Mantel, wirkte ziemlich geheimnisvoll.“
„Ich
hatte bis eben die Augen zu, ich hab gar nichts gesehen.“ Unsicher
sah Leopold sich um. Der Gedanke, dass schwarz vermummte und dazu
noch mit dem Flair des geheimnisvollen behaftete Personen sich in
unmittelbarer Umgebung seines Lagers herumtrieben war ihm
unbehaglich. Sofort fühlte er sich an den Diebstahl seines Rucksacks
erinnert und an die Leichen der Wegelagerer, deren geheimnisvolle
Todesursache ihm immer noch zu denken gab.
Dann
fiel ihm ein, dass das Ganze auch eine Farce sein konnte. Wer sagte
ihm, dass sein Gegenüber ihm nicht irgendetwas vorlog, um sein
misstrauen von sich ab-, und auf eine nicht existente Person zu
lenken?
„Wer
bist du überhaupt?“
„Jackson.“
Der Fremde grinste. „Bandit, Räuber, Kartenspieler. Zu Diensten.
Und mit wem habe ich die Ehre?“
Leopold
errötete. In solchen Momenten wünschte er sich einen Namen wie
„Rockefeller“ oder „Jones“.
„Leopold“
sagte Leopold. „Aber du kannst mich Leo nennen.“
Jacksons
linke Augenbraue wanderte in die Höhe, bis sie sich mit seinem
Haupthaar zu vereinigen schien.
„Leo...pold...
Noch keinen Kriegernamen abgekriegt?“
„Kriegernamen?“
Leopold war verwirrt. Dem anderen schien das nichts auszumachen.
Gelassen schlenderte er zum Feuer und suchte sich einen Platz, der
nah genug an dem von Leopold war, um sich mit ihm unterhalten zu
können, aber weit genug entfernt, um vor einem eventuellen Angriff
sicher zu sein.
„Du
erlaubst doch?“ fragte er mit spöttischer Miene, ehe er sich, ohne
eine Antwort abzuwarten, ans Feuer setzte. Leopold ließ sich auf
seiner Decke nieder, sein Gesicht ein einziges Fragezeichen.
„Also,
mein Junge, wenn du in den Outlands irgendwas gelten willst, solltest
du dir dringend einen anderen Namen zulegen. Einen, der nicht nach
Friseurlehrling oder Muttersöhnchen klingt. Ein Mann ohne
Kriegernamen, das ist wie eine Pistole ohne Pulver, Ein Vulkan ohne
Feuer, anders gesagt, es macht einfach keinen Spaß.“
„Ich
soll mir also selbst einen Namen aussuchen? Aber was für einen?“
Jackson
überlegte. „Es sollte etwas raues, männliches sein. Etwas, das
deine Kraft und Wildheit betont. Deine Gegner müssen schon beim
Klang deines Namens darüber nachdenken, ob sie wirklich deine Gegner
sein wollen.“
„Hast
du ein Beispiel?“
„Nicht
irgendein Beispiel. Das beste. Den Namen, der all das aufs
Vorbildlichste vereint.“
„Und
der wäre?“
Der
Langhaarige grinste.
„Jackson.“
Leopold
seufzte.
„Ich
kann mir ja wohl kaum deinen Namen geben.“
„Doch,
das ginge schon. Du könntest Jackson Junior heißen. Nur, dass das
'Junior' irgendwie eher niedlich klingt und das ist ja nicht wirklich
der Sinn der Sache.“
Leopold
sah seinen Gesprächspartner schief an.
„Willst
du mich auf den Arm nehmen?“
„Aber
ich doch nicht“ lachte Jackson und zwinkerte ihm zu.
Die
nächste halbe Stunde verbrachten die beiden damit, verschiedene
Namen zu sammeln, zu erproben und schließlich zu verwerfen.
Schließlich fiel ihnen nichts mehr ein, was einigermaßen ausgewogen
Respekt und Bewunderung sowie eine gewisse Sympathie hätte
hervorrufen können. Als sie an einem Punkt angekommen waren, an dem
jeder neue Name ihre Lachmuskeln stärker strapazierte, brach Jackson
die Überlegungen ab.
„Ich
glaube, das wird heute nichts mehr. Ich würde dir eine Vereinbarung
vorschlagen. Wir unterhalten uns heute Abend nicht mehr über dieses
Thema. Dafür hast du die Hausaufgabe, dir bis zu unserem nächsten
Treffen einen passenden Namen auszudenken.“
„Einverstanden“,
stimmte Leopold zu, „aber was ist, wenn wir uns nicht wieder
treffen? Die Welt ist groß.“
Jackson
schüttelte den Kopf.
„Die
Welt ist ein Dorf, sagte man früher. Und noch etwas: Man trifft sich
immer zweimal.“
Mit
diesen Worten holte er eine Tabakspfeife und Pfeifenkraut, stopfte
und entzündete sie und begann zu paffen.
„Mal
was anderes. Was treibt dich eigentlich hier in die Outlands?“
Leopold
wurde ernst.
„Ein
Familiendrama, sozusagen. Willst du es wirklich hören?“
„Sonst
hätte ich nicht gefragt.“
Und
so erzählte er Jackson von dem geheimnisvollen Verschwinden seiner
Eltern und seinem Plan, in Bucktopia seinen Onkel zu finden. Jackson
schien kaum beeindruckt vom ungewissen Schicksal von Leopolds Eltern.
Dafür war er fasziniert von allem, was mit Bucktopia zusammenhing.
Zwar war er, wie er betonte, schon weit herumgekommen, aber von
diesem riesigen Treffen in dem kleinen gleichnamigen Ort hatte er
scheinbar noch nie gehört. Leopold erzählte ihm alles, was er
darüber wusste. Viel war es nicht. Er selbst war ja auch noch nie
dagewesen.
Nach seinem Bericht saßen die beiden ein paar Minuten lang einfach
nur schweigend beisammen und dachten über das Gehörte und Erzählte
nach. Dann löste Jackson die kleine Abendgesellschaft auf, indem er
auf den anstrengenden Tag hinwies, den er morgen haben werde. Die
beiden legten sich auf ihre Lager, das Feuer zwischen sich, und
fielen bald in Schlaf. Die Sichel hatte Leopold wieder in der Hand.
***
Was
für ein merkwürdiges Schauspiel. Eben von der Jagd zurückgekehrt
hatte der Schatten beobachtet, wie plötzlich ein Mann, etwas älter
als das Ziel seiner Beobachtung, aus dem Dickicht gestolpert war,
sich mit dem erschrockenen Jungen unterhielt um sich gleich darauf
mit ihm ans Feuer zu setzen. Kannten sich die beiden? Die schnelle
Annäherung mochte darauf hinweisen, aber der vorsichtige Abstand,
den sie voneinander hielten, deutete auf das Gegenteil hin. Sie
hatten sich zusammen ans Feuer gesetzt und vertrieben sich den Abend
mit dem Austauschen kurzer Bemerkungen, über die sie jedes Mal in
schallendes Gelächter ausbrachen. So entspannte Stimmung, so viel
Sorglosigkeit bei zwei Menschen, die sich zuvor noch nie begegnet
waren?
Dann
war eine ruhigere Phase gefolgt, in der der Junge scheinbar viel zu
erzählen hatte, bis sich die beiden schließlich zum Schlafen
hinlegten. Fast hatte der heimliche Beobachter es als beruhigend
empfunden, dass jeder der beiden dabei wieder seine Waffe umklammert
hielt, der Kleine sein lächerliches Gartengerät, der Fremde eine
Pistole. Da war es wieder, das gute alte Misstrauen, das hier draußen
schon manch einem den Hals gerettet hatte. Das war Alltag,
Normalität. Damit ließ sich umgehen.
Früh
am nächsten Morgen war der Fremde dann aufgestanden und hatte seine
Sachen zusammengepackt. Der Schatten auf dem Hügel hatte sich schon
kampfbereit gemacht für den Fall, dass der Typ dem Kleinen doch ans
Leder wollte, doch bis auf einen kurzen Blick wurde dem Schlafenden
keine Beachtung zuteil. Ohne ihn oder seine Sachen auch nur
anzurühren hatte sich der Kerl mit dem Flickenmantel wieder auf den
Weg gemacht. Ein komischer Kauz. Aber auch ein Typ, den man sich
merken sollte.
***
Als
Leopold am nächsten Morgen aufwachte war Jackson verschwunden.
Beunruhigt durchsuchte er seine Taschen und seinen Proviantbeutel,
aber es schien nichts zu fehlen. Der andere schien sich einfach
wieder auf den Weg gemacht zu haben, ganz ohne böse Absichten.
Jedenfalls ohne erkennbare böse Absichten.
Nachdem
er seine Habseligkeiten zusammengesucht hatte, viel war es ja nun
wirklich nicht, machte Leopold sich wieder auf den Weg. Er wusste
nicht, wie weit er inzwischen vorangekommen war, aber er hatte das
Gefühl, Bucktopia schon ein gutes Stückchen näher gekommen zu
sein.
***
Der
Tag verging, ohne dass erwähnenswerte Dinge passierten. Leopold
wanderte durch eine weite, hügelige Landschaft, auf der die wenigen
Bäume wahllos verstreut lagen. Die verrosteten Überreste eines
Mähdreschers sagten ihm, dass sich hier wohl einmal Ackerflächen
befunden hatten. Einmal sah er in der Ferne eine alte Scheune,
näherte sich ihr aber lieber nicht, weil dies einen Umweg von
einigen Stunden bedeutet hätte. Eine ganze Weile lang wanderte er an
einem Wald entlang. Er hielt sich etwas hundert Meter entfernt von
dem Gehölz und überlegte ständig, ob es auf der leicht
überschaubaren Wiesenlandschaft oder im Schutz der Bäume sicherer
war. Letztendlich blieb er, wo er war. Er zog es vor, eventuelle
Gegner rechtzeitig zu sehen, auch wenn das hieß, auch von ihnen früh
gesehen zu werden.
Abends
schlug er sein Lager mitten zwischen hohen Maispflanzen auf. Der Mais
musste hier einst angebaut worden sein. Nach der Katastrophe, als
sich niemand mehr darum kümmerte, hatte er wohl nicht, wie so viele
Ackerpflanzen, den Rückzug angetreten, sondern sich inmitten der
wilden Natur, die nach und nach wieder alles überzog, durchgesetzt.
Das Ergebnis waren kleine unregelmäßige Flächen, auf denen der
Mais so dicht stand wie früher. Leopold hatte sich Mühe gegeben, so
wenig wie möglich Pflanzenstängel zu knicken, als er sich in das
Zentrum einer solchen Fläche vorgearbeitet hatte. Dort angekommen
schuf er sich etwas Platz und grub in der Mitte der kleinen
Freifläche eine Mulde in den Erdboden, in der er ein Feuer
entzündete. Dann saß er gemütlich an seinem Feuer und briet sich
Maiskolben, ein Vergnügen, von dem er bisher nur in Büchern seiner
Eltern gelesen hatte und dass ihm das Gefühl gab, ein Kind früherer
Tage zu sein.
***
Der
nächste Tag brachte einen kurzen Regenschauer am frühen Morgen.
Verärgert stellte Leopold fest, dass seine Kleidung keinesfalls für
schlechtes Wetter geeignet war. Wütend stapfte er über den
matschigen Boden. Er war ohne Frühstück aufgebrochen, gleich, als
der Regen ihn geweckt hatte. Die Bewegung war die einzige Maßnahme
gewesen, die ihm gegen eine drohende Erkältung eingefallen war. Bloß
nicht kalt werden! Genau genommen hatte er nicht die geringste
Ahnung, ob ihm das Wandern irgendwie helfen würde, zumindest war es
etwas weniger unangenehm, als in den nassen Sachen herumzuhocken.
Schon
eine Viertelstunde nach seinem Aufbruch hörte der Regen auf. Die
Wolkendecke, die sich scheinbar über Nacht gebildet hatte, brach auf
und innerhalb einer weiteren halben Stunde waren nur noch ein paar
winzige weiße Wölkchen am Himmel zu sehen. Langsam ging es Leopold
besser. Seine Kleider begannen zu trocknen und schließlich setzte er
sich auf einen großen Stein, der am Rand eines zugewucherten Weges
lag, und holte sein Frühstück nach.
Frisch
gestärkt setzte er sich noch ein wenig in die Sonne, die
zusammengerollte Decke als Kissen unter dem Kopf, und dachte nach. Es
war klar, dass er dringend einen Mantel oder etwas ähnliches
brauchte. Natürlich konnte er sich in Bucktopia alles ertauschen,
was sein Herz begehrte, vorausgesetzt natürlich, er hatte bis dahin
noch nicht alle seine Besitztümer gegen Essen eingetauscht, aber bis
dahin war es noch ein weiter Weg und er konnte nicht davon ausgehen,
dass er weiterhin so viel Glück mit dem Wetter haben würde, wie das
in den ersten Tagen der Fall gewesen war. Er musste also schleunigst
entweder jemanden zum tauschen finden, oder aber eines der
leerstehenden Gebäude, an denen er manchmal vorbeiwanderte, betreten
und nach einem geeigneten Kleidungsstück durchsuchen. Einen Moment
lang dachte er sehnsüchtig an die Regenjacke, die sich in seinem
Rucksack befunden hatte, aber die war endgültig verloren. Erinnern
half nichts, er musste sich um etwas neues kümmern. Mit diesem
Gedanken im Kopf stand er schließlich auf und machte sich wieder auf
den Weg.
***
Zwei
Stunden später sah Leopold in einiger Entfernung ein kleines Haus.
Es schien früher mal das Haus des Bauern gewesen zu sein, der die
umliegenden Felder bestellt hatte. Kein besonders reicher Bauer mit
soundsovielen Arbeitern hatte hier gewohnt. Das Haus, fast schon eine
Hütte, bot Platz für einen Bauern und seine Familie. Mehr nicht.
Neben dem Haus schien es einen Schuppen zu geben und dahinter
vermutete Leopold einen Stall, aber das erste konnte er aufgrund der
Entfernung nicht so gut, das zweite überhaupt nicht erkennen, weil
das Haupthaus im Wege stand.
Nach
einer weiteren Stunde wandern war er bei dem Haus angekommen. Es war
grob aus Brettern und Balken zusammengezimmert. Nur das Fundament war
aus Stein. Das ganze Gebäude wirkte mehr als verwahrlost. Ein
Fenster stand sperrangelweit offen, die anderen waren zugenagelt. Das
Dach war mehrfach geflickt, irgendwann schien man das Flicken jedoch
aufgegeben zu haben, oder, was wahrscheinlicher war, es war einfach
keiner mehr zum Flicken dagewesen. Er beschloss, das innere des
Hauses zu erforschen und durchquerte die schief hängende
Gartenpforte.
Ärgerlich
registrierte Leopold das Knirschen des Kieswegs unter seinen Füßen.
Viel weniger unauffällig konnte man sich einem Gebäude wohl kaum
nähern. Vor der Tür aus morschen Brettern machte er halt und
lauschte ins Innere. Wind, der durch schmale Ritzen pfiff, das
Knacken und Knarren des alten Gebälks. Sonst war da kein Geräusch.
Vorsichtig öffnete Leopold die Tür. Ein langgezogenes Quietschen
ließ ihn zusammenfahren. Natürlich. Jeder, der ein bisschen Hirn im
Kopf hatte, hätte das weit offene Fenster genommen, aber er musste
natürlich... Leopold seufzte innerlich und betrat das Haus.
Dunkelheit
umfing ihn. Nur durch das Fenster drang ein bisschen Licht herein,
der größte Teil des Raumes war aber in dämmrig-staubiges Halblicht
gehüllt. Leopold ging ein paar Schritte in den Raum hinein und
wartete dann, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt
hatten. Dann sah er sich um.
Im
Grunde wie erwartet. Spinnweben und Staub auf den Überresten
kaputter Möbel und anderer Dinge, die sich in verschiedenen, jedoch
sämtlich in fortgeschrittenen Stadien des Verfalls befanden. Leopold
machte ein paar Schritte auf einen Schrank zu, um dessen Inhalt zu
erforschen, als ihn ein Geräusch von der Treppe zusammenfahren ließ.
Da war jemand. Jemand, der sich äußerst leise und behutsam bewegte.
Nur durch die Mithilfe einer knarrenden Stufe hatte Leopold überhaupt
etwas gemerkt. Angestrengt starrte er die Treppe hinauf. Nichts zu
sehen. Dort oben war kein Fenster mehr, es war stockdunkel. Leopolds
Hand mit der Sichel zitterte leicht, als er begann, die Treppe zu
ersteigen. Stufe für Stufe kam er dem oberen Stockwerk immer näher.
Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und sah sich um. Vor ihm
erstreckte sich ein Flur über die gesamte Länge des Hauses. Links
und rechts führten Türen zu den einzelnen Zimmern. Durch ein
kleines Fenster am anderen Ende des Flurs fiel etwas Licht herein und
gab der Szenerie eine gespenstische Note.
Als
Leopold eben zu dem Schluss gekommen war, dass es am günstigsten
sei, die Räume nacheinander zu durchsuchen und sich dabei von einem
Ende des Flurs zum anderen durchzuarbeiten, bemerkte er etwa auf der
Hälfte des Flurs eine offene Tür. Äußerst angespannt legte er die
kurze Strecke zurück und spähte in den Raum. Eindeutig leer. Kein
lebendes Wesen. Dafür aber ein Lager. Leopold ging einen Schritt
weiter, er stand nun im Türrahmen, den Blick auf die Ecke mit der
eindeutig kurz zuvor benutzten Lagerstatt gerichtet. Eine
abgetragene, schmutzige Umhängetasche lag da, die scheinbar als
Kopfkissen gedient hatte. Daneben war ein Gürtel zu sehen. Ein
Gürtel mit zwei Pistolen.
In
diesem Moment beschlich ihn ein komisches Gefühl. Ein Kribbeln im
Nacken verriet ihm, dass da jemand war, nicht in dem Raum mit dem
Lager, sondern direkt hinter ihm. Leopold wollte herumschnellen um
den anderen ins Blickfeld zu bekommen, aber es war schon zu spät.
Eine Hand zog seinen Kopf nach hinten und er spürte, wie etwas
glattes, scharfes an seinen Hals gehalten wurde.
„Versuchs
gar nicht erst!“ zischte ihm jemand ins Ohr. „Machst du nur eine
Bewegung, die mir nicht gefällt, bist du tot.“
Leopold,
der weit davon entfernt war, irgendetwas zu versuchen, ließ seine
Sichel fallen. Er wollte jedes Missverständnis vermeiden, dessen
Folge eine rasche Bewegung dieses Messers an seinem Hals sein konnte.
„Ist
das deine einzige Waffe?“ fragte die Stimme an Leopolds Ohr.
Leopold
versuchte, zu nicken, besann sich aber gerade noch rechtzeitig eines
besseren.
„Ja.“
brachte er schließlich krächzend hervor.
„Gut.“
Leopold
fühlte sich nach hinten gezogen.
„Setz
dich doch!“
Ohne
Widerstand zu leisten ließ er sich auf den Boden plumpsen.
Eine
dunkle Gestalt huschte an ihm vorbei zu dem Nachtlager und griff nach
dem Waffengürtel.
Als
die Gestalt den Gürtel umgeschnallt hatte, wurde sie auf einmal ganz
ruhig. Beinahe lässig drehte sie sich zu ihm um. Ja, sie, es
handelte sich um eine junge Frau. Unter der dunklen Kapuze blitzte
eine Sonnenbrille hervor. Der Rest des Gesichts wurde von einem Tuch
verdeckt. Die Füße der Frau, über deren Alter und Gesichtszüge
Leopold aufgrund ihrer Vermummung nicht einmal begründet spekulieren
konnte, steckten in braunen Wildlederstiefeln, der Rest der Kleidung
war dunkel und unauffällig. Um die Schultern hatte sie einen
abgewetzten, ehemals schwarzen Mantel geschlungen. Die Gestalt als
Ganzes wirkte wie eine Mischung aus einer Piratenbraut und einem
Ninja mit Sonnenbrille. Sie kam ein paar Schritte näher und man
hörte ihr spöttisches Lächeln, als sie fragte:
„Du
bist noch nicht lange unterwegs, was?“
Leopold
schüttelte den Kopf.
„Nein,
noch keine ganze Woche. Und eigentlich ist mir das auch schon genug.“
Die
Frau nickte.
„Verstehe.“
Einen
Moment lang herrschte Stille, und Leopold hatte das Gefühl,
genauestens gemustert zu werden. Schließlich brach seine Bezwingerin
das Schweigen.
„Was
suchst du hier?“
Aus
irgendeinem Grund hatte Leopold das Gefühl, eine Lüge sei hier fehl
am Platze. Andererseits hatte er keine Lust, sich noch lächerlicher
zu machen, indem er erzählte, dass er auf der Suche nach einem
brauchbaren Mantel war.
„Wollte
nur mal gucken, ob hier noch was brauchbares rumliegt.“
Ein
bisschen beschämt ob seiner kläglichen Situation sah er zu Boden.
„Du
kannst jetzt auch wieder aufstehen.“
Leopold
rappelte sich hoch und starrte sie mit großen Augen an.
„Was
soll das? Was willst du von mir? Und wer bist du überhaupt?“
„Ich
bin von Natur aus sehr misstrauisch. Ich versuche, mir Überraschungen
zu ersparen und du hast mich überrascht. Das ist alles. Nichts
weiter.“
„Du
hast nur auf die Hälfte meiner Fragen geantwortet.“
Die
Fremde nickte.
„Du
hast Recht. Aber würdest du einem Fremden einfach so verraten, wer
du bist?“
Leopold
gab keine Antwort. Ein paar Sekunden lang schwebte die Frage im Raum.
„Mein
Name ist Clara“, sagte sie schließlich, „der Rest ist etwas
komplizierter. Wenn dir das nicht reicht, kann ich dir nicht helfen.“
Clara
bückte sich nach ihrer Tasche. Dann warf sie sie sich über die
Schulter und sah ihn an.
„Und
wer bist du?“
„Ich
heiße Leopold“ sagte Leopold und wurde rot. Er erinnerte sich an
Jacksons Reaktion auf diesen Namen und verfluchte sich innerlich
dafür, sich nicht schon längst einen anderen überlegt zu haben.
Und
richtig: Ein Zucken in Claras Gesicht verriet ihm, dass ihre
Augenbraue gerade gute zwei Zentimeter nach oben gewandert war.
„Leopold
… “ ließ sich ihre spöttische Stimme vernehmen. „Zweifellos
der Name eines künftigen Helden. Jedenfalls unverwechselbar.“
Mit
zwei schnellen Schritten war Clara an der Tür. Auf der Schwelle
blieb sie noch einmal stehen, hob die Sichel auf, die immernoch auf
dem Boden lag, und reichte sie Leopold.
„Wenn
ich dir einen Tipp geben darf, Leopold – das hier ist
vielleicht ein bisschen wenig. Also, für einen künftigen Helden.“
Mit
einer schnellen Handbewegung schob sie ihre Sonnenbrille nach unten
und eine Sekunde später wieder zurück. In der kurzen Spanne
dazwischen jedoch konnte Leopold, obwohl sie im Schatten stand,
erkennen, dass sie ihm zuzwinkerte. Als er wieder fähig war, sich zu
bewegen und ans Fenster zu gehen, war von Clara nichts mehr zu sehen.
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