MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Samstag, 5. Oktober 2013

Bucktopia: Schattenseiten. Folge 1: Aufbruch

Liebe Mutter, lieber Vater,

es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ihr dies hier je zu lesen bekommt, aber für den Fall, dass ihr noch am Leben seid und an diesen Ort zurückkehrt schreibe ich euch diese Nachricht. Ich habe nun zwei Wochen lang auf eure Rückkehr aus dem Dorf gewartet, zwei Wochen, obwohl ihr sonst immer nach spätestens drei Tagen wieder da wart. Einmal war ich im Ort und habe die Leute gefragt, aber niemand konnte bestätigen, dass ihr überhaupt da angekommen wärt. Es fällt mir schwer, dies zu schreiben, aber ich muss davon ausgehen, dass euch etwas zugestoßen ist. Allein traue ich mich nicht, weiter hier zu leben, daher habe ich einen Plan gefasst. Ihr habt mir oft von unseren zahlreichen Verwandten erzählt, die über die Lande verstreut leben. Nur einmal habe ich einen von ihnen getroffen, meinen Onkel Harry, der uns vor drei Jahren besuchen kam. Ihn will ich suchen. Ich weiß zwar nicht wo er sich aufhält, aber auch dafür habe ich eine Lösung. In wenigen Wochen findet das große Treffen in Bucktopia statt, von überall werden Händler, Schausteller und alle anderen kommen, die das größte Fest dieses Kontinents nicht verpassen wollen. Harry, der seinen Lebensunterhalt ja hauptsächlich mit dem Verkauf von selbstgefertigten Werkzeugen verdient, wird sich diese Gelegenheit zum Handeln sicher nicht entgehen lassen. An sein Aussehen erinnere ich mich noch ganz gut, ich bin also zuversichtlich, dass ich ihn finde und fortan bei ihm leben kann. Wenn ihr dies lesen solltet, sucht mich bei ihm oder, wenn es dafür noch nicht zu spät ist, in Bucktopia.

In der Hoffnung, euch wiederzusehen
Euer Sohn
Leopold

***

Soweit, so gut. Es konnte losgehen. Leopold wuchtete seinen Rucksack auf die Schulter und stieg die Treppe des Gutshauses hinunter. Noch einmal sah er sich um. In diesem stattlichen Anwesen hatte er seit seiner Geburt gelebt. Seine Eltern waren sehr reich gewesen, bevor die große Katastrophe vor etwa 30 Jahren das Leben der Menschen radikal verändert hatte, doch durch die Zerstörung fast der gesamten Infrastruktur, ja, eigentlich so gut wie jeder höheren Technologie, waren die gesellschaftlichen Strukturen zusammengebrochen. Weite Teile der Erde waren verwüstet, besonders die Großstädte glichen Trümmerfeldern. Die meisten Menschen hatten sich wieder in Stämmen organisiert und durchstreiften Land und Städte auf der Suche nach Nahrung und noch verwendbaren Überbleibseln der alten Technologien. Fast niemand wusste mehr, wie diese Dinge funktionierten und die Chancen, dass die wenigen Menschen, die vor über 30 Jahren die Funktionsweise verschiedener technischer Gerätschaften zu durchschauen gelernt hatten die entsprechenden Gegenstände in die Hände bekamen, war äußerst gering. Die meisten Funde wurden daher benutzt, bis sie nicht mehr funktionierten, um dann auseinandergenommen und in eigenen, leichter verständlichen Werkzeugen und Erfindungen verbaut zu werden.
Diese äußerst seltenen alten Artefakte hatten bisher das Überleben von Leopolds Familie gesichert. Mit der Zeit hatten sie ihren Besitz Stück für Stück im Dorf gegen die Dinge des täglichen Bedarfs eingetauscht. Auf diese Weise konnten sie ihr privilegiertes Dasein weiter pflegen, wenn die Privilegien auch nunmehr nicht mehr in schicken Autos und teuren Urlauben bestanden, sondern darin, aufgrund ihres Besitzes an Sachwerten weder hart arbeiten noch sich um die Mahlzeiten des nächsten Tages sorgen zu müssen. Vor allem aber war es Leopolds Eltern möglich gewesen, ihrem einzigen Sohn eine äußerst behütete Kindheit und Jugend zu bieten. In dem herrschaftlichen Haus und den weiten Ländereien darum herum gab es, wenn man sich nicht zu draufgängerisch verhielt, keine großen Gefahren, ein kleines Paradies inmitten einer gnadenlosen Umwelt. Für Leopold war dies daher das erste Mal, dass er das elterliche Haus verließ, um weiter wegzugehen, als bis zum nächsten Dorf. Und das mit 19 Jahren!

***

Leopold wandte sich um und war eben im Begriff, loszugehen, als er schon wieder innehielt. Er überlegte. Bisher hatte er noch gar nicht daran gedacht, etwas mitzunehmen, womit er sich im Notfall verteidigen könnte. Zwar war er noch nie in den wirklich gefährlichen Gebieten gewesen, aber jetzt gingen ihm die vielen Geschichten durch den Kopf, die ihn selbst in Zeiten wildester Abenteuerlust und tödlicher Langeweile von derlei Expeditionen abgehalten hatten. Wegelagerer, wilde Tiere, Waldräuber, ja auch Wahnsinnige Anhänger blutiger Menschenopferkulte sollte es geben. Außerdem hatte er von vollkommen entstellten Wesen gehört, Mutanten, entstanden durch die Strahlung, die weite Teile des Planeten entvölkert hatte und von der niemand genau wusste, ob sie ausschließlich von den inzwischen verwahrlosten Atomkraftwerken stammte, oder ob auch der Einsatz nuklearer Waffen daran beteiligt gewesen war. Leopold schauderte. Ja, er würde eine Waffe brauchen. Wahrscheinlich würde sie ihm nicht viel bringen, da er nie gelernt hatte, sich seiner Haut zu wehren, aber er wollte jede Möglichkeit nutzen, seine Überlebenschancen zu verbessern.
Er gab sich einen Ruck und stapfte entschlossen hinüber zum Gartenschuppen. Echte Waffen besaßen sie nicht, aber hier müsste sich doch etwas geeignetes finden. Nachdenklich betrachtete er die Phalanx aus säuberlich aufgereihten, aber infolge der jahrelangen Verwahrlosung mit einer dicken Staubschicht überzogenen Gartengeräte. Er ergriff eine große Axt, die an der Wand lehnte, stellte sie aber sofort wieder zurück. Zu schwer, zu unhandlich. Die war vielleicht etwas für zwei Meter große und einen Meter breite Muskelpakete, aber seine von jugendlicher Schlankheit, oder vielmehr Schlacksigkeit, geprägte Statur ließ derartige Kraftübungen nicht zu.
Als nächstes nahm er ein langstieliges Gerät in die Hand, das vorne eine Art Haken besaß und so aussah, als sei es zum Auflockern harten Bodens gedacht, aber schon beim ersten Probeschwung bröselte ihm der morsche Stiel unter der Hand weg. Nicht sehr vertrauenerweckend. Auf keinen Fall ein Werkzeug, an dessen Haltbarkeit man das eigene Schicksal festgemacht wissen möchte. Leopold sah sich noch einmal gründlich um. Sein Blick fiel auf einen kleinen, kurzen Holzgriff mit geschwungener Klinge. Eine Sichel. Er nahm sie und wog sie in der Hand. Nicht schlecht. Handlich und scharf. Leopold steckte die Sichel in seinen Gürtel, nahm noch einen kleinen Schleifstein mit und verließ den Schuppen und kurz darauf das Anwesen seiner Eltern. So fiel der Vorhang nach dem ersten, langen Abschnitt seines Lebens. An diesen Ort sollte er für lange Zeit nicht mehr zurückkehren.

***

Ein geheimnisvoller Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen des nahegelegenen Wäldchens. Eine Gestalt in einem schwarzen Umhang verfolgte den Jungen Mann, der soeben das Herrenhaus verlassen hatte mit den Augen. Er schien eine längere Reise vorzuhaben. Das hieß wohl, dass hier niemand interessantes mehr auftauchen würde. Niemand, auf den es sich zu warten lohnen würde. Die Schattengestalt überlegte. Was nun? Endlich war das Haus gefunden, die monatelange Suche schien beendet, da stellte sich heraus, dass die Gesuchten gar nicht mehr da waren. Eine herbe Enttäuschung. Das war die einzige Spur gewesen. Es sei denn... Wohin wollte der Junge eigentlich? Ohne lange in der Nähe gewesen zu sein wusste der Schatten, dass dieser junge Erwachsene alles war – nur nicht erwachsen. Jedenfalls nicht reif für diese Welt da draußen, dass sah man ihm einfach an. Er hatte nicht die geringste Erfahrung darin, hier zu überleben, weil sein Überleben immer von anderen geschützt worden war. So einer ging nicht einfach so ohne triftigen Grund in die weite, wilde, gefährliche Welt hinein. Sein Grund musste sein, dass seine Eltern nicht wieder kamen. Sein Ziel also – seine Eltern? Andere Verwandte? Egal, die Chancen standen gut, dass sich auf diesem Weg weiterkommen ließ. Lautlos machte sich der Schatten auf den Weg, immer dem ahnungslosen Jungen hinterher, der dort drüben auf dem Weg mit seinem riesigen Rucksack einherschritt.

***

Langsam sank die Sonne. Leopold sah mit gemischten Gefühlen zu, wie der große feurige Ball am Horizont verschwand und die Welt in Dunkelheit hüllte. Einerseits freute er sich darauf, nach einem durchwanderten Tag endlich schlafen zu können, andererseits war es seine erste Nacht außerhalb des Hauses seiner Eltern, das erste Mal, dass er sich den Gefahren der Natur, besonders aber denen der Menschen aussetzte. Er war sich seines Mangels an Erfahrung mit allen Arten von Gefahren, die ihm hier draußen lauern konnten, durchaus bewusst. Leider gab ihm dieses Wissen nicht den geringsten Anhaltspunkt, wie er sich zu verhalten habe. Leopold seufzte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich so vorsichtig wie möglich zu verhalten und sich ansonsten auf sein Glück zu verlassen. Er suchte sich ein Plätzchen, das ihm ein Mindestmaß an Sicherheit verhieß, da es von einer Seite durch ein Gebüsch vor Blicken geschützt war, zerrte seine Decke aus dem Rucksack, wickelte sich darin ein und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.

***

Schließlich senkte sich die Nacht über die weiten Ebenen. Zwischen den Sträuchern raschelte es ein bisschen. Ein ärgerlicher Laut folgte. Noch ein kurzes rascheln. Dann war es wieder still. Eine dunkle Gestalt kam lautlos aus dem Gebüsch, neben dem sich der Junge niedergelassen hatte und huschte zu einem einzeln stehenden Baum. Flink wie eine Katze war die Gestalt an dem glatten Stamm emporgeklettert und saß nun im Astwerk, gut verborgen vom dichten Laub. Durch eine Lücke behielt der Unbekannte den Schlafenden im Auge. Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Wie rührend hilflos hatte sich dieser Neuling positioniert. Wie auf dem Präsentierteller lag er da und schlief wahrscheinlich so tief, dass man sich ruhigen Gewissens neben ihm hätte schlafen legen können, ohne dass er es vor dem nächsten Morgen bemerkt hätte.
Der schattenhafte Beobachter machte es sich auf seinem Ast bequem und beschloss, fünf Stunden lang zu schlafen. Fünf Stunden würden reichen und bis dahin würde der Kleine da unten mit Sicherheit noch nicht aufgebrochen sein.

***

Plötzlich das Geräusch von Schritten. Fast wäre der Schatten von seinem Ast gefallen, eine äußerst demütigende Art des Aufwachens, zumindest, wenn man eine geheimnisvolle Daseinsform darstellt. Sofort wanderte sein Blick auf den einsamen Schläfer dort unten.
Der Schläfer war gar nicht mehr so einsam. Neben dem Jungen, der gar nicht daran dachte, sich in seinem Schlaf stören zu lassen, war ein Mann aufgetaucht, vielleicht 35 Jahre alt, abgerissene, schmutzige Kleidung, und machte sich am Rucksack des Kleinen zu schaffen. Die Gestalt auf dem Baum glitt schnell von demselben hinunter und schlich sich näher. Der Rucksack war egal, aber wenn dem nichtsahnenden Frischling da etwas zustieß, gab es niemanden mehr, der den Schatten zu seinem Ziel führen konnte. Er kannte diese Art Räuber. Da wurde nicht einfach heimlich das Gepäck geklaut, wenn es ging wurde gleich jeder beseitigt, der sich eines Tages beschweren könnte. Richtig, der Bandit hatte den Rucksack geschultert und zog ein langes Messer, fast schon ein kurzes Schwert, augenscheinlich in der Absicht, es dem Schlafenden zwischen die Rippen oder in den Hals zu jagen. Doch der Schatten war schon zur Stelle. Ein Messer drückte sich gegen den dreckigen Hals des Räubers, während eine Hand seinen Kopf an den Haaren nach hinten zog.
Nicht so schnell“ flüsterte es. „Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.“
Der Bandit war starr vor Angst.
Was willst du von mir?“
Nein, nein, die Frage müsste ganz anders lauten. Was willst du von dem Jungen?“
Ich bin ein armer Mann...“ keuchte der zerlumpte Kerl. Der Schweiß rann ihm in Strömen über die Stirn, aber er wagte es nicht, ihn wegzuwischen.
Natürlich bist du das. Welcher reiche Mann würde sich auch ohne Weiteres außerhalb der Siedlungen herumtreiben?“
Zur Antwort kam nur ein Stöhnen.
Nicht so laut, mein Freund, sonst wecken wir noch den Kleinen da und das wäre weder in meinem noch in deinem Interesse. Hör zu, ich mache dir einen Vorschlag.“
Der Fremde horchte auf. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
Du kannst den Rucksack behalten. Ich brauche ihn nicht und den Kleinen hält er nur auf.“ Die Stimme machte eine kurze Pause. „Damit machst du dich auf die Socken und lässt dich nie wieder irgendwo sehen, wo dieser Junge auftaucht, verstanden? Du wirst ihm nie mehr schaden und wenn du ihn durch Zufall mal irgendwo erblickst, trittst du sofort den Rückzug an. Das ist meine Bedingung. Können wir uns darauf einigen?“
Natürlich...“ Das klang zu gut um wahr zu sein. Wo war der Haken?
Gut“ sagte die Stimme, „dann haben wir ein Abkommen. Ich werde dir nicht auf Wiedersehen sagen, denn das wäre dein Tod. Tschüss.“
Der Mann spürte, wie sich der Griff der Finger in seinen Haaren lockerte. Gleichzeitig verschwand die Messerspitze von seinem Hals. Schnell wirbelte er herum, um zu sehen, wer ihn angegriffen hatte, aber da war niemand mehr. Hinter ihm war nur die Schwärze der Nacht. Der Bandit fröstelte. Er schnappte sich den Rucksack, der ihm heruntergefallen war, sah sich noch einmal ängstlich um und schlich sich davon, erst langsam und vorsichtig, dann immer schneller, bis er schließlich in gehetztem Galopp in die Dunkelheit entschwand.

***


Der Schatten sah ihn von seinem Baum aus in der Ferne verschwinden. Am Horizont bildete sich bereits ein schwacher rötlicher Streifen. Noch einmal warf die Gestalt auf dem Baum dem schlafenden jungen Mann einen Blick zu und beglückwünschte sich zu dem Einfall, den Räuber am Leben und mit dem Rucksack davonkommen zu lassen. Ohne schweres Gepäck würde er zweifellos schneller vorankommen. Noch ein Blick an den Himmel. Eine Stunde Schlaf würde noch möglich sein. Wie in schwarze Flügel wickelte sich das Wesen auf dem Baum in seinen Umhang ein und lehnte sich zurück.

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