Liebe
Mutter, lieber Vater,
es
ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ihr dies hier je zu lesen
bekommt, aber für den Fall, dass ihr noch am Leben seid und an
diesen Ort zurückkehrt schreibe ich euch diese Nachricht. Ich habe
nun zwei Wochen lang auf eure Rückkehr aus dem Dorf gewartet, zwei
Wochen, obwohl ihr sonst immer nach spätestens drei Tagen wieder da
wart. Einmal war ich im Ort und habe die Leute gefragt, aber niemand
konnte bestätigen, dass ihr überhaupt da angekommen wärt. Es fällt
mir schwer, dies zu schreiben, aber ich muss davon ausgehen, dass
euch etwas zugestoßen ist. Allein traue ich mich nicht, weiter hier
zu leben, daher habe ich einen Plan gefasst. Ihr habt mir oft von
unseren zahlreichen Verwandten erzählt, die über die Lande
verstreut leben. Nur einmal habe ich einen von ihnen getroffen,
meinen Onkel Harry, der uns vor drei Jahren besuchen kam. Ihn will
ich suchen. Ich weiß zwar nicht wo er sich aufhält, aber auch dafür
habe ich eine Lösung. In wenigen Wochen findet das große Treffen in
Bucktopia statt, von überall werden Händler, Schausteller und alle
anderen kommen, die das größte Fest dieses Kontinents nicht
verpassen wollen. Harry, der seinen Lebensunterhalt ja hauptsächlich
mit dem Verkauf von selbstgefertigten Werkzeugen verdient, wird sich
diese Gelegenheit zum Handeln sicher nicht entgehen lassen. An sein
Aussehen erinnere ich mich noch ganz gut, ich bin also
zuversichtlich, dass ich ihn finde und fortan bei ihm leben kann.
Wenn ihr dies lesen solltet, sucht mich bei ihm oder, wenn es dafür
noch nicht zu spät ist, in Bucktopia.
In
der Hoffnung, euch wiederzusehen
Euer
Sohn
Leopold
***
Soweit, so gut. Es konnte losgehen. Leopold wuchtete seinen Rucksack
auf die Schulter und stieg die Treppe des Gutshauses hinunter. Noch
einmal sah er sich um. In diesem stattlichen Anwesen hatte er seit
seiner Geburt gelebt. Seine Eltern waren sehr reich gewesen, bevor
die große Katastrophe vor etwa 30 Jahren das Leben der Menschen
radikal verändert hatte, doch durch die Zerstörung fast der
gesamten Infrastruktur, ja, eigentlich so gut wie jeder höheren
Technologie, waren die gesellschaftlichen Strukturen
zusammengebrochen. Weite Teile der Erde waren verwüstet, besonders
die Großstädte glichen Trümmerfeldern. Die meisten Menschen hatten
sich wieder in Stämmen organisiert und durchstreiften Land und
Städte auf der Suche nach Nahrung und noch verwendbaren
Überbleibseln der alten Technologien. Fast niemand wusste mehr, wie
diese Dinge funktionierten und die Chancen, dass die wenigen
Menschen, die vor über 30 Jahren die Funktionsweise verschiedener
technischer Gerätschaften zu durchschauen gelernt hatten die
entsprechenden Gegenstände in die Hände bekamen, war äußerst
gering. Die meisten Funde wurden daher benutzt, bis sie nicht mehr
funktionierten, um dann auseinandergenommen und in eigenen, leichter
verständlichen Werkzeugen und Erfindungen verbaut zu werden.
Diese äußerst seltenen alten Artefakte hatten bisher das Überleben
von Leopolds Familie gesichert. Mit der Zeit hatten sie ihren Besitz
Stück für Stück im Dorf gegen die Dinge des täglichen Bedarfs
eingetauscht. Auf diese Weise konnten sie ihr privilegiertes Dasein
weiter pflegen, wenn die Privilegien auch nunmehr nicht mehr in
schicken Autos und teuren Urlauben bestanden, sondern darin, aufgrund
ihres Besitzes an Sachwerten weder hart arbeiten noch sich um die
Mahlzeiten des nächsten Tages sorgen zu müssen. Vor allem aber war
es Leopolds Eltern möglich gewesen, ihrem einzigen Sohn eine äußerst
behütete Kindheit und Jugend zu bieten. In dem herrschaftlichen Haus
und den weiten Ländereien darum herum gab es, wenn man sich nicht zu
draufgängerisch verhielt, keine großen Gefahren, ein kleines
Paradies inmitten einer gnadenlosen Umwelt. Für Leopold war dies
daher das erste Mal, dass er das elterliche Haus verließ, um weiter
wegzugehen, als bis zum nächsten Dorf. Und das mit 19 Jahren!
***
Leopold wandte sich um und war eben im Begriff, loszugehen, als er
schon wieder innehielt. Er überlegte. Bisher hatte er noch gar nicht
daran gedacht, etwas mitzunehmen, womit er sich im Notfall
verteidigen könnte. Zwar war er noch nie in den wirklich
gefährlichen Gebieten gewesen, aber jetzt gingen ihm die vielen
Geschichten durch den Kopf, die ihn selbst in Zeiten wildester
Abenteuerlust und tödlicher Langeweile von derlei Expeditionen
abgehalten hatten. Wegelagerer, wilde Tiere, Waldräuber, ja auch
Wahnsinnige Anhänger blutiger Menschenopferkulte sollte es geben.
Außerdem hatte er von vollkommen entstellten Wesen gehört,
Mutanten, entstanden durch die Strahlung, die weite Teile des
Planeten entvölkert hatte und von der niemand genau wusste, ob sie
ausschließlich von den inzwischen verwahrlosten Atomkraftwerken
stammte, oder ob auch der Einsatz nuklearer Waffen daran beteiligt
gewesen war. Leopold schauderte. Ja, er würde eine Waffe brauchen.
Wahrscheinlich würde sie ihm nicht viel bringen, da er nie gelernt
hatte, sich seiner Haut zu wehren, aber er wollte jede Möglichkeit
nutzen, seine Überlebenschancen zu verbessern.
Er gab sich einen Ruck und stapfte entschlossen hinüber zum
Gartenschuppen. Echte Waffen besaßen sie nicht, aber hier müsste
sich doch etwas geeignetes finden. Nachdenklich betrachtete er die
Phalanx aus säuberlich aufgereihten, aber infolge der jahrelangen
Verwahrlosung mit einer dicken Staubschicht überzogenen
Gartengeräte. Er ergriff eine große Axt, die an der Wand lehnte,
stellte sie aber sofort wieder zurück. Zu schwer, zu unhandlich. Die
war vielleicht etwas für zwei Meter große und einen Meter breite
Muskelpakete, aber seine von jugendlicher Schlankheit, oder vielmehr
Schlacksigkeit, geprägte Statur ließ derartige Kraftübungen nicht
zu.
Als nächstes nahm er ein langstieliges Gerät in die Hand, das vorne
eine Art Haken besaß und so aussah, als sei es zum Auflockern harten
Bodens gedacht, aber schon beim ersten Probeschwung bröselte ihm der
morsche Stiel unter der Hand weg. Nicht sehr vertrauenerweckend. Auf
keinen Fall ein Werkzeug, an dessen Haltbarkeit man das eigene
Schicksal festgemacht wissen möchte. Leopold sah sich noch einmal
gründlich um. Sein Blick fiel auf einen kleinen, kurzen Holzgriff
mit geschwungener Klinge. Eine Sichel. Er nahm sie und wog sie in der
Hand. Nicht schlecht. Handlich und scharf. Leopold steckte die Sichel
in seinen Gürtel, nahm noch einen kleinen Schleifstein mit und
verließ den Schuppen und kurz darauf das Anwesen seiner Eltern. So
fiel der Vorhang nach dem ersten, langen Abschnitt seines Lebens. An
diesen Ort sollte er für lange Zeit nicht mehr zurückkehren.
***
Ein
geheimnisvoller Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen des
nahegelegenen Wäldchens. Eine Gestalt in einem schwarzen Umhang
verfolgte den Jungen Mann, der soeben das Herrenhaus verlassen hatte
mit den Augen. Er schien eine längere Reise vorzuhaben. Das hieß
wohl, dass hier niemand interessantes mehr auftauchen würde.
Niemand, auf den es sich zu warten lohnen würde. Die Schattengestalt
überlegte. Was nun? Endlich war das Haus gefunden, die monatelange
Suche schien beendet, da stellte sich heraus, dass die Gesuchten gar
nicht mehr da waren. Eine herbe Enttäuschung. Das war die einzige
Spur gewesen. Es sei denn... Wohin wollte der Junge eigentlich? Ohne
lange in der Nähe gewesen zu sein wusste der Schatten, dass dieser
junge Erwachsene alles war – nur nicht erwachsen. Jedenfalls nicht
reif für diese Welt da draußen, dass sah man ihm einfach an. Er
hatte nicht die geringste Erfahrung darin, hier zu überleben, weil
sein Überleben immer von anderen geschützt worden war. So einer
ging nicht einfach so ohne triftigen Grund in die weite, wilde,
gefährliche Welt hinein. Sein Grund musste sein, dass seine Eltern
nicht wieder kamen. Sein Ziel also – seine Eltern? Andere
Verwandte? Egal, die Chancen standen gut, dass sich auf diesem Weg
weiterkommen ließ. Lautlos machte sich der Schatten auf den Weg,
immer dem ahnungslosen Jungen hinterher, der dort drüben auf dem Weg
mit seinem riesigen Rucksack einherschritt.
***
Langsam sank die Sonne. Leopold sah mit gemischten Gefühlen zu, wie
der große feurige Ball am Horizont verschwand und die Welt in
Dunkelheit hüllte. Einerseits freute er sich darauf, nach einem
durchwanderten Tag endlich schlafen zu können, andererseits war es
seine erste Nacht außerhalb des Hauses seiner Eltern, das erste Mal,
dass er sich den Gefahren der Natur, besonders aber denen der
Menschen aussetzte. Er war sich seines Mangels an Erfahrung mit allen
Arten von Gefahren, die ihm hier draußen lauern konnten, durchaus
bewusst. Leider gab ihm dieses Wissen nicht den geringsten
Anhaltspunkt, wie er sich zu verhalten habe. Leopold seufzte. Es
blieb ihm nichts anderes übrig, als sich so vorsichtig wie möglich
zu verhalten und sich ansonsten auf sein Glück zu verlassen. Er
suchte sich ein Plätzchen, das ihm ein Mindestmaß an Sicherheit
verhieß, da es von einer Seite durch ein Gebüsch vor Blicken
geschützt war, zerrte seine Decke aus dem Rucksack, wickelte sich
darin ein und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.
***
Schließlich
senkte sich die Nacht über die weiten Ebenen. Zwischen den
Sträuchern raschelte es ein bisschen. Ein ärgerlicher Laut folgte.
Noch ein kurzes rascheln. Dann war es wieder still. Eine dunkle
Gestalt kam lautlos aus dem Gebüsch, neben dem sich der Junge
niedergelassen hatte und huschte zu einem einzeln stehenden Baum.
Flink wie eine Katze war die Gestalt an dem glatten Stamm
emporgeklettert und saß nun im Astwerk, gut verborgen vom dichten
Laub. Durch eine Lücke behielt der Unbekannte den Schlafenden im
Auge. Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Wie rührend hilflos
hatte sich dieser Neuling positioniert. Wie auf dem Präsentierteller
lag er da und schlief wahrscheinlich so tief, dass man sich ruhigen
Gewissens neben ihm hätte schlafen legen können, ohne dass er es
vor dem nächsten Morgen bemerkt hätte.
Der
schattenhafte Beobachter machte es sich auf seinem Ast bequem und
beschloss, fünf Stunden lang zu schlafen. Fünf Stunden würden
reichen und bis dahin würde der Kleine da unten mit Sicherheit noch
nicht aufgebrochen sein.
***
Plötzlich
das Geräusch von Schritten. Fast wäre der Schatten von seinem Ast
gefallen, eine äußerst demütigende Art des Aufwachens, zumindest,
wenn man eine geheimnisvolle Daseinsform darstellt. Sofort wanderte
sein Blick auf den einsamen Schläfer dort unten.
Der
Schläfer war gar nicht mehr so einsam. Neben dem Jungen, der gar
nicht daran dachte, sich in seinem Schlaf stören zu lassen, war ein
Mann aufgetaucht, vielleicht 35 Jahre alt, abgerissene, schmutzige
Kleidung, und machte sich am Rucksack des Kleinen zu schaffen. Die
Gestalt auf dem Baum glitt schnell von demselben hinunter und schlich
sich näher. Der Rucksack war egal, aber wenn dem nichtsahnenden
Frischling da etwas zustieß, gab es niemanden mehr, der den Schatten
zu seinem Ziel führen konnte. Er kannte diese Art Räuber. Da wurde
nicht einfach heimlich das Gepäck geklaut, wenn es ging wurde gleich
jeder beseitigt, der sich eines Tages beschweren könnte. Richtig,
der Bandit hatte den Rucksack geschultert und zog ein langes Messer,
fast schon ein kurzes Schwert, augenscheinlich in der Absicht, es dem
Schlafenden zwischen die Rippen oder in den Hals zu jagen. Doch der
Schatten war schon zur Stelle. Ein Messer drückte sich gegen den
dreckigen Hals des Räubers, während eine Hand seinen Kopf an den
Haaren nach hinten zog.
„Nicht
so schnell“ flüsterte es. „Da habe ich auch noch ein Wörtchen
mitzureden.“
Der
Bandit war starr vor Angst.
„Was
willst du von mir?“
„Nein,
nein, die Frage müsste ganz anders lauten. Was willst du von dem
Jungen?“
„Ich
bin ein armer Mann...“ keuchte der zerlumpte Kerl. Der Schweiß
rann ihm in Strömen über die Stirn, aber er wagte es nicht, ihn
wegzuwischen.
„Natürlich
bist du das. Welcher reiche Mann würde sich auch ohne Weiteres
außerhalb der Siedlungen herumtreiben?“
Zur
Antwort kam nur ein Stöhnen.
„Nicht
so laut, mein Freund, sonst wecken wir noch den Kleinen da und das
wäre weder in meinem noch in deinem Interesse. Hör zu, ich mache
dir einen Vorschlag.“
Der
Fremde horchte auf. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
„Du
kannst den Rucksack behalten. Ich brauche ihn nicht und den Kleinen
hält er nur auf.“ Die Stimme machte eine kurze Pause. „Damit
machst du dich auf die Socken und lässt dich nie wieder irgendwo
sehen, wo dieser Junge auftaucht, verstanden? Du wirst ihm nie mehr
schaden und wenn du ihn durch Zufall mal irgendwo erblickst, trittst
du sofort den Rückzug an. Das ist meine Bedingung. Können wir uns
darauf einigen?“
„Natürlich...“
Das klang zu gut um wahr zu sein. Wo war der Haken?
„Gut“
sagte die Stimme, „dann haben wir ein Abkommen. Ich werde dir nicht
auf Wiedersehen sagen, denn das wäre dein Tod. Tschüss.“
Der
Mann spürte, wie sich der Griff der Finger in seinen Haaren
lockerte. Gleichzeitig verschwand die Messerspitze von seinem Hals.
Schnell wirbelte er herum, um zu sehen, wer ihn angegriffen hatte,
aber da war niemand mehr. Hinter ihm war nur die Schwärze der Nacht.
Der Bandit fröstelte. Er schnappte sich den Rucksack, der ihm
heruntergefallen war, sah sich noch einmal ängstlich um und schlich
sich davon, erst langsam und vorsichtig, dann immer schneller, bis er
schließlich in gehetztem Galopp in die Dunkelheit entschwand.
***
Der
Schatten sah ihn von seinem Baum aus in der Ferne verschwinden. Am
Horizont bildete sich bereits ein schwacher rötlicher Streifen. Noch
einmal warf die Gestalt auf dem Baum dem schlafenden jungen Mann
einen Blick zu und beglückwünschte sich zu dem Einfall, den Räuber
am Leben und mit dem Rucksack davonkommen zu lassen. Ohne schweres
Gepäck würde er zweifellos schneller vorankommen. Noch ein Blick an
den Himmel. Eine Stunde Schlaf würde noch möglich sein. Wie in
schwarze Flügel wickelte sich das Wesen auf dem Baum in seinen
Umhang ein und lehnte sich zurück.
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