Langsam stießen Fetzen von Wirklichkeit in sein Bewusstsein vor und
vertrieben Stück für Stück Schlaf und Traumreste. Licht drang
durch die geschlossenen Augenlider, das Gefühl der Decke, in die er
sich eingewickelt hatte, auf der Haut und allmählich auch die
Schmerzen, die das Liegen auf dem harten Boden verursachte. Leopold
schlug die Augen auf. Es war schon heller Vormittag. Über ihm wölbte
sich ein strahlend heller Postkartenhimmel und die Vögel
zwitscherten laut, während sie über ihm hin- und herflogen. Als er
sich aufrichtete merkte er nicht gleich, dass etwas fehlte.
Verschlafen faltete er seine Decke zusammen und wollte sie gerade in
den Rucksack stecken, nur dass da nichts mehr zum hineinstecken war.
Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz. Jemand hatte den Rucksack
geklaut! Irgendjemand musste ganz nah bei ihm gewesen sein und er
hatte nichts bemerkt. Wie verletzlich er in diesem Moment gewesen
war! Leicht hätte der Unbekannte ihm etwas antun können! Nun ja,
genaugenommen hatte er ihm etwas angetan. Leopold dachte über
all die Dinge nach, die er im Rucksack gehabt hatte. Einen großen
Teil seines Proviants hatte er glücklicherweise in einem Beutel
etwas abseits mit Steinen bedeckt, da er befürchtet hatte, wilde
Tiere könnten die Lebensmittel riechen und sie aus dem Rucksack
wühlen. Schnell warf er einen Blick an die Stelle, wo der Beutel
versteckt lag. Ja, er war noch da.
Das war aber auch schon fast das Einzige. Das Messer, das er sich zum
schnitzen und schneiden mitgenommen hatte war genauso verschwunden
wie die Streichhölzer und die warmen Sachen, die er sich eingepackt
hatte. Übrig geblieben waren nur die Decke, in der er geschlafen
hatte, der Proviant, die Sichel, die aus der Hand zu legen er sich
selbst in der Nacht nicht getraut hatte, und die Sachen, die er am
Leibe trug und in denen er noch ein paar Kleinigkeiten versteckt
hatte, Artefakte aus der Zeit vor der großen Katastrophe, die sich
im Besitz seiner Eltern befunden hatten und für die er sich
notfalls Nahrung eintauschen wollte. Derartige Überbleibsel aus der
Zeit, als die Menschen mit ihrer Technik noch wahre Wunder zu
vollbringe im Stande gewesen waren, waren, wenn sie noch
funktionierten, äußerst gefragt.
Dennoch war das, was ihm blieb äußerst wenig. Leopold dachte über
sein Dilemma nach, während er lustlos an einem Kanten trockenen
Brotes herumkaute, sah aber keinen anderen Weg als den, einfach
weiterzugehen. Wenn ihm der Verlust auch schwerwiegend erschien, so
war doch nichts im Rucksack gewesen, das er unbedingt zum Überleben
gebraucht hätte. Schließlich gab er sich einen Ruck, band die Decke
und den Proviantbeutel mit seinem Gürtel, den er sowieso nur
gebraucht hatte, um Dinge daran festzumachen, zusammen, warf sich das
Bündel über die Schulter und marschierte los, die Sichel in der
Faust.
***
Einige Stunden später, die Sonne hatte gerade ihren höchsten Punkt
überschritten und machte sich nun an den Abstieg, stieg Leopold auf
einen Hügel, um sich eine Übersicht über seinen weiteren Weg zu
verschaffen und sich bei der Gelegenheit eine Pause zu gönnen. Die
lange Wanderung hatte ihn sehr erschöpft. Fast schon ein bisschen
belustigt dachte er daran, wie es ihm wohl mit dem schweren Rucksack
auf dem Rücken ergangen wäre. Vermutlich hätte er schon nach der
Hälfte der Zeit pausieren müssen und wäre auch noch lange nicht so
weit gekommen. Gerade war er auf der Hügelkuppe angekommen und hatte
sich ins stoppelige Gras sinken lassen, da hörte er Schüsse.
Erschrocken fuhr er hoch. Schüsse hörte man äußerst selten. Zwar
gab es genügend Feuerwaffen aus den verschiedensten Epochen, die
überall auf der Erde kursierten. Von der Steinschlosspistole bis zur
Panzerfaust war eigentlich alles zu finden. Woran es jedoch mangelte,
war Munition. Zwar gab es einige Menschen, die sich auf die
Herstellung von Pulver verstanden und auch in der Lage waren, Kugeln
zu gießen, aber die so hergestellten Geschosse eigneten sich erstens
nicht für Waffen jüngeren Datums, zweitens waren die Leute, die
sich damit auskannten, äußerst dünn gesät. Aus diesen Gründen
gingen die wenigen, die neben einer Waffe auch passende Munition
besaßen, ausgesprochen sparsam damit um. Kein Schuss durfte
verschwendet werden, weil die jeweilige Pulverladung kaum zu ersetzen
war. Eben darum war davon auszugehen, dass das Geräusch abgefeuerter
Pistolen nicht auf ein Zielschießen hindeutete, sondern auf eine
echte Notsituation. Entweder für den, der geschossen hatte, oder für
seinen Gegner.
Leopold war den Hügel wieder hinabgestiegen, immer in die Richtung
der Schüsse. Inzwischen konnte er auch Schreie und hektische
Schritte hören. Dann wurde alles still. Leopold ließ sich zu Boden
fallen und robbte auf den Kamm einer Bodenwelle.
Vor ihm lag eine kleine Senke. An ihrem Grund lagen die Leichen eines
Pferdes und einiger Männer, augenscheinlich Händler, sowie die
Überreste eines aus Schrott zusammengebauten Pferdewagens. Der Wagen
war wohl geplündert worden, jedenfalls standen nur einige
aufgebrochene Kisten darauf, ansonsten war er leer. Wer immer diese
Leute überfallen hatte, hatte so gut wie alles mitgenommen und keine
Überlebenden zurückgelassen. Mit einer Mischung aus Neugier und
Widerwillen machte Leopold sich auf den Weg in die Senke, um die
offenen Kisten zu untersuchen. Es mochte schamlos erscheinen, aber in
seiner Situation war er auf alles angewiesen, was er kriegen konnte.
Mit vorsichtigen Schritten umging er die Leichen, kletterte
schließlich auf den teilweise demolierten Karren und begann, die
Kisten zu durchwühlen.
Wie er sich schon gedacht hatte, fand sich nichts brauchbares. Alles,
was übrig geblieben war waren zwei kleine Beutel mit Saatgut, die er
auf seiner Reise nicht würde brauchen können, das Kerngehäuse
eines Apfels, ein kleines Kästchen voller grob geschmiedeter Nägel
und jede Menge Sägespäne, die wohl etwas zerbrechliches hatten
polstern sollen.
Enttäuscht stieg Leopold wieder vom Wagen und wollte ihn gerade
umrunden, als ein dreckiger kleiner Mann hinter dem Gefährt
hervorsprang. Der Mann hatte fettiges, langes Haar, einen Stoppelbart
und einen gebeugten Rücken. Was Leopold jedoch weitaus mehr
beeindruckte war das lange Schwert in seiner Hand und die Wildheit in
seinem Blick. Ohne in der Bewegung innezuhalten hob der Mann das
Schwert und ließ es auf Leopolds Kopf zusausen. Gerade noch
rechtzeitig schaffte er es, seine Sichel zu heben und den Schlag zu
parieren, indem er ihn mit der hohlen Seite der Klinge auffing. Er
stolperte ein paar Schritte zurück und sah entsetzt, dass zwei
weitere Wegelagerer hinter dem ersten aufgetaucht waren und mit
langsamen Schritten und einem irren lächeln auf den Gesichtern auf
ihn zuhielten. Sie alle trugen mehr oder weniger zerlumpte Kleidung,
in der Hand jedoch jeder ein scheinbar sorgfältig gepflegtes
Schwert, das aussah, als hätte sein Besitzer es aus den Teilen eines
kaputten Autos zusammengebaut, nichtsdestotrotz aber einen äußerst
stabilen und scharfen Eindruck machte.
„Sie mal einer an“, sagte einer der beiden neu hinzugekommenen,
„da ist ja doch noch einer übrig.“
„Hätte ich nicht gedacht“, grunzte der andere, ein gedrungener
Kerl, der eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Hängebauchschwein
aufwies, „ich war tatsächlich der Meinung, wir hätten sie alle
erwischt.“
„Oh,“ ließ sich der kleine Krumme vernehmen, der direkt vor
Leopold stand, „meint ihr wirklich, dass der einer von denen ist?
Ich habe so das Gefühl, er gehört gar nicht... zum Club...“
Beifälliges Gelächter aus der zweiten Reihe. Leopold brachte keinen
Ton heraus. Aus ihm würde wohl nie ein Held werden. Ein Held hätte
jetzt irgendeinen lässigen Spruch parat. Doch schon ergriff der
Krumme wieder das Wort und erlöste ihn vom Zwang, etwas zu sagen.
„Naja“, knurrte er, „einer mehr oder weniger, darauf kommt es
ja jetzt auch nicht mehr an.“
Bei seinem letzten Wort sprang er nach vorn und schwang seine Klinge.
Leopold duckte sich weg, geriet dabei ins Straucheln und fand sich
auf dem Boden sitzend wieder. Verzweifelt versuchte er, rückwärts
von seinem Gegner wegzukrabbeln, um etwas Abstand und Zeit zu
gewinnen, aber dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt. Mit
langen Schritten kam der Bandit hinterher, hob sein Schwert und ließ
es auf Leopold niedersausen.
Im letzten Augenblick drehte Leopold sich zur Seite. Der scharfe
Stahl durchschnitt die Luft und der Krumme taumelte. In diesem
Augenblick drehte Leopold sich wieder zurück und schwang dabei mit
der rechten Hand auf gut Glück die Sichel durch die Luft. Er hatte
nicht gezielt, eigentlich auch gar nicht genau darüber nachgedacht,
was er da eigentlich tat. Im Affekt schlug er das erste Mal mit
seiner Waffe zu. Dem Ergebnis tat das jedoch keinen Abbruch. Leopold
spürte, wie die Spitze der Sichel etwas traf, wie sie Gewebe
durchschnitt und sich etwas warmes auf seine Hand ergoss. Schließlich
öffnete er die Augen, die er beim umdrehen unwillkürlich
geschlossen hatte. Er sah direkt in das erstaunte Gesicht des
Banditen, der eben dabei war, das Gleichgewicht völlig zu verlieren.
Unterhalb dieses Gesichts spritzte eine rote Flüssigkeit hervor und
tränkte die beiden von oben bis unten. Mit einem schweren Plumps
landete der tote Körper des Wegelagerers auf Leopolds höchst
lebendigem. Einen Moment lang war er zu geschockt, um sich zu
bewegen. Dann fielen ihm die anderen beiden Banditen wieder ein. Ohne
einen weiteren Gedanken an die vorangegangene Szene zu verschwenden
wand er sich unter der Leiche hervor und sah sich kampfbereit nach
den Gefährten seines toten Gegners um.
Zwei weitere Leichen lagen im Rund der Senke. Leopold sah sie sich
ungläubig an. Jeder von ihnen hatte ein Wurfmesser im Rücken. Eine
große Blutlache hatte sich schon gebildet und begann gerade, sich
mit der von ihm verursachten zu vereinigen. Er sah sich ängstlich
um, aber es war niemand zu sehen. Schließlich nahm er die beiden
Messer an sich und verließ diesen gespenstischen Ort.
***
Hinter
den Überresten des Karrens regte sich etwas. Ein Schatten löste
sich von den Umrissen des Gefährts und begab sich zum nächsten
Hügel, um dem jungen Wanderer noch ein wenig nachzusehen.
Seine
Gedanken kreisten um diesen jungen Mann. Die erste Einschätzung war
wohl doch nicht so ganz richtig gewesen. Natürlich war der Junge
unerfahren, aber am heutigen Tage hatte er sich gut geschlagen.
Beinahe wäre alles schief gegangen. Zu spät, viel zu spät hatte
der geheimnisvolle Fremde die Wegelagerer bemerkt. Wertvolle Zeit war
verstrichen, während er auf Wurfweite herangeschlichen war.
Schließlich hatte die Schattengestalt es geschafft, zwei der
Wurfmesser ihr Ziel finden zu lassen, aber der dritte der Banditen
hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon auf den kleinen gestürzt und
ein gezielter Wurf, bei dem eine Verletzung des Jungen ausgeschlossen
werden konnte, war nicht mehr möglich gewesen. Das erste Mal auf
seiner Reise war er in einer Gefahrensituation ganz auf sich gestellt
gewesen. Dass er diese Situation so gut gemeistert hatte imponierte
seinem Beobachter. Möglicherweise würde der Junge sich den
Verhältnissen hier draußen doch noch anpassen und die Fähigkeiten
entwickeln, die nötig waren, um in dieser Welt zu überleben. Schade
war es nur um die Wurfmesser. Der Frischling hatte sie eingesteckt.
Früher oder später würde der Schatten sie sich wieder holen
müssen. Es waren zwar noch drei übrig, aber es war nie besonders
klug, sein Waffenarsenal zu weit zu verstreuen. Besser, alles
griffbereit zu haben. Mit ruhigen, sicheren Bewegungen, denen doch
eine katzenhafte Eleganz eigen war, machte sich die schwarz
bekleidete Gestalt wieder auf den Weg, immer hinter Bäumen, Büschen
oder Hügeln verborgen, immer dem jungen Mann nach, der dort vorne
mit langen Schritten seinem unbekannten Ziel zustrebte.
***
Erst
einige Stunden später machte Leopold wieder halt. Die Szene mit den
Banditen wollte ihm nicht aus dem Kopf. Noch immer schauerte er
zusammen, wenn er sich an das Gefühl erinnerte, wie die Klinge
seiner Sichel Muskeln und sehnen des Halses seines Gegners
durchschnitten hatte. Sofort erinnerte er sich auch an das
entsprechende Geräusch, das ihn immer noch zusammenfahren ließ.
Immer wieder versuchte er sich klar zu machen, dass er in Notwehr
gehandelt und gar keine Wahl gehabt hatte, dass er außerdem ja nicht
einmal beschlossen hatte, den Mann zu töten, sondern es einfach
passiert war, aber trotzdem blieb eine innerliche Schockstarre
und das Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben. Erschöpft setzte
er sich nieder und versuchte, mit auf dem Weg aufgelesenen Stöckern,
dürren Zweigen und etwas trockenem Gras ein Feuer zustande zu
bringen. Zu seinem allergrößten Erstaunen wurden seine Bemühungen
schon nach kurzer Zeit belohnt. Bald hatte er aus seiner anfänglichen
Glut ein kleines Flämmchen gemacht, das langsam auf die ersten
Zweige übergriff.
Inzwischen
war es dunkel geworden. Leopold saß an seinem kleinen Feuer und
wärmte sich die Hände und ein Stück alten Schinken, Überbleibsel
seiner Vorräte von zu Hause. Bald würde er sie aufstocken müssen,
am besten im nächsten Dorf. Einige Dinge hatte er noch, die er
eintauschen konnte, nicht viele, aber seiner Einschätzung nach
genug, um damit bis zu seiner Ankunft in Bucktopia über die Runden
zu kommen. Zumindest, wenn er sich beeilte.
Leopold
breitete seine Decke aus und ließ sich darauf nieder. Ein
anstrengender Tag lag hinter ihm, ein weiterer wartete bereits.
Höchste Zeit, die Kräfte im Schlaf zu erneuern. Er schloss die Hand
um den Griff seiner Sichel und kurz darauf die Augen.
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