MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Samstag, 20. Juli 2013

VerZweifeln

von Sir John

Eine kleine Abendgesellschaft hat sich nach dem Dinner im Rauchersalon eingefunden. Einzelne Gesprächskreise haben sich auf die Sitzgruppen verteilt. In einer Ecke, den Blick halb dem Gesprächspartner, halb dem Raum zugewandt, sitzen ein Zweifler und Ein Guter Mensch auf einer Couch und unterhalten sich.

EGM: Jetzt muss ich Sie doch noch einmal darauf ansprechen. Verzeihen Sie, aber ich fand eine Ihrer Bemerkungen beim Essen vorhin überaus befremdlich. Sie sprachen davon, dass... wie war das gleich... im kosmischen Maßstab die Existenz der Menschheit nicht wichtiger sei, als die jeder anderen Spezies. Das sagten Sie doch gewiss nur im Scherz?
Zweifler: Nun verraten Sie mir doch bitte eins. Ist Ihnen die Menschheit wichtig?
EGM: Wie können Sie so etwas fragen? Natürlich ist sie mir wichtig.
Zweifler: Warum?
EGM: Warum? Sie stellen vielleicht Fragen! (zögert) Also... ich bin ja selbst ein Mensch...
Zweifler: Also ist „die Menschheit wichtig finden“ für Sie nur ein Alibi, um sich selbst wichtig finden zu können?
EGM: Selbstverständlich nicht! Es gibt viele Menschen, die mir etwas bedeuten...
Zweifler: Moment, das ist ein Missverständnis. Ich wollte wissen, ob Ihnen die Menschheit wichtig ist. Wovon Sie gerade sprechen sind Menschen.
EGM: (ärgerlich) Das ist doch Wortklauberei!
Zweifler: Ich halte es für einen gravierenden Unterschied. Lassen Sie es mich an einem Beispiel erklären. (überlegt kurz) Nehmen wir mal an, sie hätten … ein Ratte.
EGM: Igitt!
Zweifler: Viele Menschen haben Ratten als Haustiere. Völlig zahme Hausratten, sauber und gepflegt. Aber gut. Was sagen Sie zu einem Hund? Mögen Sie Hunde?
EGM: Ja, sehr! Als Kind wollte ich immer einen haben. Einen Rauhaardackel...
Zweifler: Nun gut. Dann stellen Sie sich vor, sie wären stolzer Rauhaardackelbesitzer. Das kleine Tier gehorcht aufs Wort, ist anhänglich und verspielt. Sie kümmern sich regelmäßig um die Fellpflege, geben dem Hund das Futter und gehen regelmäßig mit ihm spazieren. Das kleine Fellknäuel wäre Ihr kleiner Liebling, Ihr ganzer Stolz. Können Sie sich das vorstellen?
EGM: (verträumt) Das kann ich mir sehr gut vorstellen.
Zweifler: Nun gut. Jetzt lesen Sie in der Zeitung etwas, wie diese Meldung neulich, als wieder einer dieser Kampfhunde ein kleines Kind angefallen hat. Wie finden Sie das? Und vor allem: Was denken Sie über den Hund?
EGM: Ich fand es schon immer unerhört, dass solche Viecher ohne Maulkorb herumlaufen! Die gehören eingeschläfert und die Besitzer streng überwacht. Das ist doch gemeingefährlich, sich so ein Tier überhaupt erst zuzulegen.
Zweifler: Und wie ist es mit all den Hunden, die irgendwo herumstreunen, aus Mülltonnen fressen, sich gegenseitig totbeißen und so weiter? Verlauste stinkende Köter?
EGM: Naja, die können ja nichts dafür...
Zweifler: (unterbricht) Würden Sie einen aufnehmen?
EGM: Nein, das... nein, ich... ich glaube nicht...
Zweifler: Aha. Und wenn ich Sie jetzt noch einmal frage, ob Sie Hunde mögen, bleibt Ihre Antwort die selbe?
EGM: Ich... Nun ja, ich mag manche Hunde.
Zweifler: Und das sind ausschließlich welche, die Sie kennen. Den Großteil der weltweit vorhandenen Hunde kennen Sie aber nicht und selbst unter denen, bei denen das doch der Fall ist dürfte es welche geben, die Ihnen mit ihrem Gebell auf die Nerven fallen oder vor denen Sie Angst haben, weil sie Ihnen eine Nummer zu aggressiv sind. Ähnlich ist es auch bei den Menschen.
EGM: Moment mal! Ich hab nicht gesagt, dass ich Angst vor Menschen habe.
Zweifler: Nein, aber wenn Sie genau über sich nachdenken wird Ihnen auffallen, dass es nur einige wenige Menschen gibt, die Ihnen wirklich etwas bedeuten. Die meisten sind Ihnen eigentlich egal.
EGM: Das können Sie so nicht sagen.
Zweifler: Nicht? Mal ganz ehrlich, was geht Ihnen so durch den Kopf, wenn Sie im Fernsehen einen Bericht über hungernde Südamerikaner oder arbeitslose Asiaten lesen?
EGM: Naja, ich denke, man sollte helfen, nicht tatenlos zusehen...
Zweifler: Und? Machen sie das? Natürlich nicht, genausowenig wie der größte Teil der restlichen Zuschauer des betreffenden Programms. Und warum nicht?
EGM: Man hat ja auch immer noch andere Dinge...
Zweifler: (unterbricht) Unsinn! Es gibt nichts, was sie davon abhalten könnte, zu helfen, wenn Ihnen wirklich etwas daran läge. Man soll nicht tatenlos zusehen? Ihnen wäre es doch viel lieber, gar nicht zu- sondern möglichst ganz woandershin zu schauen und sich um ihren eigenen Kram zu kümmern. Wenn Sie dann doch mal im Fernsehen auf so einen Bericht stoßen, ertappen Sie sich dabei, dass Sie insgeheim froh sind, dass es Ihnen vergleichsweise gut geht und kriegen ein schlechtes Gewissen, weil Sie gelernt haben, dass man beim Anblick des Leids anderer verdammt nochmal Betroffenheit zu zeigen hat, statt sich wohlzufühlen. Sie aber sind nicht betroffen. Sie fühlen sich auch nicht betroffen und das werfen Sie sich innerlich mehr vor, als die Tatsache, dass Sie den armen Leuten auf der Mattscheibe nicht mal zu helfen versuchen. Dieses schlechte Gewissen lässt sich nicht durch Taten beseitigen, weil es sich nicht auf Taten bezieht. Also schwelgen Sie weiterhin in Bequemlichkeit und Ihrem als Mitgefühl getarnten Selbstmitleid.
EGM: Aber ich wollte doch nur...
Zweifler: Derweil sind Ihnen die Menschen, die da in Hunger und Armut leben, völlig egal. Sie bedeuten Ihnen nichts. Wie auch? Sie hatten niemals die Möglichkeit, eine emotionale Bindung zu ihnen aufzubauen. Die Leute, zu denen Sie eine solche Bindung haben, werden immer nur einen winzigen Bruchteil der Erdbevölkerung ausmachen. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass Ihnen die Menschheit, diese unselbstständige, tumbe Masse, als Ganzes sonstwo vorbeigeht. Was Sie wichtig finden sind Sie selbst und einige Personen, die Ihr leben und damit Ihr ach-so-wichtiges Ich entscheidend prägen. Und wissen Sie was? Ich gratuliere Ihnen zu dieser Einstellung. Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen, denn mehr als alles andere sagt mir das: Sie sind ein Mensch.

(beide schweigen; nach langer Pause)


EGM: Möglicherweise haben Sie Recht. Aber will ich dann überhaupt noch ein Mensch sein?

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