MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Sonntag, 28. Juli 2013

Prism in-your-facebook

oder: Ein Tag im Leben eines glücklichen Menschen
von Sir John

Morgens um 7. Mein Wecker klingelt. Ich schlage meine Augen auf und höre dem kleinen Nervtöter zu, wie er erst meine Lieblingsmusik spielt, um danach zu beginnen, mir meine Pläne für den heutigen Tag vorzulesen. In dem Moment, in dem ich wach genug bin, um aufzustehen und es auszuschalten, beziehungsweise, um es wutentbrannt gegen die Wand zu feuern, verstummt das Gerät. Ich stehe auf und gehe zum Kleiderschrank. Kurz bevor ich ihn erreicht habe, kommen mir aus einem Schlitz in der Schranktür eine Jeans, eine Unterhose, ein T-Shirt von einer meiner Lieblingsbands und Socken entgegengepurzelt. Ja, mein Mobiliar kennt mich. Ich überlege. Kann man den Schrank überhaupt öffnen? Von außen sieht er aus, als könne man, aber ich hatte schon seit Jahren keinen Anlass mehr, es zu probieren.
In der Küche steht bereits eine Tasse Kaffee bereit. Ich grüße kurz in die Überwachungskamera, eine Gewohnheit, vor Jahren einstudiert, als die Komplettüberwachung noch neu war.
Damals konnte ich auch noch bestimmen, wann mein Fernseher läuft. Und wo er steht. Seit ich eingetreten bin unterhält mich das Ding mit einer Vielzahl an exakt auf meine Bedürfnisse zugeschnittenen Werbespots. Irgendwo dazwischen, gut in Produktinformation verschiedenster Art verpackt, muss es wohl auch soetwas wie Nachrichten geben. Man muss aber schon sehr genau hinhören. Meine Freundin benutzt die Werbung immer, um Einkaufszettel zu schreiben. Normalerweise weiß unser Fernseher besser, was wir brauchen, als wir selbst.
Nach dem Frühstück verlasse ich das Haus. Über der Eingangstür prangt groß das Google-Logo. Ein Komplettsystem mit zugehöriger Einrichtung. Jeder hat eins. Es gibt keine anderen Häuser mehr. Ich setze meinen Weg zur U-Bahn fort. Die fliegenden Kameras, die mir auf Schritt und Tritt folgen, beachte ich gar nicht. Sie sind wie Mücken, nur dass sie nicht stechen. Jedenfalls nicht so oft, nur einmal in der Woche, zur Blutprobenentnahme.
Ihr fragt euch, was hier los ist? Ach ja, ihr seid geschichtlich nicht ganz auf dem neuesten Stand. Wir schreiben inzwischen das Jahr 2057. Seit 2013 hat sich einiges getan. Google hat Facebook aufgekauft und anschließend angefangen, den verschuldeten Staaten Land abzukaufen. Die NSA hat die Gunst der Stunde erkannt. Die gesamte Belegschaft bot Google ihre Hilfe an und wie auf die große Erfahrung im Bereich der „Verwaltung von Fremddaten“ hin, die Google, nunmehr Inhaber der größten Menge privater Daten von Internetnutzern auf der ganzen Welt, dringend brauchte. Das Riesenunternehmen schluckte also auch die NSA unter Beibehaltung aller Arbeitsverhältnisse. Als kleinen Bonus brachten die neuen Mitarbeiter gleich sämtliche streng geheimen Daten mit, die auf ihren Festplatten gespeichert waren. Als die anderen amerikanischen Geheimdienste davon Wind bekamen sahen sie auch, dass ihre Regierung gegen dieses gigantische Enthüllungspotential kaum eine Chance hatte. Auch sie liefen über, gefolgt von sämtlichen Streitmächten der einstmaligen Großmacht. Daraufhin ergaben sich die USA kampflos dem Riesenkonzern. Der kaufte weiterhin ganze Länder auf, bis der klägliche Rest der Weltgemeinschaft sich dem neuen Imperium freiwillig anschloss. Die geballte Macht aller Geheimdienste, die ja außer den eigenen Bürgern niemanden mehr zum bespitzeln hatte, verbündete sich nun mit dem größten Datenstaubsauger der Welt, der sich zwischenzeitlich noch mit weiteren sozialen Netzwerken gestärkt hatte, um nun, da sämtliche politische Gewalt ihm übergeben worden war, einfach das gesamte Internet zu konfiszieren.
Das Ergebnis ist eine Überwachung ohne Lücken. Mein Haus beispielsweise sendet nicht nur stündlich Berichte über meinen Nahrungsverbrauch und Kleidungsvorliebe an die zentralen Server, auch meine gesundheitlichen Daten werden erhoben, meine Stimmungen, was ich sage oder tue, wie ich etwas sage. Mein Bett misst in der Nacht Puls, Körpertemperatur und noch einige Dinge mehr, mein Urin wird automatisch analysiert, ständig sammelt das System Daten darüber, was mir gefällt oder nicht, was ich brauche, aber auch, was man mich glauben machen könnte, zu brauchen. Es wird gemessen, wie lange ich welchen Werbespot sehe und wie oft ich meine Freundin „Schatz“ oder „Schnucki“ nenne. Ein Mangel an Zärtlichkeiten verbaler wie physischer Natur kann schon einmal dafür sorgen, dass ich ab diesem Moment überall Werbung für Partnervermittlungen begegne. Haben wir ein paar Nächte in Folge keinen Sex, werde ich ohne Umschweife ans nächste Bordell verwiesen, wobei auch ein Hinweis auf eine bestimmte Prostituierte zu finden ist, deren körperliche Merkmale laut einer Analyse der Dauer meiner Betrachtung verschiedener Werbeplakate mit leichtbekleideten Frauen, am ehesten meinem Geschmack entspricht. Selbst das leichte Zögern bei der Wahl der Brotsorte im Supermarkt wird sofort erfasst, in komplizierten Verfahren in eine messbare Größe und einen Wert überführt, der die vollautomatisierten Regale im Supermarkt veranlasst, mir in der nächsten Woche nur noch Vollkornbrot anzubieten, obwohl ich doch zum Frühstück gerne Toast hätte. Eine weitere Woche später weiß das System auch dies.
Ich komme ein bisschen zu spät an der U-Bahn-Station an. Der Zug hat auf mich gewartet. Die anderen Fahrgäste nehmen die Verzögerung ruhig zur Kenntnis. Schließlich wurden sie schon heute früh von ihrem Wecker darauf hingewiesen, dass heute jemand zu spät kommen würde. Ihre Arbeitgeber wissen auch Bescheid, also alles in Ordnung.
Da Google weiß, wer wann wohin fahren will, ist der gesamte öffentliche Nahverkehr durchgeplant. Jeder, der die U-Bahn nimmt, hat auch einen Sitzplatz. Ich schaue mich um. Ah, da hinten. Erleichtert lasse ich mich auf den Sitz fallen und beginne mit der Lektüre des Buches, das mir mein Handy für heute verordnet hat.
Nach einigen Minuten erreiche ich das Lesezeichen, das mir das System ins Buch gelegt hat. Das ist für mich das Zeichen, das Buch wegzupacken und aufzustehen. Als ich die Tür erreiche, hält der Zug gerade und entlässt mich und einige andere in das klinisch saubere Innere einer U-Bahn-Station.
Auf dem Weg zur Arbeit werde ich von meinem Handy daran erinnert, dass ich Lust auf einen Snack habe. Ich betrachte den Kiosk, an dem ich eben vorbeigehen wollte. Was soll ich nehmen? Cupcake, Éclair, Donut, Gingerbread? Oder vielleicht doch lieber ein Ice Cream Sandwich? Die Entscheidung wird mir abgenommen. Die Verkäuferin hat bereits etwas eingepackt, reicht es mir herüber und wünscht mir einen schönen Tag. Ich weiß noch nicht, was ich da jetzt eigentlich habe, aber mit Sicherheit ist es genau das, worauf ich dann beim Auspacken Lust verspüre. Gleichgültig schiebe ich die Tüte in meine Tasche.
Ich arbeite in einer großen Firma im Büro. Meine Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, Stempel auf Papiere zu drücken. Die Papiere wurden vorher bereits von einem Computer ausgefüllt, ich lese sie nicht einmal mehr durch. Nicht sehr anspruchsvoll, aber eigentlich hat niemand, den ich kenne, einen fordernderen Job. Die wirklich schwierigen Sachen werden ausschließlich von Computern gemacht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es überhaupt noch einen Menschen am Ende der Befehlskette gibt, einen, der alles plant. Ist mir im Grunde aber auch nicht so wichtig.
Nach Feierabnd habe ich noch Einkäufe zu erledigen. Eigentlich sind die Supermärkte sinnlos geworden. Man könnte den Leuten auch einfach ihre Rationen zuteilen, etwas anderes kriegt man da auch nicht, aber die Illusion einer eigenen Entscheidung ist aufregend und der Spaziergang durch die Regalreihen ein Relikt aus längst vergangener Zeit, das ältere Menschen wie mich in nostalgische Verzückung versetzt.
Die omnipräsenten Bildschirme verraten mir durch entsprechende Werbespots, was ich so brauche. Ich sammele die entsprechenden Dinge ein, ohne weiter darüber nachzudenken. Jahrelange Gewohnheit. Dann gehe ich zur Kasse. Die Kassiererin guckt auf ihren Bildschirm, lächelt und sagt: „Sie haben die Milch vergessen.“ Natürlich hat sie gleich zwei Schachteln parat und legt sie ohne zu fragen zu meinen Einkäufen. Auch hier funktioniert die weltweite Cloud. Man kennt mich.
Zuhause lese ich noch ein wenig. Dann, zur standardisierten Fernsehzeit, schalte ich das Gerät ein und lasse mich berieseln. Keine Ahnung, was läuft.
Nach dem üblichen Zubettgehritual winke ich noch einen Abschiedsgruß in die Schlafzimmerkamera. Auf meinem Nachttisch liegen Schlaftabletten. Das System hat meinen Tagesablauf analysiert und festgestellt, dass ich sie brauchen werde. Na dann, runter mit dem Zeug. Morgen wird wieder ein wundervoller Tag.

Zurück im Jahr 2013. Vorhin erreichte mich eine Nachricht über die Website des Hessischen Rundfunks. Die Facebookseite einer geplanten Anti-Prism-Demo wurde ohne Ankündigung gelöscht. Aha. Facebook und Prism.

Die Verschmelzung hat begonnen.

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