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Samstag, 13. Dezember 2014

Kälte. Folge 2: Ein Raum voller Fragen

Die Luft, die ihm entgegenschlug, war kalt. Er sah sich um. Im Dämmerlicht, das durch das Fenster über dem Schreibtisch hereinfiel, der an der linken Schmalseite des engen Raumes stand, konnte er erkennen, dass sich nicht viel verändert hatte. Ganz wie erwartet. Noch immer lag ein altes Notizbuch auf dem Schreibtisch. Eine Kerze stand daneben, natürlich nicht entzündet. Neben dem Schreibtisch gab es nur zwei Möbelstücke in dem kleinen Raum. Ein wackliger Stuhl stand vor dem Schreibtisch. Auf der anderen Seite stand ein Bett. Und auf dem Bett saß ein Mann. Mit starrem Blick musterte er Aaron. Aus dem Fenster über seinem Kopf stäubte Schnee über ihn und den Fußboden, wo er eine feine, weiße Schicht bildete.
„Mist“ entfuhr es Aaron. Mit eiligen Schritten ging er hinüber und schloss das Fenster.
Dann betrachtete er den Mann auf dem Bett.
Seine Wangen waren eingefallen, sein Gesicht bleich. Der dunkle Spitzbart war vereist, ebenso der Schnurrbart. Hatte es von der Tür aus noch so gewirkt, als betrachte er jeden Neuankömmling mit leichtem Erschrecken, so konnte man von Nahem erkennen, dass die gebrochenen Augen gar nichts fixierten. Der Mann war tot. Seine Hände, die kraftlos in seinem Schoß lagen, waren dunkel von etwas, das wohl sein Blut war, auch wenn man es nicht mehr auf den ersten Blick erkannte. Aaron wusste genau, dass diese Hände versucht hatten, die Wunde zu schließen, die sich im Bauch des Mannes aufgetan hatte, die Schusswunde, die ihn letztlich das Leben gekostet hatte, doch die Wunde war nicht mehr zu sehen, versteckt unter hereingewehtem Schnee, und auch der Schütze war längst verschwunden.
Aaron schauderte. Oft hatte er in den letzten Tagen daran gedacht, hinüberzugehen und diese Augen zu schließen, die ihn nun so vorwurfsvoll anstarrten. Nie hatte er es jedoch über sich gebracht, den toten Körper noch einmal zu berühren. Den Toten, der einst sein Bruder gewesen war. Auch jetzt gelang es ihm nicht, seine Scheu zu überwinden. Hastig tastete er mit den Händen die Seite des Körpers ab, fand in einer Tasche den Kompass und am Gürtel das Messer. Er nahm beides an sich. Dann sah er in das tote Gesicht. Wie hatte es dazu kommen können? Was war der Grund dafür, dass er nun keinen Bruder mehr hatte, dass er allein am Ende der Welt in einem von Schneestürmen umtosten Blockhaus saß und sich darauf vorbereitete, sehenden Auges in sein eigenes Verderben zu rennen?
Da war diese Frau gewesen. Ob sie das hier geplant hatte? Hatte sie Erik umbringen wollen? Dabei hatten doch alle, er selbst, Aaron, inbegriffen, ihr geglaubt. Fast ein Jahr war sie schon mit Erik zusammen gewesen... Alles nur gespielt? Über einen so langen Zeitraum? Warum? Es hätte doch leichter, so viel leichter sein können.

Nein, als sie ihn gebeten hatte, mit ihr auf diese Reise zu gehen, hatte sie etwas anderes im Sinn gehabt. Er hatte nicht sterben sollen, etwas war schief gelaufen. Aber was? Aaron konnte es sich nicht erklären. Genausowenig, wie er sich einen Reim auf all die anderen Dinge machen konnte, die in letzter Zeit passiert waren.  

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