Der nächste Morgen brachte besseres Wetter und damit die
Entscheidung. Aaron zog seine warmen Sachen an, steckte noch dies und
das in den Rucksack, was er am Abend zuvor noch gebraucht und daher
nicht eingepackt hatte, und verließ die Hütte.
Vor ihm streckte sich eine weite, weiße Welt. Der Schneesturm hatte
die gesamte Landschaft verändert. Neue Schneehügel waren
entstanden, andere abgetragen worden, und die Oberfläche der
frischen Schneeschicht lag rein und unberührt vor ihm. Kurz wurde in
ihm die Art Ergriffenheit und Ehrfurcht wach, die ihn als Kind immer
befallen hatte, wenn über Nacht der erste Schnee gefallen war und am
Morgen die ganze Welt von einer unangetasteten, jungfräulichen
Schneeschicht überzogen war. Ein Gefühl lustvoller Zerrissenheit
hatte damals dazugehört, die Gewissheit, diese Reinheit genau so
betrachten und erhalten zu wollen, während gleichzeitig der Wunsch
wuchs, sie mit den eigenen Füßen zu zerstören, bevor es jemand
anders tat und man nicht mehr der erste wäre, der seine Spuren in
den frischen Schnee zieht.
Aaron riss sich gewaltsam aus seinen Gedanken und schaute sich noch
einmal um. In einer Richtung konnte er fern am Horizont einen
Höhenzug erkennen, in einer anderen einen dunklen Streifen, der
vermutlich ein Wald war. In jeder anderen Richtung erstreckte sich
jedoch die ewig gleiche weiße Hügellandschaft bis in die
Unendlichkeit. Aaron wusste nicht mehr genau, woher er gekommen war.
Eine ungefähre Richtung war zwar anhand der Lage der Hütte nicht
schwer auszumachen, aber die Route, die er mit dem Schneemobil
gefahren war, war nicht einfach wie ein gerader Strich auf der
Landkarte verlaufen. Er hatte genaue Anweisungen von dem Mann
bekommen, der ihm das Fahrzeug geliehen hatte. Ein paar Landmarken
hatte er dabei beachten müssen, aber auch Streckenangaben, die er
mit seiner aktuellen Ausrüstung nicht messe konnte. Er erinnerte
sich zwar noch, dass ein Wald eine Rolle gespielt hatte, aber der,
den er in der Ferne erahnen konnte, zog sich über so viele Kilometer
hin, dass ihm dieses Wissen trotzdem keine Gewissheit über die
einzuschlagende Richtung gab. Die Spuren, die er und der Mörder im
Schnee hinterlassen hatten, waren durch den Schneesturm vollständig
ausgelöscht, ebenso wie alle Bodenformationen, die einigermaßen
über den einzuschlagenden Weg hätten Auskunft geben können. Wo
lang sollte er also gehen?
Schließlich entschied er sich dafür, einfach nach Süden zu
marschieren. Irgendwo in grob südlicher Richtung musste es
Siedlungen geben, irgendwo weiter südlich als hier war auch der Ort,
aus dem er hierhergefahren war und wenn man nach Süden ging, kam man
irgendwann an Ausläufer des großen Waldes, der dort am Horizont zu
sehen war. Er hatte einen Kompass, jetzt hatte er auch eine Richtung.
Es konnte losgehen. Aaron schaute ein letztes Mal auf die kleine
Blockhütte. Er fröstelte. Dieses Haus mochte noch so friedlich
aussehen, wie es da im tiefen Schnee stand und Wärme und Schutz
versprach, für ihn war es der wohl schrecklichste Ort auf dieser
Erde. Er spürte förmlich, wie die aus Gründen überlebenswichtiger
Gedanken zeitweise zurückgedrängten Erinnerungen aus seinem
Unterbewusstsein hervorzubrechen drohten, um endlich eine angemessene
emotionale Reaktion zu fordern. Schnell drehte Aaron sich weg und sah
in die Richtung, die er mangels besseren Wissens zur richtigen
erklärt hatte. Er atmete tief durch – und tat den ersten Schritt.
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