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Freitag, 19. Dezember 2014

Kälte. Folge 5: Der erste Schritt

Der nächste Morgen brachte besseres Wetter und damit die Entscheidung. Aaron zog seine warmen Sachen an, steckte noch dies und das in den Rucksack, was er am Abend zuvor noch gebraucht und daher nicht eingepackt hatte, und verließ die Hütte.
Vor ihm streckte sich eine weite, weiße Welt. Der Schneesturm hatte die gesamte Landschaft verändert. Neue Schneehügel waren entstanden, andere abgetragen worden, und die Oberfläche der frischen Schneeschicht lag rein und unberührt vor ihm. Kurz wurde in ihm die Art Ergriffenheit und Ehrfurcht wach, die ihn als Kind immer befallen hatte, wenn über Nacht der erste Schnee gefallen war und am Morgen die ganze Welt von einer unangetasteten, jungfräulichen Schneeschicht überzogen war. Ein Gefühl lustvoller Zerrissenheit hatte damals dazugehört, die Gewissheit, diese Reinheit genau so betrachten und erhalten zu wollen, während gleichzeitig der Wunsch wuchs, sie mit den eigenen Füßen zu zerstören, bevor es jemand anders tat und man nicht mehr der erste wäre, der seine Spuren in den frischen Schnee zieht.
Aaron riss sich gewaltsam aus seinen Gedanken und schaute sich noch einmal um. In einer Richtung konnte er fern am Horizont einen Höhenzug erkennen, in einer anderen einen dunklen Streifen, der vermutlich ein Wald war. In jeder anderen Richtung erstreckte sich jedoch die ewig gleiche weiße Hügellandschaft bis in die Unendlichkeit. Aaron wusste nicht mehr genau, woher er gekommen war. Eine ungefähre Richtung war zwar anhand der Lage der Hütte nicht schwer auszumachen, aber die Route, die er mit dem Schneemobil gefahren war, war nicht einfach wie ein gerader Strich auf der Landkarte verlaufen. Er hatte genaue Anweisungen von dem Mann bekommen, der ihm das Fahrzeug geliehen hatte. Ein paar Landmarken hatte er dabei beachten müssen, aber auch Streckenangaben, die er mit seiner aktuellen Ausrüstung nicht messe konnte. Er erinnerte sich zwar noch, dass ein Wald eine Rolle gespielt hatte, aber der, den er in der Ferne erahnen konnte, zog sich über so viele Kilometer hin, dass ihm dieses Wissen trotzdem keine Gewissheit über die einzuschlagende Richtung gab. Die Spuren, die er und der Mörder im Schnee hinterlassen hatten, waren durch den Schneesturm vollständig ausgelöscht, ebenso wie alle Bodenformationen, die einigermaßen über den einzuschlagenden Weg hätten Auskunft geben können. Wo lang sollte er also gehen?

Schließlich entschied er sich dafür, einfach nach Süden zu marschieren. Irgendwo in grob südlicher Richtung musste es Siedlungen geben, irgendwo weiter südlich als hier war auch der Ort, aus dem er hierhergefahren war und wenn man nach Süden ging, kam man irgendwann an Ausläufer des großen Waldes, der dort am Horizont zu sehen war. Er hatte einen Kompass, jetzt hatte er auch eine Richtung. Es konnte losgehen. Aaron schaute ein letztes Mal auf die kleine Blockhütte. Er fröstelte. Dieses Haus mochte noch so friedlich aussehen, wie es da im tiefen Schnee stand und Wärme und Schutz versprach, für ihn war es der wohl schrecklichste Ort auf dieser Erde. Er spürte förmlich, wie die aus Gründen überlebenswichtiger Gedanken zeitweise zurückgedrängten Erinnerungen aus seinem Unterbewusstsein hervorzubrechen drohten, um endlich eine angemessene emotionale Reaktion zu fordern. Schnell drehte Aaron sich weg und sah in die Richtung, die er mangels besseren Wissens zur richtigen erklärt hatte. Er atmete tief durch – und tat den ersten Schritt.

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