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Dienstag, 27. Januar 2015

Kälte. Folge 16: Grün

Eine Weile lang saß Aaron einfach nur so da und betrachtete die Bäume, die ihn umgaben. Er kannte sich da nicht weiter aus, aber dass es sich um Nadelbäume handelte, konnte er sehen. Groß, schlank und augenscheinlich stachelig waren sie. Und grün. Dunkelgrün, zumindest die Kronen. Aaron konnte sich an dieser Farbe nicht satt sehen. Es waren nur ein paar Tage gewesen, die er durch den Schnee gestapft war, aber seine Fantasie hatte sie zu Wochen und Monaten gedehnt und so war es ihm tatsächlich, als wache die Natur nach einem langen Winter endlich wieder auf und die ersten Zeichen des Frühlings ließen sich sehen. Nun gut, dachte er sich, einen Unterschied gab es da doch noch. Normalerweise war es der Frühling, der zu ihm kam. Dieses Mal ging er in Richtung Frühling.
Kurz musste er zurückdenken an diese ersten Eindrücke der scheinbar unendlichen schneebedeckten Landschaft, die ihn vor nicht einmal zwei Wochen so beeindruckt hatten. Damals hatte er überlegt, ob der Winter vielleicht dazu da sei, die Augen der Menschen etwas zu entspannen, da er ja alle aufregenden Konturen und Formen unter einer unauffälligen weißen Decke verbarg. Jetzt hingegen spürte er, dass seine Augen die Herausforderung brauchten, die Farben, die Formen, all das, was die Welt lebendig erscheinen ließ. Wie muss es einem Blinden gehen, fragt er sich. Nimmt er den Unterschied zwischen Sommer und Winter so wahr wie ich? Spürt er also auf irgendeine Weise die Entspannung der Sinne? Werden die Menschen im Winter vielleicht leiser? Überrascht stellte er fest, dass er darauf nie geachtet hatte. Der Sehsinn bekam für gewöhnlich fast seine gesamte Aufmerksamkeit, was dazu führte, dass ihm Veränderungen, die die anderen Sinne betrafen, kaum bewusst wurden. Auch im Rückblick konnte er sich nicht ganz darüber klar werden, ob die Welt im Winter stiller wurde. Die Natur bestimmt. Viele Tiere hielten Winterschlaf, verschiedene Vogelarten zogen nach Süden... Aber wie sah das im Stadtleben aus? Wurde der Mensch im Winter ruhiger, vielleicht nachdenklicher? Oder musste ein Blinder in der Stadt damit leben, dass sein Wahrnehmungsapparat keine Ruhepause bekam, dass der Lärm sich zwar unterschied, aber stets den gleichen Pegel behielt?
Schließlich löste Aaron sich von diesen Gedanken, die ihn doch nicht weiter brachten, und stand auf. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich den Rest des Tages über auszuruhen, aber er brachte es nicht fertig, die ganze Zeit still zu sitzen und schließlich, so dachte er bei sich, war ein kleiner Spaziergang durch den Wald, bei dem er gleich nach geeigneten Ästen für den Schlitten, den er zu bauen versuchen wollte, Ausschau halten konnte, nicht wirklich anstrengend und konnte nach den tagelangen strapaziösen Wanderungen gut und gerne als Erholung durchgehen. So begann er, die nähere Umgebung zu durchstreifen und sich nach Baumaterialien umzusehen.

Als es dunkel zu werden begann, hatte er die Idee eines Schlittens verworfen. Mehrere Äste und Zweige verschiedener Durchmesser, teils mit dem Messer bearbeitet, teils zerbrochen, die in weitem Kreis um ihn herumlagen zeugten von seinen zahlreichen Versuchen, jeweils einige von ihnen mittels Bindfaden zu einem stabilen, trag- und gleitfähigen Gestell zu verbinden. Ebenso zeugten sie von seinem Scheitern.

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