Nachdem Aaron seine ungeplant
enge Unterkunft verlassen und ein paar Mal tief durchgeatmet hatte,
besah er sich die ganze Sache von außen. Wie er schon vermutet
hatte, hatte sich die Plane, die das Dach seines Unterschlupfs
gebildet hatte, unter der Last des Schnees an einer Seite gelöst und
war heruntergekommen. Ein beachtlicher Berg Schnee lag auf diesem
Ende. Kein Zweifel, hätte er nicht zufällig an der richtigen Seite
der Schneehöhle gelegen, er wäre jämmerlich erstickt.
Mit einiger Mühe zog Aaron die
Plane unter den Schneemassen hervor und legte sie wieder zusammen.
Dann grub er den Rest seiner Besitztümer aus, der auch unter dem
Schnee begraben gelegen hatte, und war froh, die meisten Dinge im
Rucksack gelassen zu haben. Wie ärgerlich wäre es gewesen, im
tiefen Schnee nach Streichholzschachteln und Taschenmesser suchen zu
müssen. Schließlich nahm Aaron ein leichtes Frühstück zu sich und
marschierte los.
Bereits beim ersten Schritt
fiel ihm auf, dass etwas anders war als am Vortag. Seine Beine
wollten nicht mehr so, wie sie sollten. Auch im Rücken machten sich
Schmerzen bemerkbar. Vorhin, im Eindruck der Lebensgefahr, hatte er
den Muskelkater von der gestrigen Wanderung kaum gespürt, aber jetzt
machten sie sich mit ganzer Kraft bemerkbar.
„Kein Wunder,“ murmelte er
säuerlich vor sich hin, „ist ja nicht so, als würde ich jeden Tag
zehn Kilometer durch knietiefen Schnee stapfen.“
Er dachte nach. Zehn Kilometer?
War er so weit gekommen? Er war sich nicht sicher. Beim Gehen unter
den gegebenen Bedingungen ging ihm jedes Gefühl für das eigene
Vorankommen verloren. Er hätte am Vortag gute zwanzig Kilometer
gewandert sein können. Oder aber nur zwei. In einer Landschaft, die
überall gleich aussah und bei einer Fortbewegungsart, die sich
seinem gewohnten Verhältnis von durchwanderter Zeit und
zurückgelegter Strecke verweigerte – wie sollte er da eine
einigermaßen genaue Schätzung abgeben?
Verbissen stapfte er weiter,
ständig damit beschäftigt, sich nicht zu sehr auf seine
schmerzenden Glieder zu konzentrieren.
Vielleicht konnte er die
zurückgelegte Strecke errechnen, indem, er die Schritte zählte, die
er ging, und die Anzahl der Schritte dann mit der geschätzten
durchschnittlichen Schrittweite multiplizierte... Auf jeden Fall
würde ihn das Zählen ein bisschen ablenken. Irgendwie musste er
sich ja beschäftigen.
Also... eins, zwei, drei, vier,
fünf...
Bei hundert klappte er einen
seiner Finger auf und begann von vorn. Auf diese Weise würde er
schon einmal bis tausend zählen können, und wie oft er die Tausend
erreichte würde er sich wohl merken können...
Drei Finger aufgeklappt.
Vierundzwanzig, fünfundzwanzig...
Wieder einmal stellte er fest,
dass die Landschaft um ihn herum von ausgesprochener Schönheit war.
Das karge Land, so schlicht in seiner Hülle aus gleichförmigem
Weiß. Nicht so überladen wie farbenfrohere Landstriche.
Gewissermaßen eine Möglichkeit, das Auge auszuruhen, bevor es sich
wieder mit hunderten Farben, tausenden Ecken und Kanten und
abermillionen schnellen Bewegungen beschäftigen musste.
Vier Finger aufgeklappt.
Dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig...
Ob das der Grund für den
Winter war? Natürlich wusste Aaron über die Ursachen der
Jahreszeiten Bescheid, geneigte Erdachse, Einstrahlwinkel des
Sonnenlichts, blabla. Im Moment fand er jedoch Spaß daran, sich
vorzustellen, die Jahreszeiten hätten ihren Sinn für die Lebewesen
auf der Erde.
Fünf Finger aufgeklappt. Drei,
vier, fünf...
Moment mal! Hatte er eben einen
Finger aufgeklappt, als er die Hundertergrenze überschritt? Oder
wäre er jetzt eigentlich schon bei Sechshundert? Er blieb stehen und
starrte seine Hand mit den aufgeklappten Fingern an. Er hatte sich
nicht genügend konzentriert. Den Faden verloren. Resigniert
schüttelte er den Kopf und stapfte weiter, von nun an, ohne zu
zählen.
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