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Freitag, 16. Januar 2015

Kälte. Folge 13: Zählbare Erfolge

Nachdem Aaron seine ungeplant enge Unterkunft verlassen und ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, besah er sich die ganze Sache von außen. Wie er schon vermutet hatte, hatte sich die Plane, die das Dach seines Unterschlupfs gebildet hatte, unter der Last des Schnees an einer Seite gelöst und war heruntergekommen. Ein beachtlicher Berg Schnee lag auf diesem Ende. Kein Zweifel, hätte er nicht zufällig an der richtigen Seite der Schneehöhle gelegen, er wäre jämmerlich erstickt.
Mit einiger Mühe zog Aaron die Plane unter den Schneemassen hervor und legte sie wieder zusammen. Dann grub er den Rest seiner Besitztümer aus, der auch unter dem Schnee begraben gelegen hatte, und war froh, die meisten Dinge im Rucksack gelassen zu haben. Wie ärgerlich wäre es gewesen, im tiefen Schnee nach Streichholzschachteln und Taschenmesser suchen zu müssen. Schließlich nahm Aaron ein leichtes Frühstück zu sich und marschierte los.
Bereits beim ersten Schritt fiel ihm auf, dass etwas anders war als am Vortag. Seine Beine wollten nicht mehr so, wie sie sollten. Auch im Rücken machten sich Schmerzen bemerkbar. Vorhin, im Eindruck der Lebensgefahr, hatte er den Muskelkater von der gestrigen Wanderung kaum gespürt, aber jetzt machten sie sich mit ganzer Kraft bemerkbar.
„Kein Wunder,“ murmelte er säuerlich vor sich hin, „ist ja nicht so, als würde ich jeden Tag zehn Kilometer durch knietiefen Schnee stapfen.“
Er dachte nach. Zehn Kilometer? War er so weit gekommen? Er war sich nicht sicher. Beim Gehen unter den gegebenen Bedingungen ging ihm jedes Gefühl für das eigene Vorankommen verloren. Er hätte am Vortag gute zwanzig Kilometer gewandert sein können. Oder aber nur zwei. In einer Landschaft, die überall gleich aussah und bei einer Fortbewegungsart, die sich seinem gewohnten Verhältnis von durchwanderter Zeit und zurückgelegter Strecke verweigerte – wie sollte er da eine einigermaßen genaue Schätzung abgeben?
Verbissen stapfte er weiter, ständig damit beschäftigt, sich nicht zu sehr auf seine schmerzenden Glieder zu konzentrieren.
Vielleicht konnte er die zurückgelegte Strecke errechnen, indem, er die Schritte zählte, die er ging, und die Anzahl der Schritte dann mit der geschätzten durchschnittlichen Schrittweite multiplizierte... Auf jeden Fall würde ihn das Zählen ein bisschen ablenken. Irgendwie musste er sich ja beschäftigen.
Also... eins, zwei, drei, vier, fünf...
Bei hundert klappte er einen seiner Finger auf und begann von vorn. Auf diese Weise würde er schon einmal bis tausend zählen können, und wie oft er die Tausend erreichte würde er sich wohl merken können...
Drei Finger aufgeklappt. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig...
Wieder einmal stellte er fest, dass die Landschaft um ihn herum von ausgesprochener Schönheit war. Das karge Land, so schlicht in seiner Hülle aus gleichförmigem Weiß. Nicht so überladen wie farbenfrohere Landstriche. Gewissermaßen eine Möglichkeit, das Auge auszuruhen, bevor es sich wieder mit hunderten Farben, tausenden Ecken und Kanten und abermillionen schnellen Bewegungen beschäftigen musste.
Vier Finger aufgeklappt. Dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig...
Ob das der Grund für den Winter war? Natürlich wusste Aaron über die Ursachen der Jahreszeiten Bescheid, geneigte Erdachse, Einstrahlwinkel des Sonnenlichts, blabla. Im Moment fand er jedoch Spaß daran, sich vorzustellen, die Jahreszeiten hätten ihren Sinn für die Lebewesen auf der Erde.
Fünf Finger aufgeklappt. Drei, vier, fünf...

Moment mal! Hatte er eben einen Finger aufgeklappt, als er die Hundertergrenze überschritt? Oder wäre er jetzt eigentlich schon bei Sechshundert? Er blieb stehen und starrte seine Hand mit den aufgeklappten Fingern an. Er hatte sich nicht genügend konzentriert. Den Faden verloren. Resigniert schüttelte er den Kopf und stapfte weiter, von nun an, ohne zu zählen.

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