MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Mittwoch, 27. Juni 2012

4. Der Ewige Kreis (09.10. - 11.10.2133)


von Lady Marie


Der Wald. Er glühte in rotem Licht und war trotzdem eiskalt und unwohnlich. Überall um mich her herrschte Geräusch. Es war ein unangenehmes, kreischendes Geräusch, das stetig anschwoll. Plötzlich begann sich alles um mich in Bewegung zu setzen. Wild hechtete an mir vorüber, ohne mich dabei wahrzunehmen. Vögel flogen erschrocken auf und flohen gen Himmel. Die Erde schien zu erbeben. Und dann sah ich es. Nur wenige dutzende Meter vor mir stand der Wald in Flammen. Sie hatten sich entschieden. Sie wollten ihn niederbrennen, um mich zu finden, so wie sie vor zehn Monaten unser Haus niedergebrannt hatten, um uns zu vertreiben.
Entsetzt wandte ich mich um. In meinem Kopf hallte ein Wort wieder: 'Lauf.'
Wer hatte das nochmal zu mir gesagt?
Lauf.
So schnell du kannst.
So weit, wie du es vermagst.
Ein Baum brach um und fiel mir in den Weg. Ich sprang vor der Wucht seiner Äste zurück. Und da stand sie plötzlich vor mir. Meine Mutter trug ein weißes Kleid. Das Haar hing ihr offen über die Schultern, während sie einige Zentimeter über dem Boden schwebte. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, doch ihr Blick loderte mehr, als dass es nur ein Spiegelbild der gefräßigen Flammen hinter mir hätte sein können. Viel mehr schien sie selbst von innen in Flammen zu stehen.
Als ihre Stimme erklang, war es nur wie ein Wispern des Windes im Feuer. 'Lauf, mein Kind. Lauf. Mich haben sie. Aber du musst leben. Lauf.'
Etwas erschütterte ihre Gestalt und sie riss schmerzverzerrt die Augen auf. Langsam verzog sich ihr Körper, magerte ab und begann, sich zu zersetzen. Das Kreischen umher war inzwischen ohrenbetäubend.
'Bleib hier!', wollte ich ihr zurufen, aber meine Zunge klebte wie festgetackert an meinem Gaumen. Dann vermischten sich ihre Überreste mit dem Wind. Das Letzte, was von ihr blieb, war nur ein Flüstern neben meinem Ohr: 'Zeig ihnen, mit wem sie es zu tun bekommen haben...'
Dann hörte ich die Rufe von fern. „Tilli! Tilli!“
Wieder stürzte ich los. Ich musste entkommen! Ich musste verschwinden, bevor sie mich einholten, die Rufenden.
Tilli! Tilli!“

„Tilli. Hey, Tilli.“
Langsam kam ich in die wirkliche Welt zurück.
„Wach auf, Kleine. Du bist dran.“
Ich öffnete die Augen. Beinahe erschrak ich vor der Finsternis.
„Du hast unruhig geschlafen. Hast du geträumt?“
Nun erst begriff ich, wer da zu mir sprach.
Ich setzte mich auf: „Ist in Ordnung. Leg dich schlafen. Ich übernehme.“
Kurz sah er mich nur an: „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“
„Ja... ja. Ich... hab nur geträumt. Das ist alles.“
Ein mitfühlendes Lächeln huschte über sein Gesicht: „In den ersten Monaten ist es am schlimmsten. Am Anfang verschonen einen die Träume noch. Aber irgendwann fängt es an.“
Ich schwieg.
„Deine... Familie?“, fragte er vorsichtig. Er hatte sich neben mich gesetzt.
Eigentlich wollte ich nicht darüber reden, aber ich antwortete trotzdem: „Meine Mutter. Sie haben sie geholt.“
Kurz schwieg auch er.
„Das haben alle“, murmelte er dann, „die Angst um jene, die sie zurücklassen mussten. Kann einem ganz schön das Hirn zermartern, was?“
Ich zögerte, dann: „Leg dich ruhig hin. Ich glaub, ich muss eh etwas nachdenken...“
„In Ordnung“, erwiderte Mocis ruhig, stand auf und rollte sich etwas von mir entfernt am Feuer in seine Decke ein, „aber mach dir nicht zu viele Gedanken. Du hast gerade eh keine Handlungsfreiheit. Viel eher solltest du über deine eigene Situation nachdenken. Du musst irgendwohin. Wenn du so weitermachst, drehst du nur noch durch.“
Er zwinkerte mir zu. Wieder einmal musste ich lächeln, aber ich befürchtete, dass mein Lächeln etwas schief ausfiel. Kurz musterte er mich noch, dann verschwand Cis unter seiner Decke und schlief ein.
Ich hatte nur geträumt. Das war alles.
Und trotzdem wollte ich mich nicht recht beruhigen. Frierend und besorgt saß ich da und dachte an mein zu Hause und wartete auf den Morgen. Irgendetwas wollte mich nicht glauben lassen, dass es tatsächlich nichts als ein Traum gewesen war.

Die Nacht kann einem so finster vorkommen, wenn man nicht mehr weiß, wohin man eigentlich gehört. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Kind, das von seinen Eltern einfach irgendwo zurückgelassen worden war und nun langsam begriff, dass es für sich allein sorgen musste. Mit meiner Mutter im Hintergrund hatte ich immer jemanden gehabt, der im Notfall noch wusste, wie es weiterging. Dieser jemand musste ich nun selbst sein und das Problem dabei war, dass ich die Welt eigentlich nicht genügend kannte, um das zu schaffen. Aber ich musste.
Einige Tricks hatte ich ja bereits gelernt. Dinge, die kein normales Kind wusste. Und auch kein normales junges Mädchen. Mein Leben war nicht das einfachste gewesen, weshalb ich also vielleicht ein Sprungbrett in die Organisation meines jetzigen Lebens besaß. Und trotzdem fehlte mir jemand, der mir ab und zu das Denken aus der Hand nahm. Verlasse dich auf niemanden, klar. Daran hielt ich mich schon seit etwa zwanzig Jahren. Aber dennoch hatte ich diesen einen Menschen gehabt, auf den ich mich trotz allem immer noch verlassen hatte. Der mich ab und zu bei der Hand genommen und mich weitergeführt hatte, wenn ich selbst nicht weiterkam.
Wie es ihr wohl ging, meiner Mutter? Was hatte mein Traum mir sagen wollen? Dass ich sie vermisste? Dass ich um sie fürchtete und um das Kind in ihrem Bauch? Um meinen Bruder. Für einen Moment packte mich der Gedanke, und als ich ihn bemerkte, erschrak ich so heftig vor ihm, dass ich am liebsten sofort zurück gelaufen wäre in die Stadt, aus der ich kam: Würde ich meine Mutter jemals wiedersehen?
Rasch schüttelte ich das Gedachte ab und lenkte meine Gedanken in andere Richtungen. Mein Blick streifte den schlafenden Mann. Er schien überhaupt keine Bedenken dabei zu haben, sich einfach schlafen zu legen, während ich in der Nähe war. Vielleicht war ich auch tatsächlich nicht gefährlich für ihn. Die Frage war, ob er es denn für mich war. Bisher hatte sich nichts dergleichen ergeben und dennoch hatte ich das Gefühl, dass ich ihm um nichts auf der Welt meinen Namen verraten sollte. Warum nur? War ich inzwischen paranoid geworden? Es war gut möglich, aber das unangenehme Gefühl ließ mich nicht los. Das Gefühl, dass sich eine Katastrophe annahte.

Zwei Stunden später ging die Sonne auf. Cis räkelte sich, gähnte herzhaft und schlug die Augen auf.
„Guten Morgen, Sonnenschein“, schmunzelte ich, „Hast du mich absichtlich sechs Stunden durchschlafen lassen?“
Ich fühlte mich wach wie lange nicht und hatte inzwischen begriffen, woran das lag. Er hatte die ganze Nacht selbst durchwacht und mich erst gegen sechs aufgeweckt...
Cis blinzelte. „Schon so früh am Morgen Unterstellungen“, brummte er zerzaust.
Ich hatte die Arme verschränkt: „Hab ich Recht?“
Cis kratzte sich verlegen am Kopf: „Fühlst du dich ausgeruht?“
Ich musste lächeln. „Danke. Dafür, dass du das gesehen hast...“
„Jetzt hör auf“, grinste er, „Es ist mir einfach sicherer, wenn ich Wache halte.“
Zum Frühstück gab es Brot. Ich hatte keine Ahnung, wo er das gefunden hatte, aber er beteuerte, er habe es gekauft.
Wir beschlossen, noch ein Stück gemeinsam zu gehen. Mocis wollte mir eine Straße zeigen, von der aus ich, wenn ich weiter nach Osten reiste, vielleicht in ein Gebiet gelangen konnte, in dem ich nicht mehr gesucht würde. Außerdem gab er mir die Adresse eines Mannes, der falsche Ausweise herstellte.
„Wie hast du um Himmels Willen all diese Leute kennengelernt?“
„Den Himmel gibt es nicht“, erwiderte er.
Ich musste innerlich den Kopf schütteln.
Seine Gegenwart war mir trotz allem angenehm. Gerne wäre ich noch länger mit ihm gereist, aber so sollte es wohl nicht kommen. Dieses Mal allerdings war ich selbst daran schuld.
„Es gefällt mir nicht, dass wir so gut miteinander auskommen“, murmelte er plötzlich.
„Unsere Wege trennen sich eh schon bald“, antwortete ich, die ich aus irgendeinem Grund seine Sorge nachvollziehen konnte.
„Wenn du nach Schnipp kommst, halte dich nur noch östlich.“ Auch, dass er das Thema wechselte, konnte ich nachvollziehen. „Kurz vor der polnischen Grenze gibt es ein Lager. Da triffst du Kanir den Bummler. Wenn du sein Vertrauen gewinnst, bringt er dich zu den anderen Ausgewiesenen.“
„Und dann?“
„Dann“, er wandte sich im Gehen zu mir um, „Dann musst du entscheiden, was du willst. Aber erstmal triffst du dort auf Menschen, die nicht völlig den Verstand verloren haben.“
Kurz herrschte Schweigen.
„Erzähl mir von deiner Mutter“, bat er mich dann.
„Du weißt schon mehr von mir, als ich von dir“, winkte ich ab.
„Was denn zum Beispiel“, schmunzelte er.
„Aus irgendeinem Grund habe ich dir von meiner gesamten Flucht erzählt...“, erwiderte ich streng.
„Das war unvorsichtig“, gab er zu, „Aber ich weiß immerhin noch nicht, woher du kommst...“
Schweigend gingen wir weiter.
Die Anhöhe, auf der wir uns verabschieden wollten, kam in Sicht.
„Mein Name ist Rahil“, erklärte er plötzlich.
Ich starrte ihn an. Nach kurzer Stille beschloss ich, dass ich etwas sagen musste: „Warum...erzählst du mir das?“
Er blieb stehen und wandte sich zu mir um. Auch ich blieb stehen.
„Ich habe nicht die geringste Idee“, behauptete er schmunzelnd, „Aber mich sucht eh schon die ganze Welt. Und zwar nicht unter meinem echten Namen.“
Dabei wandte er sich wieder um und ging weiter. Nachdenklich betrachtete ich ihn. Ich erinnerte mich an meine nächtlichen Gedanken und Bedenken. Mein Verstand stieß eine gellende Warnung aus. Doch in diesem Augenblick schob ich ihn beiseite und entschloss mich fataler Weise dazu, die Warnung zu ignorieren.
Meine Zunge löste sich von selbst: „Ich komme aus Rapstin.“
Mocis blieb stehen. Und überrascht tat ich es ihm gleich. Misstrauisch beobachtete ich ihn. Was war jetzt los?
Er wandte sich nicht um. Wieder entstand ein Moment des Schweigens. Doch dieser war anders. Er schwang vor Verhängnis in der Luft, dass ich beinahe davor zurückgewichen wäre.
„Felis.“
Endlich hörte ich wieder auf meinen Verstand und blieb stehen, wo ich stand.
Was hatte er gerade gesagt?
Langsam wandte Mocis sich zu mir um. „Felis Senti“, murmelte er.
Ich wurde blass. Sein Blick huschte über meine Züge, war plötzlich so kalt und berechnend: „Das ist dein Name, richtig?“
Um uns breitete sich beißende Kälte aus. Ich sah ihn wieder an und fand nichts mehr von dem Typen, den ich am Vortag zufällig kennengelernt hatte.
„Woher“, raunte ich dennoch wachsam und misstrauisch, „kennst du meinen Namen?“
Ich hörte ich ihn leise fluchen, während er den Blick abwandte. Er wich einen Schritt zurück, sah mich wieder an: „Ich habe mich schon die ganze Zeit über gewundert, woher du mir so bekannt vorgekommen bist...“ Und plötzlich hatte er seine Waffe gezogen. Ein erprobt überlegenes Lächeln trat auf sein Gesicht, als er die Waffe auf mich richtete: „An deiner Stelle würde ich jetzt laufen.“
Entsetzt starrte ich ihn an. Mein Herz machte unregelmäßige Aussetzer. Was?
Sein Blick wurde nachdrücklich: „Nimm dir nicht zu viel Zeit zum nachdenken. Sonst hast du am Ende keine mehr...3...“
Meine Füße klebten am Boden. Das konnte doch nicht wahr sein!
„...2...“
Mein Blick wurde düster, doch ich befürchtete, dass Enttäuschung darin mitschwang.
Noch während ich ihn verständnislos anstarrte, flackerte kurz ein Fünkchen Bedauern in seinem Blick. Schließlich wandte ich mich um und verschwand im Wald. Schon nach wenigen Metern wusste ich, dass er mir nicht folgte. Aber ich konnte nicht mehr anhalten. Entsetzen und Zorn trieben mich fort. So weit fort wie möglich. Nur weiter. Immer weiter. Weit weg.

Zwei Tage später hatte ich mich endgültig abgekühlt und war in der Lage, meine Situation angemessen zu reflektieren:
Ich war noch immer allein. Ich wusste nicht, wie man stahl, ich hatte noch nie ernsthaft gegen einen Menschen gekämpft, ich beherrschte keine Verwandlungskünste, konnte mich auch anderweitig nicht sonderlich gut verstecken. Noch dazu war ich krank und nicht übermäßig athletisch. Wie sollte ich denn lang genug allein überleben, um ein Ziel zu verfolgen, dessen ich mir noch dazu nicht einmal sicher war?
Der Zusammenstoß mit dem Fremden hatte mich schwer enttäuscht. Natürlich hatte ich ihm in gewisser Weise von Anfang an misstraut. Andererseits aber hatte mir seine Gegenwart gefallen und sein Verhalten am Ende hatte mich erschreckt. Nun fragte ich mich, in welchem Zusammenhang er in die Geschichte passte. Warum hatte er eine Waffe auf mich richten müssen, als er meinen Namen erfuhr? Und warum hatte er nur aus der Angabe meines Herkunftsortes meinen Namen herausfinden können? Hatte er nach mir gesucht? Hatte man ihm geraten, mich zu meiden? Was hatte er mit mir zu tun?
Und warum hatte er mir seinen Namen verraten (wenn es denn sein Name war)? Hatte er darauf spekuliert, mir durch diese Aktion etwas über mich selbst entlocken zu können, weil ich ihm nun mal, wie er selbst es beteuert hatte, bekannt vorgekommen war...? Wenn er aber von vornherein nur getrickst hätte, dann hätte er am Ende keine Reue für sein verändertes Verhalten gezeigt. Rahil.
Die Orte, die er mir empfohlen hatte, würde ich zumindest nicht sofort aufsuchen. Ich musste mir eine andere Lösung einfallen lassen.
Also setzte ich meinen Weg weiter nach Nordosten fort. Inzwischen hatte ich mir ein vorläufiges Ziel gesetzt. Es gab eine Kleinstadt etwa zwei Tagesmärsche von meinem derzeitigen Standpunkt entfernt. Dort wollte ich mich hineinschleichen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich darin üben musste, unbemerkt unter Menschen zu gehen. Und ich hatte noch etwas Geld, mittels dessen ich mir Brot und Früchte kaufen konnte. Vielleicht bräuchte ich auch eine andere Waffe. Mit einem Messer allein war es schwierig zu jagen und sich zu verteidigen. Gegen Abend würde ich die Stadt wieder verlassen müssen. Dennoch aber wollte ich zumindest versuchen, einmal bei Tag durch die Straßen zu gehen. Vielleicht konnte ich mich ja unter den Menschen etwas umsehen und umhören und dabei ein paar Pläne entwickeln. Ich wusste, dass es andere geben musste wie mich. Ich musste sie nur finden. Und trotz des vorangegangenen Rückschlags war ich in diesem Moment so entschlossen wie nie, dass ich mich irgendeiner Gruppe anschließen würde. Ich würde ihnen schon zeigen, mit wem sie es zu tun bekommen hatten, selbst wenn es riskant war!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen