MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Samstag, 23. Juni 2012

3. Kurze Gesellschaft (24.09. - 09.10.33)


von Lady Marie


Die nächsten beiden Wochen waren die schlimmsten meines bis zu diesem Moment dagewesenen Lebens. Ich ernährte mich ausschließlich von Dingen, die ich im Wald fand, wozu auch immer mehr Wurzeln und teilweise sogar bereits Insekten zählten, da die Vorräte, die ich mitgebracht hatte, gänzlich zur Neige gegangen waren. Nach der ersten dieser beiden Woche schon ereignete sich mein erster Diebstahl. Ich hatte einen derartig quälenden Hunger, dass ich lediglich reagierte und zum Glück funktionierte, denn als ich endlich mit meiner Beute versteckt in einem Gebüsch im Wald kauerte, kehrte mein logisches Denken zurück und machte mir die Idiotie meines Ausfalls in vollem Maße bewusst. Ich hatte nicht einmal darauf geachtet, den Bauern abzulenken, hatte mich einfach rasch in seine Stube geschlichen und alles eingesteckt, was sich hatte tragen lassen, um mich bereits wenige Meter im Wald über die Gaben, aus einem halben Laib Brot und einem Ende Salami bestehend, herzumachen. Die nächsten Male war ich vorsichtiger und trotzdem veranlasste mich mein Hunger dazu, gefährlich nahe an die Dörfer heranzugehen. Über nichts weiter dachte ich mehr nach, als über Nahrungsbeschaffungsmethoden und verlor all meine Ideale und Vorsätze, sowie meine derzeitigen Ziele völlig aus den Augen.
Doch erneut wendete sich das Blatt, um mich vielleicht weiter in die richtige Richtung zu schieben.
Es war ein ausnahmsweise sonniger Tag. Und trotzdem fühlte ich mich mürrisch und ruhelos. Von den wenigen zwitschernden Vögeln nahm ich nichts wahr, ebenso wenig von dem wundervollen Geräusch, das der Wind in den Baumwipfeln über mir träumte. Ich hatte Hunger. Seit zwei Tagen hatte ich nichts gegessen außer Kräutern und Pilzen. Noch dazu hatte ich mich den gesamten Morgen übergeben, was ich auf meine Mahlzeit vom vergangenen Abend schob. Nachmittags stolperte ich mehr durch das Dickicht, als zu gehen. Eigentlich brauchte ich Schlaf, den ich in der vorangegangenen Nacht wiederum nicht bekommen hatte, da ein hungriges Wolfsrudel mich auf einen unbequemen Baum jagte und sich erst verzog, als es den Ruf eines anderen Wolfes in der Ferne vernahm.
Teilweise schwamm meine Umgebung um mich herum wie bei einem Erdbeben und ich begann, über die Wirkstoffe des Pilzes nachzudenken, der mein Mittagsmahl ausgemacht hatte und mir nun auf den Magen schlug, so heftig es ihm möglich war. So kam es, dass ich den Stein übersah und die Böschung, und eh ich mich versah, beförderte mich die Schwerkraft Kopf über rollend etwa fünf Meter in die Tiefe, um mich schließlich auf dem Rücken liegend zum Anhalten zu veranlassen. Einen Moment lang konnte ich die Augen nicht öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass der Boden unter mir noch immer unangenehm umher schwankte, doch ein Geruch ließ mich schmerzende Gliedmaßen und meinen pochenden Schädel vergessen und mich aufrichten. Feuer. Im selben Moment setzte mein Herz aus, als mir ein überraschter Blick begegnete. Eine Sekunde lang verharrte ich geschockt und starrte nur den anderen an, dann handelten meine Beine von selbst. So schnell wie nie zuvor sprang ich auf die Beine und verschwand in irgendeine Richtung. Doch es war zu spät. Ich war dem anderen quasi direkt vor die Füße gefallen und der scheute sich nicht, die Verfolgung aufzunehmen. Ich wagte es nicht mich umzuwenden, wusste, dass ich dadurch nur Zeit verlieren würde, doch ich hörte ihn hinter mir durch das Laub rennen, als sei seine Entschlossenheit, mich einzuholen, die gleiche wie meine, zu entkommen. Links, rechts, durch Dornenbüsche und über Rinnsäler, endlich funktionierte wieder etwas und das war rennen. Und trotzdem hörte ich ihn näher kommen. Ich spürte bereits meine Lungen schmerzen und meine Beine versagen und hielt beides an, sich zusammenzureißen, als unsere Jagd jäh unterbrochen wurde. Plötzlich stand ich auf der Straße und vor mir – nun, keine fünfzehn Meter von mir entfernt öffnete sich ein Tor zum Dorfe Drisdin hin. Links und rechts vom Tor standen Wachen und blinzelten gelangweilt in den Tag, neben ihnen am Tor hing ein Steckbrief.
Wie versteinert stand ich da. Mir stockte der Atem und ich war unfähig, mich zu bewegen. 'Lauft!', befahl ich stumm meinen Beinen, doch sie gehorchten mir nicht. Einer der Wachmänner kratzte sich am Bart und begann, seinen Blick schweifen zu lassen.
Im nächsten Moment riss mich etwas von den Füßen und, als ich mich besann, saß ich hinter einem Busch.
„Du kannst nicht viel Erfahrung mit solchen Situationen haben, wenn du dich einfach so auf den Präsentierteller stellst. Hast du sie noch alle? Jetzt hätten sie beinahe uns beide erwischt!“
Langsam und noch immer geschockt wandte ich den Kopf in Richtung der Stimme und zuckte zurück. Im nächsten Moment hatte er mich am Arm gepackt und starrte mir kühl entgegen: „Wenn du jetzt eine falsche Bewegung machst, sind wir beide tot, was ich persönlich gern vermieden hätte! Also verhalte dich gefälligst ruhig!“
Obwohl noch immer klopfenden Herzens kauerte ich mich erneut nieder.
Er schmunzelte zufrieden: „Brav so. Ich nehme an, du hast genau so wenig Lust, von denen gesehen zu werden, wie ich, also beruhige dich.“
Er kennt mich nicht, war mein erster Gedanke.
Wieder spähte er durch das Gebüsch: „Sie scheinen nichts bemerkt zu haben. Wenn ich dir Bescheid gebe, machen wir uns leise davon. Denk daran: Leise.“
„Warum hilfst du mir?“, entwich mir die Frage.
„Schhhht!“, machte der Fremde und beobachtete weiter die Wachen, „Ich habe nur...sehr viel Verständnis für jemanden, der sich vor denen verstecken will...“
Überrascht starrte ich ihn an: „Aber...“
„Bescheid“, unterbrach er mich und eh ich verstand, was er meinte, sah ich ihn schon davon huschen. Rasch folgte ich ihm.
Erst als wir zehn Minuten lang nur gelaufen waren, wurde er langsamer und ich konnte zu ihm aufschließen. Wir kamen zum stehen.
„Du kannst mich nicht kennen“, sagte er unvermittelt und versuchte, zu Atem zu kommen. Verwirrt starrte ich ihn an und als er mich ansah, musste er wieder schmunzeln: „Das ist meine Antwort auf deine ungestellte Frage, woher ich wusste, dass du vor Menschen im allgemeinen fliehst und nicht vor mir. Und wenn du vor Menschen fliehst und durch den Wald läufst, dann willst du wahrscheinlich auch nicht den Stadtwachen begegnen.“ Er hielt mir eine Hand entgegen: „Mocis. Nenn mich Cis.“
Zögerlich erwiderte ich diese Geste. „Tilia“, stellte ich mich vor.
Ein überlegenes Grinsen trat auf sein Gesicht. „Du lügst“, freute er sich und auf mein erschrockenes Gesicht hin: „Mach dir nichts draus. Ich lüge auch... Komm schon. Es wird bereits Abend. Lass uns meine Sachen holen, ein Versteck suchen und jagen. Du hast doch sicher auch Hunger, oder?“
„Jagen? Aber wie willst du denn Fleisch zubereiten? Wenn wir ein Feuer entzünden, finden sie uns doch sofort.“
Er war bereits vorangeschritten und ein leises Lachen entfuhr ihm: „Es ist Rodungssaison, du Dummi. Du glaubst doch nicht ehrlich, dass die sich über ein kleines Feuer im Wald wundern. Außerdem sind wir weg, eh die uns gefunden haben. Nun komm schon.“

Er kannte mich nicht. Und er floh ebenfalls. Wahrscheinlich hingen diese beiden Tatsachen zusammen, doch für mich war jede von ihnen für sich ein kleines Wunder.
Rasch sammelte er die paar Dinge zusammen, die er an seiner Feuerstelle hatte liegen lassen. Eine zerschlissene Ledertasche, ein Buch und eine Flasche Wasser. Dann häufte er etwas Erde über die Glut, die von seinem Feuer übrig geblieben war und wir machten uns auf den Weg weiter nach Osten.
Eineinhalb Stunden später saßen wir an einem neuen Feuer, über dem ein Kaninchen und zwei Eichhörnchen vor sich hin brieten.
Ich saß auf dem Boden, hatte die Knie angezogen und mit meinen Armen umschlungen, während ich das Feuer beobachtete. Auf einmal hatte mich eine unendliche Müdigkeit befallen. Die letzten Tage zogen an meinem inneren Auge vorüber. Ich hatte mich erbärmlich verhalten und dann auch noch auf so sinnlose Weise, denn nun wusste ich, dass ich durchaus jagen und Feuer entzünden konnte.
„In wenigen Minuten ist es fertig“, bemerkte Mocis amüsiert, „Du kannst natürlich auch jetzt schon etwas essen, wenn es dir auf die paar Minuten nicht ankommt.“
Ich verzog das Gesicht: „Warum sagst du das?“
„Nun, du siehst halb verhungert aus. Wann hast du das letzte Mal richtig gegessen?“
„Vor ein paar Wochen bin ich in einem Haus untergekommen.“
Überrascht sah er auf: „Du denkst, dass die Wachen dich verhaften werden, obwohl du in einem Haus bleiben konntest?“
„Ich habe es knapp geschafft, zu fliehen.“
„Hm. Du hättest vorsichtiger sein sollen.“
„Aus dem Haus hat mich niemand verraten. Die kannten mich gar nicht. Aber... es war trotz allem eine Falle. Und jetzt suchen sie mich alle.“
„Sie haben gewartet, bis du dich schlafen legtest, und dann deine Gastgeber besucht?“
„Richtig.“
„Dann sind sie noch auf der ersten Stufe ihres Verfolgungsplanes. Haben dich zuvor nur beobachtet und versuchen nun, die Menschen auf dich aufmerksam zu machen. Du solltest dich in Acht nehmen. Aber“, und wieder lächelte er, „du kriegst es ja ganz gut hin, Fremden deine Geschichte rüber zu bringen.“
Ich schmunzelte geschmeichelt: „Diese Behauptung kommt etwas unerwartet, nachdem du meine Lügen so einfach enttarnt hast.“
„Ich bin auch daran gewöhnt, die Leute durchschauen zu müssen.“
Mir kam ein Gedanke: „Vor ein paar Wochen begegnete ich auf der Straße einem Alten Mann mit einem Karren. Eine Art fahrender Händler. Der schien auch mehr zu verstehen, als er zugab.“
„Ein alter Mann?“, Cis horchte auf.
„Ja. Er war auf dem Weg in das Dorf, in dem man versuchte, mich festzusetzen.“
Der junge Mann musterte mich kurz nachdenklich: „Den Umhang hast du von ihm bekommen, nicht wahr?“
Überrascht schaute ich ihn an: „In der Tat. Kennst du ihn etwa?“
„Nein“, erklärte Cis. Seine Züge wirkten unruhig. „Ich frage mich nur... Nein. Ich kenne ihn nicht“, riss er sich schließlich zusammen.
Aber er log. In irgendeiner Hinsicht log er gerade.
„Das ist ein guter Umhang“, fügte er letztendlich hinzu, „Du solltest ihn hüten.“
Eine Weile herrschte Schweigen und ich musterte ihn prüfend.
„Eins verstehe ich nicht“, lenkte ich dann ab.
„Was denn?“
„Sie haben mich nie eingeholt. Ich war zu Fuß und sie haben alle möglichen technischen Hilfsmittel. Nach meiner Flucht von zu Hause haben sie mich gar nicht weiter verfolgt. Deswegen traute ich mich ja erst in das Dorf. Haben sie tatsächlich nur gewartet? Aber warum bin ich dann jetzt noch auf freiem Fuß. Kann es tatsächlich sein, dass ich mich so gut versteckt habe?“
„Das bezweifle ich.“
Als ich ihn ansah, zierte seine Züge ein provokantes Lächeln.
Ich musste schmunzeln.
„Aber warum haben sie mich dann nicht schon längst eingefangen“, kam ich wieder auf das Thema zurück.
„Ganz einfach“, erklärte Cis und setzte sich wie ich selbst ans Feuer, „Ihre Radargeräte funktionieren hier nicht.“
Einen Moment lang starrte ich ihn nur an, während er schmunzelnd das Fleisch vom Feuer nahm und es zerlegte.
„Wie ist das möglich?“, fragte ich ungläubig.
„Genauso, wie es möglich ist, dass ihre Motoren versagen, wenn die Räder ihrer Automobile Waldboden berühren und ihre Flugapparate darüber abstürzen.“
Was?“
„Davon hast du noch nichts gehört? Dann bist du tatsächlich nicht vor langem abgehauen. Jeder, der lang genug im Hintergrund lebt, erfährt das irgendwann.“
„Aber, wie kann das denn sein? Sie haben die modernsten Antriebe und Techniken! Sie haben jede erdenkliche Möglichkeit, einen Menschen aufzuspüren! Selbst DNS – Rückerinnerer (Apparat, der auf Basis der DNS einen Plan für das Handeln des jeweiligen Menschen entwirft. Entwickelt 2120)!“
„So weit sie mit ihrer Technik auch fortschreiten, sie werden nie unfehlbar sein. Ihr totales Versagen in den Urwaldgebieten erklären sich die Leute auf verschiedenste Weise.“
Er reichte mir ein Stück Fleisch, doch ich war so baff, dass ich nicht daran dachte, zu essen: „Wie denn?“
„Manche sagen“, grinste er, „dass die Elfen zurückkommen.“
Mein Blick wurde misstrauisch: „Mit anderen Worten, sie tun, was Menschen immer tun: Sie schieben alles auf eine übernatürliche Kraft.“
„Genau“, lächelte Cis, „Du solltest jetzt essen. Darauf hast du die ganze Zeit schon gewartet.“
Da fiel auch mir das Essen wieder ein. Bemüht anständig biss ich in den Braten und wäre bei der nachfolgenden Geschmacksexplosion beinahe gestorben. Ohne es zu wollen, begann ich zu schlingen. Noch nie hatte ich etwas so großartiges gegessen!

Nun wusste ich also, warum ich noch auf freiem Fuß war: Eine Menge Glück und mysteriöse Fabelwesen, die den Wald schützten und dabei elektronische wie Benzin-betriebene Apparate nicht duldeten... Natürlich glaubte ich daran nicht. Aber, was auch immer für das Versagen der Technik im Wald verantwortlich war, ich war dankbar, dass es existierte und man nicht wusste, wie man ihm beikommen konnte. So konnte ich, wenn ich mich bemühte, den Winter über unentdeckt bleiben. Aber daran glaubte ich eigentlich auch nicht. Selbst wenn mich Kälte und Hunger nicht umbrachten, würden mir früher oder später die Menschen zu sehr fehlen und dann würde ich sie suchen gehen, wobei ich eventuell meine Freiheit riskierte und für immer verlor.
Wie machte Mocis das?
Das erste Mal seit beinahe einem Monat hatte ich tatsächlich Gesellschaft und ich genoss die Unterhaltung mit dem Fremden sowie die Entspannung, da ich nicht bei jedem Geräusch aufschrecken musste. Aus irgendeinem Grund hatte seine Gegenwart etwas beruhigendes für mich. Ich fühlte mich sicher vor allem Äußeren, seit er da war, und doch hatte ich das Gefühl, dass ich vorsichtig sein sollte, was ihn betraf...
Je später es wurde, desto schwerer wurden meine Augen. Doch ich wollte nicht schlafen, auch wenn ich den Grund dafür nicht verstand, denn dies war die erste Nacht seit langem, in der ich vielleicht so etwas ähnliches wie unbeschwerten Schlaf finden konnte.
„Woher hast du eigentlich diese Waffe“, fragte ich nach einer Weile, um mein Bewusstsein wach zu halten und meinte damit seine Pistole.
Cis stocherte im Feuer umher. „Berufsgeheimnis“, murmelte er.
„Du arbeitest?“
„Ja. Aber ich hoffe, dass du niemals herausfinden wirst, als was.“ Ich sah ihn lächeln, aber in seinem Lächeln lag etwas grimmiges.
„Wie alt bist du?“, fragte ich ihn.
„Auch davon hoffe ich, dass du es nie herausfindest“, grinste er schelmisch, dann schweifte sein Blick wieder ins Feuer, „Ich bin achtundzwanzig.“ Er warf mir eine Decke zu: „Wie alt bist du, Tilia?“
„Dreiundzwanzig“, murmelte ich müde, während ich mich in die Decke einwickelte. In den letzten Tagen war es immer kühler geworden. Allmählich fing ich an, mir Gedanken über den Winter zu machen...
„Hm“, machte der Andere nachdenklich, „dann solltest du jetzt vielleicht ein bisschen schlafen. In deinem Alter braucht man noch etwas mehr Schlaf.“
Ich lächelte, zögerte aber.
„Ich übernehm die erste Wache“, erklärte er, „Ich wecke dich, wenn du dran bist.“
Eigentlich wollte ich ihm widersprechen, denn es gefiel mir noch immer nicht, zu schlafen, während er sich in der Nähe aufhielt, doch in diesem Moment gewann meine Erschöpfung über meinen Geist und ich sank in einen tiefen, unbezwingbaren Schlummer.

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