von Lady Marie
Die nächsten beiden Wochen waren die schlimmsten meines bis zu
diesem Moment dagewesenen Lebens. Ich ernährte mich ausschließlich
von Dingen, die ich im Wald fand, wozu auch immer mehr Wurzeln und
teilweise sogar bereits Insekten zählten, da die Vorräte, die ich
mitgebracht hatte, gänzlich zur Neige gegangen waren. Nach der
ersten dieser beiden Woche schon ereignete sich mein erster
Diebstahl. Ich hatte einen derartig quälenden Hunger, dass ich
lediglich reagierte und zum Glück funktionierte, denn als ich
endlich mit meiner Beute versteckt in einem Gebüsch im Wald kauerte,
kehrte mein logisches Denken zurück und machte mir die Idiotie
meines Ausfalls in vollem Maße bewusst. Ich hatte nicht einmal
darauf geachtet, den Bauern abzulenken, hatte mich einfach rasch in
seine Stube geschlichen und alles eingesteckt, was sich hatte tragen
lassen, um mich bereits wenige Meter im Wald über die Gaben, aus
einem halben Laib Brot und einem Ende Salami bestehend, herzumachen.
Die nächsten Male war ich vorsichtiger und trotzdem veranlasste mich
mein Hunger dazu, gefährlich nahe an die Dörfer heranzugehen. Über
nichts weiter dachte ich mehr nach, als über
Nahrungsbeschaffungsmethoden und verlor all meine Ideale und
Vorsätze, sowie meine derzeitigen Ziele völlig aus den Augen.
Doch erneut wendete sich das Blatt, um mich vielleicht weiter in die
richtige Richtung zu schieben.
Es war ein ausnahmsweise sonniger Tag. Und trotzdem fühlte ich mich
mürrisch und ruhelos. Von den wenigen zwitschernden Vögeln nahm ich
nichts wahr, ebenso wenig von dem wundervollen Geräusch, das der
Wind in den Baumwipfeln über mir träumte. Ich hatte Hunger. Seit
zwei Tagen hatte ich nichts gegessen außer Kräutern und Pilzen.
Noch dazu hatte ich mich den gesamten Morgen übergeben, was ich auf
meine Mahlzeit vom vergangenen Abend schob. Nachmittags stolperte ich
mehr durch das Dickicht, als zu gehen. Eigentlich brauchte ich
Schlaf, den ich in der vorangegangenen Nacht wiederum nicht bekommen
hatte, da ein hungriges Wolfsrudel mich auf einen unbequemen Baum
jagte und sich erst verzog, als es den Ruf eines anderen Wolfes in
der Ferne vernahm.
Teilweise schwamm meine Umgebung um mich herum wie bei einem Erdbeben
und ich begann, über die Wirkstoffe des Pilzes nachzudenken, der
mein Mittagsmahl ausgemacht hatte und mir nun auf den Magen schlug,
so heftig es ihm möglich war. So kam es, dass ich den Stein übersah
und die Böschung, und eh ich mich versah, beförderte mich die
Schwerkraft Kopf über rollend etwa fünf Meter in die Tiefe, um mich
schließlich auf dem Rücken liegend zum Anhalten zu veranlassen.
Einen Moment lang konnte ich die Augen nicht öffnen. Ich hatte das
Gefühl, dass der Boden unter mir noch immer unangenehm umher
schwankte, doch ein Geruch ließ mich schmerzende Gliedmaßen und
meinen pochenden Schädel vergessen und mich aufrichten. Feuer. Im
selben Moment setzte mein Herz aus, als mir ein überraschter Blick
begegnete. Eine Sekunde lang verharrte ich geschockt und starrte nur
den anderen an, dann handelten meine Beine von selbst. So schnell wie
nie zuvor sprang ich auf die Beine und verschwand in irgendeine
Richtung. Doch es war zu spät. Ich war dem anderen quasi direkt vor
die Füße gefallen und der scheute sich nicht, die Verfolgung
aufzunehmen. Ich wagte es nicht mich umzuwenden, wusste, dass ich
dadurch nur Zeit verlieren würde, doch ich hörte ihn hinter mir
durch das Laub rennen, als sei seine Entschlossenheit, mich
einzuholen, die gleiche wie meine, zu entkommen. Links, rechts, durch
Dornenbüsche und über Rinnsäler, endlich funktionierte wieder
etwas und das war rennen. Und trotzdem hörte ich ihn näher kommen.
Ich spürte bereits meine Lungen schmerzen und meine Beine versagen
und hielt beides an, sich zusammenzureißen, als unsere Jagd jäh
unterbrochen wurde. Plötzlich stand ich auf der Straße und vor mir
– nun, keine fünfzehn Meter von mir entfernt öffnete sich ein Tor
zum Dorfe Drisdin hin. Links und rechts vom Tor standen Wachen und
blinzelten gelangweilt in den Tag, neben ihnen am Tor hing ein
Steckbrief.
Wie versteinert stand ich da. Mir stockte der Atem und ich war
unfähig, mich zu bewegen. 'Lauft!', befahl ich stumm meinen Beinen,
doch sie gehorchten mir nicht. Einer der Wachmänner kratzte sich am
Bart und begann, seinen Blick schweifen zu lassen.
Im nächsten Moment riss mich etwas von den Füßen und, als ich mich
besann, saß ich hinter einem Busch.
„Du kannst nicht viel Erfahrung mit solchen Situationen haben, wenn
du dich einfach so auf den Präsentierteller stellst. Hast du sie
noch alle? Jetzt hätten sie beinahe uns beide erwischt!“
Langsam und noch immer geschockt wandte ich den Kopf in Richtung der
Stimme und zuckte zurück. Im nächsten Moment hatte er mich am Arm
gepackt und starrte mir kühl entgegen: „Wenn du jetzt eine falsche
Bewegung machst, sind wir beide tot, was ich persönlich gern
vermieden hätte! Also verhalte dich gefälligst ruhig!“
Obwohl noch immer klopfenden Herzens kauerte ich mich erneut nieder.
Er schmunzelte zufrieden: „Brav so. Ich nehme an, du hast genau so
wenig Lust, von denen gesehen zu werden, wie ich, also beruhige
dich.“
Er kennt mich nicht, war mein
erster Gedanke.
Wieder spähte er durch das Gebüsch: „Sie scheinen nichts bemerkt
zu haben. Wenn ich dir Bescheid gebe, machen wir uns leise davon.
Denk daran: Leise.“
„Warum hilfst du mir?“, entwich mir die Frage.
„Schhhht!“, machte der Fremde und beobachtete weiter die Wachen,
„Ich habe nur...sehr viel Verständnis für jemanden, der sich vor
denen verstecken will...“
Überrascht starrte ich ihn an: „Aber...“
„Bescheid“, unterbrach er mich und eh ich verstand, was er
meinte, sah ich ihn schon davon huschen. Rasch folgte ich ihm.
Erst als wir zehn Minuten lang nur gelaufen waren, wurde er langsamer
und ich konnte zu ihm aufschließen. Wir kamen zum stehen.
„Du kannst mich nicht kennen“, sagte er unvermittelt und
versuchte, zu Atem zu kommen. Verwirrt starrte ich ihn an und als er
mich ansah, musste er wieder schmunzeln: „Das ist meine Antwort auf
deine ungestellte Frage, woher ich wusste, dass du vor Menschen im
allgemeinen fliehst und nicht vor mir. Und wenn du vor Menschen
fliehst und durch den Wald läufst, dann willst du wahrscheinlich
auch nicht den Stadtwachen begegnen.“ Er hielt mir eine Hand
entgegen: „Mocis. Nenn mich Cis.“
Zögerlich erwiderte ich diese Geste. „Tilia“, stellte ich mich
vor.
Ein überlegenes Grinsen trat auf sein Gesicht. „Du lügst“,
freute er sich und auf mein erschrockenes Gesicht hin: „Mach dir
nichts draus. Ich lüge auch... Komm schon. Es wird bereits Abend.
Lass uns meine Sachen holen, ein Versteck suchen und jagen. Du hast
doch sicher auch Hunger, oder?“
„Jagen? Aber wie willst du denn Fleisch zubereiten? Wenn wir ein
Feuer entzünden, finden sie uns doch sofort.“
Er war bereits vorangeschritten und ein leises Lachen entfuhr ihm:
„Es ist Rodungssaison, du Dummi. Du glaubst doch nicht ehrlich,
dass die sich über ein kleines Feuer im Wald wundern. Außerdem sind
wir weg, eh die uns gefunden haben. Nun komm schon.“
Er kannte mich nicht. Und er floh ebenfalls. Wahrscheinlich hingen
diese beiden Tatsachen zusammen, doch für mich war jede von ihnen
für sich ein kleines Wunder.
Rasch sammelte er die paar Dinge zusammen, die er an seiner
Feuerstelle hatte liegen lassen. Eine zerschlissene Ledertasche, ein
Buch und eine Flasche Wasser. Dann häufte er etwas Erde über die
Glut, die von seinem Feuer übrig geblieben war und wir machten uns
auf den Weg weiter nach Osten.
Eineinhalb Stunden später saßen wir an einem neuen Feuer, über dem
ein Kaninchen und zwei Eichhörnchen vor sich hin brieten.
Ich saß auf dem Boden, hatte die Knie angezogen und mit meinen Armen
umschlungen, während ich das Feuer beobachtete. Auf einmal hatte
mich eine unendliche Müdigkeit befallen. Die letzten Tage zogen an
meinem inneren Auge vorüber. Ich hatte mich erbärmlich verhalten
und dann auch noch auf so sinnlose Weise, denn nun wusste ich, dass
ich durchaus jagen und Feuer entzünden konnte.
„In wenigen Minuten ist es fertig“, bemerkte Mocis amüsiert, „Du
kannst natürlich auch jetzt schon etwas essen, wenn es dir auf die
paar Minuten nicht ankommt.“
Ich verzog das Gesicht: „Warum sagst du das?“
„Nun, du siehst halb verhungert aus. Wann hast du das letzte Mal
richtig gegessen?“
„Vor ein paar Wochen bin ich in einem Haus untergekommen.“
Überrascht sah er auf: „Du denkst, dass die Wachen dich verhaften
werden, obwohl du in einem Haus bleiben konntest?“
„Ich habe es knapp geschafft, zu fliehen.“
„Hm. Du hättest vorsichtiger sein sollen.“
„Aus dem Haus hat mich niemand verraten. Die kannten mich gar
nicht. Aber... es war trotz allem eine Falle. Und jetzt suchen sie
mich alle.“
„Sie haben gewartet, bis du dich schlafen legtest, und dann deine
Gastgeber besucht?“
„Richtig.“
„Dann sind sie noch auf der ersten Stufe ihres Verfolgungsplanes.
Haben dich zuvor nur beobachtet und versuchen nun, die Menschen auf
dich aufmerksam zu machen. Du solltest dich in Acht nehmen. Aber“,
und wieder lächelte er, „du kriegst es ja ganz gut hin, Fremden
deine Geschichte rüber zu bringen.“
Ich schmunzelte geschmeichelt: „Diese Behauptung kommt etwas
unerwartet, nachdem du meine Lügen so einfach enttarnt hast.“
„Ich bin auch daran gewöhnt, die Leute durchschauen zu müssen.“
Mir kam ein Gedanke: „Vor ein paar Wochen begegnete ich auf der
Straße einem Alten Mann mit einem Karren. Eine Art fahrender
Händler. Der schien auch mehr zu verstehen, als er zugab.“
„Ein alter Mann?“, Cis horchte auf.
„Ja. Er war auf dem Weg in das Dorf, in dem man versuchte, mich
festzusetzen.“
Der junge Mann musterte mich kurz nachdenklich: „Den Umhang hast du
von ihm bekommen, nicht wahr?“
Überrascht schaute ich ihn an: „In der Tat. Kennst du ihn etwa?“
„Nein“, erklärte Cis. Seine Züge wirkten unruhig. „Ich frage
mich nur... Nein. Ich kenne ihn nicht“, riss er sich schließlich
zusammen.
Aber er log. In irgendeiner Hinsicht log er gerade.
„Das ist ein guter Umhang“, fügte er letztendlich hinzu, „Du
solltest ihn hüten.“
Eine Weile herrschte Schweigen und ich musterte ihn prüfend.
„Eins verstehe ich nicht“, lenkte ich dann ab.
„Was denn?“
„Sie haben mich nie eingeholt. Ich war zu Fuß und sie haben alle
möglichen technischen Hilfsmittel. Nach meiner Flucht von zu Hause
haben sie mich gar nicht weiter verfolgt. Deswegen traute ich mich ja
erst in das Dorf. Haben sie tatsächlich nur gewartet? Aber warum bin
ich dann jetzt noch auf freiem Fuß. Kann es tatsächlich sein, dass
ich mich so gut versteckt habe?“
„Das bezweifle ich.“
Als ich ihn ansah, zierte seine Züge ein provokantes Lächeln.
Ich musste schmunzeln.
„Aber warum haben sie mich dann nicht schon längst eingefangen“,
kam ich wieder auf das Thema zurück.
„Ganz einfach“, erklärte Cis und setzte sich wie ich selbst ans
Feuer, „Ihre Radargeräte funktionieren hier nicht.“
Einen Moment lang starrte ich ihn nur an, während er schmunzelnd das
Fleisch vom Feuer nahm und es zerlegte.
„Wie ist das möglich?“, fragte ich ungläubig.
„Genauso, wie es möglich ist, dass ihre Motoren versagen, wenn die
Räder ihrer Automobile Waldboden berühren und ihre Flugapparate
darüber abstürzen.“
„Was?“
„Davon hast du noch nichts gehört? Dann bist du tatsächlich nicht
vor langem abgehauen. Jeder, der lang genug im Hintergrund lebt,
erfährt das irgendwann.“
„Aber, wie kann das denn sein? Sie haben die modernsten Antriebe
und Techniken! Sie haben jede erdenkliche Möglichkeit, einen
Menschen aufzuspüren! Selbst DNS – Rückerinnerer (Apparat, der
auf Basis der DNS einen Plan für das Handeln des jeweiligen Menschen
entwirft. Entwickelt 2120)!“
„So weit sie mit ihrer Technik auch fortschreiten, sie werden nie
unfehlbar sein. Ihr totales Versagen in den Urwaldgebieten erklären
sich die Leute auf verschiedenste Weise.“
Er reichte mir ein Stück Fleisch, doch ich war so baff, dass ich
nicht daran dachte, zu essen: „Wie denn?“
„Manche sagen“, grinste er, „dass die Elfen zurückkommen.“
Mein Blick wurde misstrauisch: „Mit anderen Worten, sie tun, was
Menschen immer tun: Sie schieben alles auf eine übernatürliche
Kraft.“
„Genau“, lächelte Cis, „Du solltest jetzt essen. Darauf hast
du die ganze Zeit schon gewartet.“
Da fiel auch mir das Essen wieder ein. Bemüht anständig biss ich in
den Braten und wäre bei der nachfolgenden Geschmacksexplosion
beinahe gestorben. Ohne es zu wollen, begann ich zu schlingen. Noch
nie hatte ich etwas so großartiges gegessen!
Nun wusste ich also, warum ich noch auf freiem Fuß war: Eine Menge
Glück und mysteriöse Fabelwesen, die den Wald schützten und dabei
elektronische wie Benzin-betriebene Apparate nicht duldeten...
Natürlich glaubte ich daran nicht. Aber, was auch immer für das
Versagen der Technik im Wald verantwortlich war, ich war dankbar,
dass es existierte und man nicht wusste, wie man ihm beikommen
konnte. So konnte ich, wenn ich mich bemühte, den Winter über
unentdeckt bleiben. Aber daran glaubte ich eigentlich auch nicht.
Selbst wenn mich Kälte und Hunger nicht umbrachten, würden mir
früher oder später die Menschen zu sehr fehlen und dann würde ich
sie suchen gehen, wobei ich eventuell meine Freiheit riskierte und
für immer verlor.
Wie machte Mocis das?
Das erste Mal seit beinahe einem Monat hatte ich tatsächlich
Gesellschaft und ich genoss die Unterhaltung mit dem Fremden sowie
die Entspannung, da ich nicht bei jedem Geräusch aufschrecken
musste. Aus irgendeinem Grund hatte seine Gegenwart etwas
beruhigendes für mich. Ich fühlte mich sicher vor allem Äußeren,
seit er da war, und doch hatte ich das Gefühl, dass ich vorsichtig
sein sollte, was ihn betraf...
Je später es wurde, desto schwerer wurden meine Augen. Doch ich
wollte nicht schlafen, auch wenn ich den Grund dafür nicht verstand,
denn dies war die erste Nacht seit langem, in der ich vielleicht so
etwas ähnliches wie unbeschwerten Schlaf finden konnte.
„Woher hast du eigentlich diese Waffe“, fragte ich nach einer
Weile, um mein Bewusstsein wach zu halten und meinte damit seine
Pistole.
Cis stocherte im Feuer umher. „Berufsgeheimnis“, murmelte er.
„Du arbeitest?“
„Ja. Aber ich hoffe, dass du niemals herausfinden wirst, als was.“
Ich sah ihn lächeln, aber in seinem Lächeln lag etwas grimmiges.
„Wie alt bist du?“, fragte ich ihn.
„Auch davon hoffe ich, dass du es nie herausfindest“, grinste er
schelmisch, dann schweifte sein Blick wieder ins Feuer, „Ich bin
achtundzwanzig.“ Er warf mir eine Decke zu: „Wie alt bist du,
Tilia?“
„Dreiundzwanzig“, murmelte ich müde, während ich mich in die
Decke einwickelte. In den letzten Tagen war es immer kühler
geworden. Allmählich fing ich an, mir Gedanken über den Winter zu
machen...
„Hm“, machte der Andere nachdenklich, „dann solltest du jetzt
vielleicht ein bisschen schlafen. In deinem Alter braucht man noch
etwas mehr Schlaf.“
Ich lächelte, zögerte aber.
„Ich übernehm die erste Wache“, erklärte er, „Ich wecke dich,
wenn du dran bist.“
Eigentlich wollte ich ihm widersprechen, denn es gefiel mir noch
immer nicht, zu schlafen, während er sich in der Nähe aufhielt,
doch in diesem Moment gewann meine Erschöpfung über meinen Geist
und ich sank in einen tiefen, unbezwingbaren Schlummer.
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