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Dienstag, 5. Juni 2012

Intro (10.09.2133)

von Lady Marie


Es war ein Morgen wie jeder andere, als wir es im Radio hörten. Eine Reihe von Namen, dann meiner. Die erste Liste derer, die für vogelfrei erklärt wurden.
Mama und ich starrten uns an. Ich hatte aufgehört zu kauen und sie ihren Kaffee auf den Tisch zurückgestellt. Von einem Mal auf das nächste war ihr Blick so bitterernst und entschlossen, als hörte sie bereits den Hubschrauber kommen: "Lauf."
Innerhalb einer Sekunde sprang ich auf und über den Tisch. Ich stürzte in meine Kammer. Wir hatten darauf gewartet, aber trotzdem zitterten meine Hände, als ich das nötigste zu den wenigen Sachen, die ich bereits in einem kleinen Rucksack zusammengesammelt hatte, hinzufügte.
'Lauf.'
Ja, wir hatten es erwartet. Schon die ganzen letzten Monate warteten wir darauf, dass etwas geschah. Deswegen hatten wir es begrüßt, Stück für Stück aus der Stadt geschoben zu werden mit unserem Häuschen, sodass wir nun am Waldrand wohnten. Wir hatten nicht geahnt, was genau sich zutragen würde, aber nun machte sich unsere Vorsicht bezahlt.
Als ich in den Flur trat, hielt Mama mir zwei kleine Päckchen entgegen: "Etwas Proviant für den Anfang", sagte sie.
Ich nahm alles entgegen, dann zögerte ich. Sollte ich nicht doch bleiben und auf sie warten? Warten, dass sie mich holten? Vielleicht wäre es die erhoffte Gelegenheit, endlich ein Zeichen zu setzen.
Mama, die meine Gedanken zu erraten schien, schüttelte den Kopf: "Es hat keinen Sinn zu bleiben. Vielleicht", sie seufzte kaum merklich, "komme ich ja bald nach..."
Irgendwo in ihrem Blick steckte eine tiefe Verzweiflung. Einen Moment sahen wir uns nur an, dann warf ich mich ihr in den Arm und sie drückte mich an sich.
"Tu mir einen Gefallen", murmelte sie fest und als ich mich von ihr löste, brannte ihr Blick wie neun Monate zuvor unser Leben, "Zeig ihnen, mit wem sie es zu tun bekommen haben!"
Noch einmal umarmten wir uns und sie drückte mir einen Kuss auf die Stirn, der vor Stolz qualmte, dann folgte nur noch ein entschlossener Blickwechsel, bevor ich aus der Hintertür schritt, sie leise hinter mir schloss und losrannte. Einfach in den Wald. Und ohne mich noch ein einziges Mal umzusehen.
In der Ferne, irgendwo in der Stadt erklang der Lärm eines Hubschraubers. Sie würden jetzt ein Boot fertigmachen, das aufs Festland übersetzte, dann den Wagen besteigen und sich auf den Weg zu einer kleinen Hütte am Waldrand machen, in der zwei Frauen wohnten. Wen würden sie auf dem Weg dorthin noch überraschen? Es war schon seltsam, dass sie noch die Fairness besaßen, die Liste eine Stunde vor Abholung zu veröffentlichen. Dadurch sah es fast so aus, als hätten die Leute eine Chance.
Ich dachte an all jene, die gewiss keine hatten und musste für eine Sekunde mit meiner Wut kämpfen. Namen hatte ich zur Genüge gehört. Bestimmt zwanzig. Und das sollte mir eigentlich Mut machen, wenn die traurige Wahrheit nicht jene gewesen wäre, dass noch heute mindestens fünfzehn von ihnen inhaftiert werden würden. Diesbezüglich ging sie auf, ihre Rechnung.
Womit sie aber bestimmt nicht gerechnet hatten, das waren wir!

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