MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Donnerstag, 7. Juni 2012

1. Der Weg (10.09. - 21.09.2133)

von Lady Marie



Nach mehr als einer Stunde querfeldein-Laufen durch den Wald, begannen meine Knie fürchterlich zu schmerzen. Gleichzeitig machten sich auch die Gedanken langsam Platz und mit ihnen die Frage, wie überhaupt meine Möglichkeiten standen, gänzlich zu entkommen. Ich hatte jeden Trick verwendet, um meine Spuren zu verwischen, jeden, den ich kannte. Doch sie hatten Hunde, Fahrzeuge und Radargeräte. Wie groß war meine Chance?
Außerdem wurde ich müde. Es war noch nicht einmal Mittag und ich sollte schon aufgeben? Unmöglich!
Weiter, immer weiter. Es gab keinen Weg, es gab nur Richtungen und den Versuch, keine einzuschlagen. Kurz nach Beginn meiner Flucht hatte ich trotzdem den Kompass aus meinem Rucksack gezerrt und lief nun seit etwa einer Stunde nach Norden, ohne selbst überhaupt zu wissen, warum. Ich hatte keinen Ort, an den ich gehen konnte. Es gab niemanden, bei dem ich Unterschlupf suchen wollte, denn entweder müsste ich befürchten, verraten zu werden, oder aber jemanden in Schwierigkeiten zu bringen, indem ich ihn um seine Hilfe bat.
Natürlich wusste ich nicht, wie ausgiebig ich wohl gesucht werden würde. Vielleicht war man auch viel zu beschäftigt, um sich tatsächlich um einen kleinen Fisch wie mich zu kümmern. Aber immerhin setzte man einen Menschen nicht umsonst auf die Vogelfreien-Liste. Die Dörfer in der Gegend konnte ich vorerst wohl vergessen. Wenn man mich suchte, würde ich dort schnell auffallen. Vielleicht konnte ich in einer Stadt untertauchen. Irgendwo, wo die Menschen einander nicht kannten und sich ebenso wenig für den anderen interessierten.
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, in Richtung Norden zu laufen. Irgendwo dort lag nämlich tatsächlich eine Stadt, die eventuell für meinen Zweck geeignet sein konnte. Nur musste ich vorher dorthin gelangen. Einen Wagen bekam ich nicht, Zug war des Preises wegen und Flug wegen der Kontrollen ausgeschlossen. Aber vielleicht würde ich dennoch einen Weg finden. Eine andere Chance hatte ich ja nicht.
Schließlich hielt ich an einem hohlen Baum inne. Ich ignorierte alles Krabbelgetier, welches mich normalerweise leicht in Unstimmung versetzte, und kroch selbst in den tristen Unterschlupf.

Die Tage wurden immer länger. Eine Woche lang streifte ich nur durch den Wald und mied jegliche Zivilisation. Das war gar nicht so einfach, da sich in den letzten Jahrzehnten mehrere neue Dörfer in der Umgebung gebildet hatten. Die Menschen, die Ruhe suchten, zogen aus der Stadt weg, die, welche gescheitert waren, versuchten auf dem Land ihr Glück wie jene, die Angst haben mussten, verfolgt zu werden. Aus dieser Perspektive gesehen hätte ich in den Dörfern sogar Hilfe erhalten können. Wie aber herausfinden, wer Freund war und wer Verräter? Menschen, die einen Gast aufnahmen und ihn danach verrieten, gab es zur Genüge. Die Chancen, einen anderen Ausgewiesenen zu treffen, noch dazu einen ehrlichen, standen zu gering.
Eine Woche lang ernährte ich mich von dem, was ich fand. Die Vorräte, die meine Mutter mir überlassen hatte, gingen allmählich zur Neige und ich sah mich gezwungen, mehr schlecht als recht vegetarisch zu leben. Ich hätte auf die Jagd gehen können, aber dann ergäbe sich das Problem, wie ich das gewonnene Fleisch zubereiten würde, da ich mich nicht traute, ein Feuer zu entzünden.
Nachts war es quälend kalt. Nach drei Tagen hatte ich eine chronische Erkältung und litt unter meinem eklatanten Mangel an Wissen über Heilkräuter. Das wenige, was ich an Arzneien besaß verwendete ich sparsam. Aber auch das ständige auf der Hut Sein und das Fehlen menschlicher Gesellschaft begannen, mir zuzusetzen, und es war offensichtlich, dass ich an meiner Situation, sofern ich überleben wollte, etwas ändern musste.
Doch das Misstrauen ließ mir keine Ruhe. Wie war es möglich, dass ich eine Woche lang unbehelligt durch den Wald lief? Niemand hatte mich eingeholt, war auch nur in meine Nähe gekommen. Kein Mensch war mir begegnet. War es denn möglich, dass sie mit all ihrer Technik nicht in der Lage waren, mich aufzuspüren? Hatte ich so gut Acht gegeben? Oder beobachteten sie mich eventuell bereits und warteten nur darauf, mir eine Falle zu stellen? Wozu aber? Ich war nicht gefährlich genug, dass derartiges nötig gewesen wäre. Vielleicht hatte ich auch Glück und war ihnen schlichtweg egal. Vielleicht hatten sie nur ein Exempel statuieren wollen, indem sie mich von zu Hause fortjagten. Vielleicht spekulierten sie darauf, dass ich mich selbst umzubringen wusste. Doch wer konnte sich dessen sicher sein?
Im Regen unter einer Eiche kauernd fasste ich einen Entschluss. Ich hatte eine Waffe. Mittels derer würde ich mir irgendeine Verkleidung verschaffen, um ein vorerst einziges Mal in ein Dorf zu gehen. Ich wollte die Menschen sehen, wollte ihr Verhalten untersuchen, um weitere Entschlüsse zu fassen. Und ich wollte nach Steckbriefen suchen. Gab es keine, so konnte ich zumindest vorerst davon ausgehen, dass mich nicht jeder suchte. Vielleicht konnte ich mich wenige Male einigen Passanten zeigen, um ihre Reaktion zu beobachten. Kannten sie mich, so würde ich es merken. Kannten sie mich nicht, so war meine gesamte Maskerade nur ein unnötiger Stressfaktor, den ich daraufhin ablegen könnte. Ich wusste nicht, ob ich eventuell zu unvorsichtig war, aber der Versuch war mir die eventuellen Risiken wert. Alles war es mir wert, wieder unter Menschen zu kommen und vielleicht zu einer richtigen, warmen Mahlzeit...

Das Glück offenbarte sich mir ein erstes Mal seit langem, als ich mich in die Nähe eines Waldweges begab. Es erschien mir in Form eines alten fahrenden Händlers (auch von diesen gab es seit einigen Jahrzehnten immer mehr, da die Menschen sich inzwischen wieder lieber auf Tauschhandel verließen, als auf das Geld, das sie nicht besaßen), der gerade seinen Weg in das nächste Dorf (mit Namen Kenri) bestritt. Sein Schutt sprang wild auf dem Holzkarren umher, den er selbst mühevoll die schlecht asphaltierte Straße entlang schleppte.
Kurz spekulierten ich, dann kam ich zu dem Schluss, dass ich ihn überwältigen konnte. Ich zog mein Messer und pirschte aus meinem Busch auf ihn zu. Bei dem Lärm den der Krimskrams verursachte, welchen er umständlich auf seinem Vehikel festgezurrt hatte, hörte er nicht einen meiner Schritte. Es waren nur noch wenige Meter zwischen mir und ihm, als mich kalter Zweifel packte. Noch nie zuvor hatte ich einen Menschen getötet. Woher wollte ich mir das Recht nehmen, es mit diesem Unschuldigen zu tun?
Da wandte er sich plötzlich um und sah mich an.
Unverzüglich verschwand das Messer hinter meinem Rücken. Überrascht blieb ich stehen und er tat es mir gleich.
Er musterte mich freundlich lächelnd, dann nickte er mir zu.
„Auch auf dem Weg ins Dorf“, sprach er mit altersbrüchiger Stimme.
„Ja“, antwortete ich schnell und versuchte, mein Stocken zu verbergen. Es war das erste Mal seit elf Tagen, dass ich jemanden zu mir sprechen hörte.
„Nun denn. Wollen wir nicht ein Stück zusammen gehen?“, fragte mich der Alte, „Der Weg ist viel kürzer, wenn man jemanden hat, um sich mit ihm zu unterhalten.“
Nach einem weiteren überraschten Stocken nickte ich blass. Er lächelte und setzte sich schwerfällig wieder in Bewegung. So auch ich, schweigend und mich insgeheim fragend, welchen Plan das Universum nun mit mir hatte.
„Sie sind so blass, Kind. Ist Ihnen nicht gut?“
„Doch, doch“, erwiderte ich und riss mich zusammen. „Nur etwas erschöpft. Die letzten Tage waren...ermüdend.“
„Tatsächlich?“, fragte er schmunzelnd, „Sie müssen weit gereist sein. Woher kommen Sie?“
Ich wollte schon antworten, als ich mich anders besann. „Birken“, ersponn ich, „Das ist ein Kleines Dorf weiter im Westen.“
„Bei Arkami?“, fragte er.
„Ja genau“, kam meine Erwiderung, „Und Sie? Woher kommen Sie.“
Der Alte lächelte müde: „Ich ziehe von Dorf zu Dorf, Kindchen. Ich bin so weit gekommen, dass ich gar nicht mehr genau weiß, woher ich eigentlich stamme. Aber meine Stadt, Fräulein, das müssen Sie mir glauben, war ein phantastischer Ort. Leider habe ich...nie den Weg zurück gefunden...“
Verdutzt sah ich ihn an. „Warum haben Sie niemanden gefragt?“
„Das habe ich, das habe ich“, erwiderte er leise, „Aber die Leute sahen mich an, als hätten sie noch nie von dem Ort gehört.“
Fasziniert betrachtete ich ihn. Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor. Es war, als würde ich jemandem begegnen, dem ich einmal begegnet war und den ich dann vergessen hatte.
„Eigentlich“, weckte er mich aus meinen Gedanken, „versuche ich nur, nicht weiter aufzufallen.“
Und sah mich an. Seine steingrauen, uralten Augen sahen mir direkt in die Seele. Sie waren älter, als sein Körper erschien, wässrig und stumpf. Aber tief in ihrem Inneren erkannte man einen Funken von etwas, was man nur erahnen konnte.
Eine Weile gingen wir schweigend weiter, während meine Gedanken sich ausleerten und es mir erschien, als hätte sich in meinem Leben nie etwas geändert.
„Soll ich Ihnen beim ziehen helfen?“, fragte ich dann unvermittelt.
Er lächelte zufrieden: „Wie heißen Sie, Fräulein?“
„Zimt“, erlog ich rasch (Derart ausgefallene Namen waren etwa neunzig Jahre zuvor modern geworden und hatten sich nicht wieder austreiben lassen. Meine Großmutter hieß Lampia), „Zimt Kandessa.“
Sein Lächeln wurde noch weiser und für einen Moment dachte ich, dass er meine Schwindelei durchschaute.
„Lokin“, antwortete er dann, „Es ist mir eine Ehre, Ihre freundliche Hilfe anzunehmen, Fräulein Zimt Kandessa.“
Den ganzen Weg über, indem ich ihm dabei half, seinen schweren Karren voranzubringen, sprach er mich nicht ein einziges Mal mehr auf meine Vergangenheit an. Wir waren zwei verirrte Wanderer. Lokin Peskan, der seine Herkunft vergessen hatte, und ich, die ich sie verleugnete. Es gab keine Vergangenheit mehr. Von jetzt an ging mein Blick nur noch nach vorn. Und das musste er auch. Mehr, als ich es zu diesem Zeitpunkt noch vermutete. Denn in der unsichtbaren Ferne erhoben sich bereits die ersten Rauchschwaden in den azurblauen Himmel.

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