Nach mehr als einer Stunde
querfeldein-Laufen durch den Wald, begannen meine Knie fürchterlich zu
schmerzen. Gleichzeitig machten sich auch die Gedanken langsam Platz und mit
ihnen die Frage, wie überhaupt meine Möglichkeiten standen, gänzlich zu
entkommen. Ich hatte jeden Trick verwendet, um meine Spuren zu verwischen,
jeden, den ich kannte. Doch sie hatten Hunde, Fahrzeuge und Radargeräte. Wie
groß war meine Chance?
Außerdem wurde ich müde. Es war
noch nicht einmal Mittag und ich sollte schon aufgeben? Unmöglich!
Weiter, immer weiter. Es gab
keinen Weg, es gab nur Richtungen und den Versuch, keine einzuschlagen. Kurz
nach Beginn meiner Flucht hatte ich trotzdem den Kompass aus meinem Rucksack
gezerrt und lief nun seit etwa einer Stunde nach Norden, ohne selbst überhaupt
zu wissen, warum. Ich hatte keinen Ort, an den ich gehen konnte. Es gab
niemanden, bei dem ich Unterschlupf suchen wollte, denn entweder müsste ich
befürchten, verraten zu werden, oder aber jemanden in Schwierigkeiten zu
bringen, indem ich ihn um seine Hilfe bat.
Natürlich wusste ich nicht, wie
ausgiebig ich wohl gesucht werden würde. Vielleicht war man auch viel zu
beschäftigt, um sich tatsächlich um einen kleinen Fisch wie mich zu kümmern.
Aber immerhin setzte man einen Menschen nicht umsonst auf die
Vogelfreien-Liste. Die Dörfer in der Gegend konnte ich vorerst wohl vergessen.
Wenn man mich suchte, würde ich dort schnell auffallen. Vielleicht konnte ich
in einer Stadt untertauchen. Irgendwo, wo die Menschen einander nicht kannten
und sich ebenso wenig für den anderen interessierten.
Vielleicht war es gar nicht so
schlecht, in Richtung Norden zu laufen. Irgendwo dort lag nämlich tatsächlich eine
Stadt, die eventuell für meinen Zweck geeignet sein konnte. Nur musste ich
vorher dorthin gelangen. Einen Wagen bekam ich nicht, Zug war des Preises wegen
und Flug wegen der Kontrollen ausgeschlossen. Aber vielleicht würde ich dennoch
einen Weg finden. Eine andere Chance hatte ich ja nicht.
Schließlich hielt ich an einem
hohlen Baum inne. Ich ignorierte alles Krabbelgetier, welches mich
normalerweise leicht in Unstimmung versetzte, und kroch selbst in den tristen
Unterschlupf.
Die Tage wurden immer länger.
Eine Woche lang streifte ich nur durch den Wald und mied jegliche Zivilisation.
Das war gar nicht so einfach, da sich in den letzten Jahrzehnten mehrere neue
Dörfer in der Umgebung gebildet hatten. Die Menschen, die Ruhe suchten, zogen
aus der Stadt weg, die, welche gescheitert waren, versuchten auf dem Land ihr
Glück wie jene, die Angst haben mussten, verfolgt zu werden. Aus dieser
Perspektive gesehen hätte ich in den Dörfern sogar Hilfe erhalten können. Wie
aber herausfinden, wer Freund war und wer Verräter? Menschen, die einen Gast
aufnahmen und ihn danach verrieten, gab es zur Genüge. Die Chancen, einen
anderen Ausgewiesenen zu treffen, noch dazu einen ehrlichen, standen zu gering.
Eine Woche lang ernährte ich mich
von dem, was ich fand. Die Vorräte, die meine Mutter mir überlassen hatte,
gingen allmählich zur Neige und ich sah mich gezwungen, mehr schlecht als recht
vegetarisch zu leben. Ich hätte auf die Jagd gehen können, aber dann ergäbe
sich das Problem, wie ich das gewonnene Fleisch zubereiten würde, da ich mich
nicht traute, ein Feuer zu entzünden.
Nachts war es quälend kalt. Nach
drei Tagen hatte ich eine chronische Erkältung und litt unter meinem eklatanten
Mangel an Wissen über Heilkräuter. Das wenige, was ich an Arzneien besaß
verwendete ich sparsam. Aber auch das ständige auf der Hut Sein und das Fehlen
menschlicher Gesellschaft begannen, mir zuzusetzen, und es war offensichtlich,
dass ich an meiner Situation, sofern ich überleben wollte, etwas ändern musste.
Doch das Misstrauen ließ mir keine
Ruhe. Wie war es möglich, dass ich eine Woche lang unbehelligt durch den Wald
lief? Niemand hatte mich eingeholt, war auch nur in meine Nähe gekommen. Kein
Mensch war mir begegnet. War es denn möglich, dass sie mit all ihrer Technik
nicht in der Lage waren, mich aufzuspüren? Hatte ich so gut Acht gegeben? Oder
beobachteten sie mich eventuell bereits und warteten nur darauf, mir eine Falle
zu stellen? Wozu aber? Ich war nicht gefährlich genug, dass derartiges nötig
gewesen wäre. Vielleicht hatte ich auch Glück und war ihnen schlichtweg egal.
Vielleicht hatten sie nur ein Exempel statuieren wollen, indem sie mich von zu
Hause fortjagten. Vielleicht spekulierten sie darauf, dass ich mich selbst
umzubringen wusste. Doch wer konnte sich dessen sicher sein?
Im Regen unter einer Eiche
kauernd fasste ich einen Entschluss. Ich hatte eine Waffe. Mittels derer würde
ich mir irgendeine Verkleidung verschaffen, um ein vorerst einziges Mal in ein
Dorf zu gehen. Ich wollte die Menschen sehen, wollte ihr Verhalten untersuchen,
um weitere Entschlüsse zu fassen. Und ich wollte nach Steckbriefen suchen. Gab
es keine, so konnte ich zumindest vorerst davon ausgehen, dass mich nicht jeder
suchte. Vielleicht konnte ich mich wenige Male einigen Passanten zeigen, um
ihre Reaktion zu beobachten. Kannten sie mich, so würde ich es merken. Kannten
sie mich nicht, so war meine gesamte Maskerade nur ein unnötiger Stressfaktor,
den ich daraufhin ablegen könnte. Ich wusste nicht, ob ich eventuell zu
unvorsichtig war, aber der Versuch war mir die eventuellen Risiken wert. Alles
war es mir wert, wieder unter Menschen zu kommen und vielleicht zu einer
richtigen, warmen Mahlzeit...
Das Glück offenbarte sich mir ein
erstes Mal seit langem, als ich mich in die Nähe eines Waldweges begab. Es erschien
mir in Form eines alten fahrenden Händlers (auch von diesen gab es seit einigen
Jahrzehnten immer mehr, da die Menschen sich inzwischen wieder lieber auf
Tauschhandel verließen, als auf das Geld, das sie nicht besaßen), der gerade
seinen Weg in das nächste Dorf (mit Namen Kenri) bestritt. Sein Schutt sprang
wild auf dem Holzkarren umher, den er selbst mühevoll die schlecht asphaltierte
Straße entlang schleppte.
Kurz spekulierten ich, dann kam
ich zu dem Schluss, dass ich ihn überwältigen konnte. Ich zog mein Messer und
pirschte aus meinem Busch auf ihn zu. Bei dem Lärm den der Krimskrams
verursachte, welchen er umständlich auf seinem Vehikel festgezurrt hatte, hörte
er nicht einen meiner Schritte. Es waren nur noch wenige Meter zwischen mir und
ihm, als mich kalter Zweifel packte. Noch nie zuvor hatte ich einen Menschen
getötet. Woher wollte ich mir das Recht nehmen, es mit diesem Unschuldigen zu
tun?
Da wandte er sich plötzlich um
und sah mich an.
Unverzüglich verschwand das
Messer hinter meinem Rücken. Überrascht blieb ich stehen und er tat es mir
gleich.
Er musterte mich freundlich
lächelnd, dann nickte er mir zu.
„Auch auf dem Weg ins Dorf“,
sprach er mit altersbrüchiger Stimme.
„Ja“, antwortete ich schnell und
versuchte, mein Stocken zu verbergen. Es war das erste Mal seit elf Tagen, dass
ich jemanden zu mir sprechen hörte.
„Nun denn. Wollen wir nicht ein
Stück zusammen gehen?“, fragte mich der Alte, „Der Weg ist viel kürzer, wenn
man jemanden hat, um sich mit ihm zu unterhalten.“
Nach einem weiteren überraschten
Stocken nickte ich blass. Er lächelte und setzte sich schwerfällig wieder in
Bewegung. So auch ich, schweigend und mich insgeheim fragend, welchen Plan das
Universum nun mit mir hatte.
„Sie sind so blass, Kind. Ist
Ihnen nicht gut?“
„Doch, doch“, erwiderte ich und
riss mich zusammen. „Nur etwas erschöpft. Die letzten Tage waren...ermüdend.“
„Tatsächlich?“, fragte er
schmunzelnd, „Sie müssen weit gereist sein. Woher kommen Sie?“
Ich wollte schon antworten, als
ich mich anders besann. „Birken“, ersponn ich, „Das ist ein Kleines Dorf weiter
im Westen.“
„Bei Arkami?“, fragte er.
„Ja genau“, kam meine Erwiderung,
„Und Sie? Woher kommen Sie.“
Der Alte lächelte müde: „Ich
ziehe von Dorf zu Dorf, Kindchen. Ich bin so weit gekommen, dass ich gar nicht
mehr genau weiß, woher ich eigentlich stamme. Aber meine Stadt, Fräulein, das
müssen Sie mir glauben, war ein phantastischer Ort. Leider habe ich...nie den
Weg zurück gefunden...“
Verdutzt sah ich ihn an. „Warum
haben Sie niemanden gefragt?“
„Das habe ich, das habe ich“,
erwiderte er leise, „Aber die Leute sahen mich an, als hätten sie noch nie von
dem Ort gehört.“
Fasziniert betrachtete ich ihn.
Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor. Es war, als würde ich jemandem
begegnen, dem ich einmal begegnet war und den ich dann vergessen hatte.
„Eigentlich“, weckte er mich aus
meinen Gedanken, „versuche ich nur, nicht weiter aufzufallen.“
Und sah mich an. Seine
steingrauen, uralten Augen sahen mir direkt in die Seele. Sie waren älter, als
sein Körper erschien, wässrig und stumpf. Aber tief in ihrem Inneren erkannte
man einen Funken von etwas, was man nur erahnen konnte.
Eine Weile gingen wir schweigend
weiter, während meine Gedanken sich ausleerten und es mir erschien, als hätte
sich in meinem Leben nie etwas geändert.
„Soll ich Ihnen beim ziehen
helfen?“, fragte ich dann unvermittelt.
Er lächelte zufrieden: „Wie
heißen Sie, Fräulein?“
„Zimt“, erlog ich rasch (Derart
ausgefallene Namen waren etwa neunzig Jahre zuvor modern geworden und hatten
sich nicht wieder austreiben lassen. Meine Großmutter hieß Lampia), „Zimt
Kandessa.“
Sein Lächeln wurde noch weiser
und für einen Moment dachte ich, dass er meine Schwindelei durchschaute.
„Lokin“, antwortete er dann, „Es
ist mir eine Ehre, Ihre freundliche Hilfe anzunehmen, Fräulein Zimt Kandessa.“
Den ganzen Weg über, indem ich ihm dabei half, seinen
schweren Karren voranzubringen, sprach er mich nicht ein einziges Mal mehr auf
meine Vergangenheit an. Wir waren zwei verirrte Wanderer. Lokin Peskan, der
seine Herkunft vergessen hatte, und ich, die ich sie verleugnete. Es gab keine
Vergangenheit mehr. Von jetzt an ging mein Blick nur noch nach vorn. Und das
musste er auch. Mehr, als ich es zu diesem Zeitpunkt noch vermutete. Denn in
der unsichtbaren Ferne erhoben sich bereits die ersten Rauchschwaden in den
azurblauen Himmel.
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