So stand ich nun im Regen,
frierend, müde und schmutzig, erschöpft und aufgeregt, wie zu früherer Zeit ein
Kind am Weihnachtstag. Niemand war auf den Straßen. War es ein Wunder? Jeder,
der noch bei Sinnen war, befand sich in seinem Wohnzimmer mit einer Tasse Tee
vor der Mattscheibe. Aber ich – ich hatte die ganze letzte Woche in der
Witterung gelebt. Ich lebte zurückgeworfen ins Mittelalter. Ohne
Heizung, ohne Herd, selbst ohne Dach. Aber ich lebte.
Zum Abschied hatte mir Lokin
einen Umhang geschenkt. Er meinte, dass ich bei dem Wetter frieren müsse und
wollte mir etwas Gutes tun, weil ich ihn begleitet und ihm geholfen hatte. Ich
hatte kurz gerätselt, woher er dieses Stück Kleidung bekommen hatte, denn es
sah tatsächlich – passend zu meiner Situation – sehr mittelalterlich aus. Aber
die meisten der Dinge, die er mit sich herumschleppte, wirkten ausgesprochen
vorsintflutlich.
Wahrscheinlich wäre ich in diesem
Mantel auffallen wie ein bunter Hund, wenn nicht niemand von mir Notiz genommen
hätte. Tatsächlich hatte keiner der drei Passanten, denen ich kurz mein Gesicht
offenbart hatte, eine Regung gezeigt. Damit ließ es sich ausschließen, dass
mein Profil im Fernsehen aufgetaucht sein könnte.
Die Tropfen rannen mir über das
Gesicht. Sie liefen meine Wangen hinunter, über meine Lippen und tropften mir
vom Kinn. Und das erste Mal begriff ich es: Ich war fort von zu Hause. Ich
stand plötzlich völlig auf eigenen
Beinen. Und ich war allein. Ganz allein.
Keine Steckbriefe. Überall hingen
welche herum, aber keinen zierte mein Gesicht. Meistens waren es eh nur Katzen
und Kinder, die gesucht wurden. Schlimm genug.
Einen der Papierfetzen riss ich
von seiner Aufhängung und sah ihn mir genauer an. Das Leben lief weiter, wie es
war. Nichts hatte sich geändert. Außer meiner Situation. Aber zurückgehen
konnte ich trotzdem nicht. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass an dem
Frieden etwas faul war...
„Hey, Mädel!“
„Ja?“ Ich wandte mich nicht um.
Plötzlich schlug mir das Herz bis zum Hals.
„Du wirst ja ganz nass.“
Jemand legte mir eine Hand auf
die Schulter und beinahe zuckte ich zusammen.
„Haste was, wo de bleiben
kannst?“
„Nicht direkt.“
Kurz schwieg die Frau. „Na komm
schon“, sagte sie und ich hörte Schritte, „Schlafen kannste heut Nacht bei mir.
Ich hab n Zimmer frei. Haste Geld?“
„Nicht direkt“, erwiderte ich.
Ein stummes Seufzen erklang: „Na,
is egal. Man hilft ja eben doch, wo man kann. Nu komm aber auch. Ich will nicht
die ganze Nacht auf der Straße stehen.“
Eh ich mich versah, stand ich in
einer Diele mit Laminat unter den Füßen und wohliger Wärme um mich.
„Du kannst deinen Mantel jetz
ausziehen“, bemerkte die Stimme leicht schnippisch, „Du siehst ja: Hier drin
regnets ja nich.“
„Ja, Sie haben recht“, beeilte
ich mich zu sagen und fragte mich im selben Moment, was ich hier eigentlich
tat. Hatte ich den Verstand verloren, in ein Haus zu gehen?
Unbehaglich schlug ich meine
Kapuze zurück und musterte die Züge meiner Gastgeberin.
Kurz herrschte Schweigen. Nichts
an ihrem Gesicht veränderte sich.
„Willste den jetz ausziehen oder
nich. Beeil dich mal. Wir ham noch nich gegessen.“
„Natürlich“, gab ich zu und
streifte meinen Mantel gänzlich ab.
„Mannomann“, schimpfte die Dame
des Hauses, „Die Kälte muss dir aber ganz schön zugesetzt haben, Kleene, wenn
de so begriffsstutzig bist.“
Ohne etwas zu erwidern folgte ich
ihr ins Wohnzimmer, wo ich sofort das Gebrabbel eines Fernsehers vernahm. Auch
der Hausherr schien mich nicht zu erkennen. Er sah nur kurz auf, dann brummte
er besoffen: „Wir ham ja Besuch.“ Und wandte sich wieder den flimmernden
Bildern zu.
Im Durchschnitt sahen die
Menschen acht Stunden am Tag fern. Selbst beim schlafen noch liefen die
Bildschirme. Hätte man mich wirklich gesucht, wäre dieses das perfekte Medium
gewesen.
Nachdem ich etwas zu essen
bekommen und mich hatte zurückhalten müssen, um nicht zu schlingen,
verabschiedete ich mich zeitig ins Bett und dankte zum wiederholten Male für
die Gastfreundlichkeit, was nur mit einem gleichgültigen „Ja, ja“, kommentiert
wurde. Ich bereitete mein Bett und schlüpfte gewaschen und satt unter die
Decke, meine Sachen und meinen Mantel neben mir auf einem Stuhl liegend. Fast
sofort übermannte mich die Müdigkeit. Hätte sie es nicht getan, hätte mich
vielleicht schon viel früher ein leises Klicken im unteren Stock aufschrecken
lassen.
Erst, als ich leise Schritte in
der Diele, welche sich unter meinem Raum befand, hörte, schlug ich die Augen
auf. Es war, als versuchte jemand, Geräusche zu vermeiden. Sofort saß ich
hellwach im Bett.
„Sie sind sicher?“, flüsterte
jemand.
„Ja“, brummte eine andere Stimme,
„ein Bürgersmann hat sie erkannt. Ist ihr Raum oben?“
Etwas klickte.
Ein zuvor monatelang
durchgeführtes Training im Hause meiner Mutter erlaubte es mir, innerhalb einer
Minute komplett eingekleidet zu sein. Da waren die Schritte bereits auf der
untersten Treppenstufe.
Verdammt! Dass ich fliehen
musste, dessen war ich sicher. Aber wie? Mein Blick fiel auf das Fenster.
Die Schritte erklommen die
Stufen.
„Ist sie bewaffnet?“
„Keene Ahnung...“, erklang die
verängstigte Stimme meiner Gastgeberin, „Aber ich bitte Sie. Was hat die Kleene
denn gemacht?“
Ich hörte, wie er sich zu ihr
umwandte und hielt den Atem an. Wenn die Frau klug war, schwieg sie jetzt. Und
das tat sie.
Wieder Schritte, leiser,
vorsichtiger, näherten sich meiner Zimmer.
Mit einem Mal schwang die Tür
auf. „Keine Bewegung!“, brüllte der Wachmann. Doch dieses Mal hatte er kein
Glück.
Als er den Raum betrat, war dieser
leer. Das Fenster stand leicht offen. Das Bett war zerwühlt und verlassen,
sonst gab es kein Anzeichen dafür, dass sich in diesem Raum eine fremde Person
befunden haben konnte.
Wieder hallten vorsichtige
Schritte über den Boden:
Die Schritte näherten sich dem
Kanapee.
„Vielleicht is se durchs Fenster
weg“, erklang die Stimme des Hausherrn und er entschuldigte sich auf einen
unangebrachten Rülpser hin.
„Möglich“, erklärte der Wachmann,
ging zum Fenster hinüber und schloss es, nachdem er hinaus gespäht hatte, „Aber
da unten stehen meine Männer. Die hätten sie erwischt...“
Nun kam er zum Bett. Rüpelhaft
zerrte er die Bezüge hinunter, dann ging er in die Hocke, um darunter zu
schauen.
Nichts.
Mein Herz schlug mir bis zum
Hals.
Er öffnete den Schrank, ging zur
Zimmertür, riss sie ruckartig zurück, um dahinter zu sehen -
Nichts.
Plötzlich wandte er sich um, zog
seine Pistole und schoss in die Matratze. Die Frau schrie auf. Eine Wolke aus
Federn hüllte den Raum ein. Doch keine Verfärbung zeigte sich im flauschigen
Weiß. Kein Blut. Und keine Regung.
Nachdenklich steckte der Wachmann
seine Waffe weg. „Nicht einmal ihre Tasche ist noch hier“, murmelte er mehr für
sich selbst, „Wie hat sie das...?“
„Ham se wohl doch gepennt, Ihre
feinen Wachleute“, kicherte der Hausherr.
Der Wachmann blieb unbeeindruckt.
Er ging zur Tür zurück: „Folgen Sie mir bitte, ich hätte da noch einige Fragen
an Sie.“
In der Ferne trug der Wind ein
paar Daunen weit über die Dächer.
Schritte auf der Treppe nach
unten. Eine Weile Stille. Dann vernahm man in der Nacht, wie Hauptmann Leier
seine Männer anbrüllte, die kurz darauf begannen, das Haus von Innen zu
durchkämmen.
Währenddessen seilte sich an der
äußeren Fassade jemand aus einem der Fenster im ersten Stock ab, landete weich
auf dem unbewachten Boden, zupfte sich ein paar Federn aus dem Haar und nahm
die Beine in die Hand. Wenn sie das nächste mal das Zimmer betraten, würden sie
die zur Hälfte ausgeleerte Matratze vorfinden und einige Federn an den Simsen
hängen. Ich hatte verdammt Glück gehabt, dass er daneben geschossen hatte...
Am nächsten Morgen erinnerte ich
mich nur noch an die Hälfte von all dem. Jedoch bewunderte ich die
Geschwindigkeit, mit der ich es bewerkstelligt hatte, ein Loch in die Matratze
zu schneiden, das Fenster zu öffnen, einen Haufen Daunen in die Nacht zu
schmeißen, die der Wind Gott sei Dank über die Wachleute hinweggetragen hatte,
und in das Federwerk zu kriechen, ohne einen Laut von mir zu geben. Aber ihre
Unterhaltung hatte mir Zeit geschenkt und meine Angst mir Adrenalin. Es war ein
Segen, dass das Haus so hellhörig gewesen war, und ein Wunder, dass ich genau
die richtige Menge an Federn erwischt hatte, dass ich die Matratze genau so
zugehalten hatte, dass niemand den Schlitz sah, dass die wenigen herumfusselnden
Federn im Schatten gelandet waren, dass ich von der Kugel, die drei Zentimeter
neben der Stelle, an der ich mich befunden hatte, ins Bettgestell eingeschlagen
war, verschont geblieben war.
Es war ein Wunder.
Und so erwachte ich des Morgens
irgendwo im Wald auf einem Baum, dessen Äste eine Art Plattform bildeten,
sodass ich darauf hatte schlafen können, ohne herunter zu fallen, und wunderte
mich über meine Unversehrtheit.
Wenige Minuten später war ich
bereits wieder auf dem Weg. Ich musste so weit wie möglich fort von hier. Doch
dieses Mal, war das Glück mir nicht hold. In der Nähe eines weiteren Dorfes
entdeckte ich zwei Tage später, in denen ich beinahe durchgehend gelaufen war,
eine Zeitung vom Vortag.
Gesuchte Verbrecherin,
stand in der Schlagzeile.
Ich las die ersten Sätze:
'In der Nacht auf Freitag
wurde das Versteck einer entflohenen Straftätigen entdeckt, die sich als
harmloser Wanderer in einem zivilen Gebäude Unterschlupf erschlichen hatte.
Polizeilichen Bemühungen, die Zivilbevölkerung über sie in Kenntnis zu setzen
und sie zu inhaftieren, zum Trotz gelang ihr die Flucht in den nahegelegenen
Wald.'
Mein Blick schweifte bis zum Ende
des Artikels:
'Es ist zu vermuten, dass
besagte Kriminelle erneut in einer Siedlung auftauchen wird. Daher ist jeder
Bürger dazu angehalten, Obacht walten zu lassen...'
Etc. etc. Daneben zierte ein
altes Bild von mir das Papier. Damals fragte ich mich noch nicht, woher sie das
gehabt hatten. Ich übersah diesen Aspekt im Angesicht der Ereignisse leider
völlig. Stattdessen beschäftigten mich andere Dinge.
Sie hatten also beschlossen, nun
eine andere Strategie zu fahren. Von jetzt an konnte ich es wohl endgültig
vergessen, noch einmal ein Dorf oder eine Stadt aufzusuchen. Ich musste mir
ehrlich etwas einfallen lassen. So viel Glück ich drei Nächte zuvor gehabt
hatte, so viel Pech hatte ich wohl nun. Aber eins war mir dadurch wenigstens
sicher: Sie hatten mich nicht vergessen. Sie hatten mich einfach nur aus meinem
Versteck locken wollen, wenn ich mich in Sicherheit wog. Aber warum hatten sie
mich im Wald nicht bereits verfolgt? Hatten sie womöglich tatsächlich meine
Spur verloren?
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