MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Donnerstag, 14. Juni 2012

2. Der erste Schritt (21.09. - 24.09.2133)

von Lady Marie


So stand ich nun im Regen, frierend, müde und schmutzig, erschöpft und aufgeregt, wie zu früherer Zeit ein Kind am Weihnachtstag. Niemand war auf den Straßen. War es ein Wunder? Jeder, der noch bei Sinnen war, befand sich in seinem Wohnzimmer mit einer Tasse Tee vor der Mattscheibe. Aber ich – ich hatte die ganze letzte Woche in der Witterung gelebt. Ich lebte zurückgeworfen ins Mittelalter. Ohne Heizung, ohne Herd, selbst ohne Dach. Aber ich lebte.
Zum Abschied hatte mir Lokin einen Umhang geschenkt. Er meinte, dass ich bei dem Wetter frieren müsse und wollte mir etwas Gutes tun, weil ich ihn begleitet und ihm geholfen hatte. Ich hatte kurz gerätselt, woher er dieses Stück Kleidung bekommen hatte, denn es sah tatsächlich – passend zu meiner Situation – sehr mittelalterlich aus. Aber die meisten der Dinge, die er mit sich herumschleppte, wirkten ausgesprochen vorsintflutlich.
Wahrscheinlich wäre ich in diesem Mantel auffallen wie ein bunter Hund, wenn nicht niemand von mir Notiz genommen hätte. Tatsächlich hatte keiner der drei Passanten, denen ich kurz mein Gesicht offenbart hatte, eine Regung gezeigt. Damit ließ es sich ausschließen, dass mein Profil im Fernsehen aufgetaucht sein könnte.
Die Tropfen rannen mir über das Gesicht. Sie liefen meine Wangen hinunter, über meine Lippen und tropften mir vom Kinn. Und das erste Mal begriff ich es: Ich war fort von zu Hause. Ich stand  plötzlich völlig auf eigenen Beinen. Und ich war allein. Ganz allein.
Keine Steckbriefe. Überall hingen welche herum, aber keinen zierte mein Gesicht. Meistens waren es eh nur Katzen und Kinder, die gesucht wurden. Schlimm genug.
Einen der Papierfetzen riss ich von seiner Aufhängung und sah ihn mir genauer an. Das Leben lief weiter, wie es war. Nichts hatte sich geändert. Außer meiner Situation. Aber zurückgehen konnte ich trotzdem nicht. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass an dem Frieden etwas faul war...
„Hey, Mädel!“
„Ja?“ Ich wandte mich nicht um. Plötzlich schlug mir das Herz bis zum Hals.
„Du wirst ja ganz nass.“
Jemand legte mir eine Hand auf die Schulter und beinahe zuckte ich zusammen.
„Haste was, wo de bleiben kannst?“
„Nicht direkt.“
Kurz schwieg die Frau. „Na komm schon“, sagte sie und ich hörte Schritte, „Schlafen kannste heut Nacht bei mir. Ich hab n Zimmer frei. Haste Geld?“
„Nicht direkt“, erwiderte ich.
Ein stummes Seufzen erklang: „Na, is egal. Man hilft ja eben doch, wo man kann. Nu komm aber auch. Ich will nicht die ganze Nacht auf der Straße stehen.“

Eh ich mich versah, stand ich in einer Diele mit Laminat unter den Füßen und wohliger Wärme um mich.
„Du kannst deinen Mantel jetz ausziehen“, bemerkte die Stimme leicht schnippisch, „Du siehst ja: Hier drin regnets ja nich.“
„Ja, Sie haben recht“, beeilte ich mich zu sagen und fragte mich im selben Moment, was ich hier eigentlich tat. Hatte ich den Verstand verloren, in ein Haus zu gehen?
Unbehaglich schlug ich meine Kapuze zurück und musterte die Züge meiner Gastgeberin.
Kurz herrschte Schweigen. Nichts an ihrem Gesicht veränderte sich.
„Willste den jetz ausziehen oder nich. Beeil dich mal. Wir ham noch nich gegessen.“
„Natürlich“, gab ich zu und streifte meinen Mantel gänzlich ab.
„Mannomann“, schimpfte die Dame des Hauses, „Die Kälte muss dir aber ganz schön zugesetzt haben, Kleene, wenn de so begriffsstutzig bist.“
Ohne etwas zu erwidern folgte ich ihr ins Wohnzimmer, wo ich sofort das Gebrabbel eines Fernsehers vernahm. Auch der Hausherr schien mich nicht zu erkennen. Er sah nur kurz auf, dann brummte er besoffen: „Wir ham ja Besuch.“ Und wandte sich wieder den flimmernden Bildern zu.
Im Durchschnitt sahen die Menschen acht Stunden am Tag fern. Selbst beim schlafen noch liefen die Bildschirme. Hätte man mich wirklich gesucht, wäre dieses das perfekte Medium gewesen.
Nachdem ich etwas zu essen bekommen und mich hatte zurückhalten müssen, um nicht zu schlingen, verabschiedete ich mich zeitig ins Bett und dankte zum wiederholten Male für die Gastfreundlichkeit, was nur mit einem gleichgültigen „Ja, ja“, kommentiert wurde. Ich bereitete mein Bett und schlüpfte gewaschen und satt unter die Decke, meine Sachen und meinen Mantel neben mir auf einem Stuhl liegend. Fast sofort übermannte mich die Müdigkeit. Hätte sie es nicht getan, hätte mich vielleicht schon viel früher ein leises Klicken im unteren Stock aufschrecken lassen.

Erst, als ich leise Schritte in der Diele, welche sich unter meinem Raum befand, hörte, schlug ich die Augen auf. Es war, als versuchte jemand, Geräusche zu vermeiden. Sofort saß ich hellwach im Bett.
„Sie sind sicher?“, flüsterte jemand.
„Ja“, brummte eine andere Stimme, „ein Bürgersmann hat sie erkannt. Ist ihr Raum oben?“
Etwas klickte.
Ein zuvor monatelang durchgeführtes Training im Hause meiner Mutter erlaubte es mir, innerhalb einer Minute komplett eingekleidet zu sein. Da waren die Schritte bereits auf der untersten Treppenstufe.
Verdammt! Dass ich fliehen musste, dessen war ich sicher. Aber wie? Mein Blick fiel auf das Fenster.
Die Schritte erklommen die Stufen.
„Ist sie bewaffnet?“
„Keene Ahnung...“, erklang die verängstigte Stimme meiner Gastgeberin, „Aber ich bitte Sie. Was hat die Kleene denn gemacht?“
Ich hörte, wie er sich zu ihr umwandte und hielt den Atem an. Wenn die Frau klug war, schwieg sie jetzt. Und das tat sie.
Wieder Schritte, leiser, vorsichtiger, näherten sich meiner Zimmer.
Mit einem Mal schwang die Tür auf. „Keine Bewegung!“, brüllte der Wachmann. Doch dieses Mal hatte er kein Glück.
Als er den Raum betrat, war dieser leer. Das Fenster stand leicht offen. Das Bett war zerwühlt und verlassen, sonst gab es kein Anzeichen dafür, dass sich in diesem Raum eine fremde Person befunden haben konnte.
Wieder hallten vorsichtige Schritte über den Boden:
Die Schritte näherten sich dem Kanapee.
„Vielleicht is se durchs Fenster weg“, erklang die Stimme des Hausherrn und er entschuldigte sich auf einen unangebrachten Rülpser hin.
„Möglich“, erklärte der Wachmann, ging zum Fenster hinüber und schloss es, nachdem er hinaus gespäht hatte, „Aber da unten stehen meine Männer. Die hätten sie erwischt...“
Nun kam er zum Bett. Rüpelhaft zerrte er die Bezüge hinunter, dann ging er in die Hocke, um darunter zu schauen.
Nichts.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Er öffnete den Schrank, ging zur Zimmertür, riss sie ruckartig zurück, um dahinter zu sehen -
Nichts.
Plötzlich wandte er sich um, zog seine Pistole und schoss in die Matratze. Die Frau schrie auf. Eine Wolke aus Federn hüllte den Raum ein. Doch keine Verfärbung zeigte sich im flauschigen Weiß. Kein Blut. Und keine Regung.
Nachdenklich steckte der Wachmann seine Waffe weg. „Nicht einmal ihre Tasche ist noch hier“, murmelte er mehr für sich selbst, „Wie hat sie das...?“
„Ham se wohl doch gepennt, Ihre feinen Wachleute“, kicherte der Hausherr.
Der Wachmann blieb unbeeindruckt. Er ging zur Tür zurück: „Folgen Sie mir bitte, ich hätte da noch einige Fragen an Sie.“
In der Ferne trug der Wind ein paar Daunen weit über die Dächer.
Schritte auf der Treppe nach unten. Eine Weile Stille. Dann vernahm man in der Nacht, wie Hauptmann Leier seine Männer anbrüllte, die kurz darauf begannen, das Haus von Innen zu durchkämmen.
Währenddessen seilte sich an der äußeren Fassade jemand aus einem der Fenster im ersten Stock ab, landete weich auf dem unbewachten Boden, zupfte sich ein paar Federn aus dem Haar und nahm die Beine in die Hand. Wenn sie das nächste mal das Zimmer betraten, würden sie die zur Hälfte ausgeleerte Matratze vorfinden und einige Federn an den Simsen hängen. Ich hatte verdammt Glück gehabt, dass er daneben geschossen hatte...

Am nächsten Morgen erinnerte ich mich nur noch an die Hälfte von all dem. Jedoch bewunderte ich die Geschwindigkeit, mit der ich es bewerkstelligt hatte, ein Loch in die Matratze zu schneiden, das Fenster zu öffnen, einen Haufen Daunen in die Nacht zu schmeißen, die der Wind Gott sei Dank über die Wachleute hinweggetragen hatte, und in das Federwerk zu kriechen, ohne einen Laut von mir zu geben. Aber ihre Unterhaltung hatte mir Zeit geschenkt und meine Angst mir Adrenalin. Es war ein Segen, dass das Haus so hellhörig gewesen war, und ein Wunder, dass ich genau die richtige Menge an Federn erwischt hatte, dass ich die Matratze genau so zugehalten hatte, dass niemand den Schlitz sah, dass die wenigen herumfusselnden Federn im Schatten gelandet waren, dass ich von der Kugel, die drei Zentimeter neben der Stelle, an der ich mich befunden hatte, ins Bettgestell eingeschlagen war, verschont geblieben war.
Es war ein Wunder.
Und so erwachte ich des Morgens irgendwo im Wald auf einem Baum, dessen Äste eine Art Plattform bildeten, sodass ich darauf hatte schlafen können, ohne herunter zu fallen, und wunderte mich über meine Unversehrtheit.
Wenige Minuten später war ich bereits wieder auf dem Weg. Ich musste so weit wie möglich fort von hier. Doch dieses Mal, war das Glück mir nicht hold. In der Nähe eines weiteren Dorfes entdeckte ich zwei Tage später, in denen ich beinahe durchgehend gelaufen war, eine Zeitung vom Vortag.
Gesuchte Verbrecherin, stand in der Schlagzeile.
Ich las die ersten Sätze:

'In der Nacht auf Freitag wurde das Versteck einer entflohenen Straftätigen entdeckt, die sich als harmloser Wanderer in einem zivilen Gebäude Unterschlupf erschlichen hatte. Polizeilichen Bemühungen, die Zivilbevölkerung über sie in Kenntnis zu setzen und sie zu inhaftieren, zum Trotz gelang ihr die Flucht in den nahegelegenen Wald.'

Mein Blick schweifte bis zum Ende des Artikels:

'Es ist zu vermuten, dass besagte Kriminelle erneut in einer Siedlung auftauchen wird. Daher ist jeder Bürger dazu angehalten, Obacht walten zu lassen...'

Etc. etc. Daneben zierte ein altes Bild von mir das Papier. Damals fragte ich mich noch nicht, woher sie das gehabt hatten. Ich übersah diesen Aspekt im Angesicht der Ereignisse leider völlig. Stattdessen beschäftigten mich andere Dinge.
Sie hatten also beschlossen, nun eine andere Strategie zu fahren. Von jetzt an konnte ich es wohl endgültig vergessen, noch einmal ein Dorf oder eine Stadt aufzusuchen. Ich musste mir ehrlich etwas einfallen lassen. So viel Glück ich drei Nächte zuvor gehabt hatte, so viel Pech hatte ich wohl nun. Aber eins war mir dadurch wenigstens sicher: Sie hatten mich nicht vergessen. Sie hatten mich einfach nur aus meinem Versteck locken wollen, wenn ich mich in Sicherheit wog. Aber warum hatten sie mich im Wald nicht bereits verfolgt? Hatten sie womöglich tatsächlich meine Spur verloren?

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