MVJstories

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Montag, 25. November 2013

Wenn der Würfel fällt - Teil III




Von Mr.Big



3 Stunden zuvor

Auf dem Revier hat Inspektor Jim Kramer von alldem nichts mitbekommen. Er sitzt in seinem Stuhl, die Füße auf dem Tisch und die aufgeschlagene Akten auf dem Schoß. Alles wuselt in der Abteilung vor sich hin, im üblichen Trott, ohne nennenswerte Auffälligkeiten. Irgendwo klingelt ein Telefon. Er überlegt kurz den Hörer abzunehmen, besinnt sich dann aber wieder auf seine eigentliche Aufgabe zurück und überlässt den Job einem Kollegen. Wo zum Teufel ist eigentlich Volitar, fragt er sich. Sie sollte schon längst mit den Beweismitteln zurücksein. Eine Anordnung vom Obersten Richter. Erneute Kontrolle der Gegenstände, die der Angeklagte bei sich getragen hat. Na, wenn es denn sein muss.

Jim beginnt zu lesen. 

Der Angeklagte ist als notorischer Falschspieler bekannt …blablabla…Anklageschrift: Totschlag…blablabla….wird vorgeworfen, wahrscheinlich im Affekt gehandelt zu haben…blablabla…Opfer ist Kasinobesitzer Herr….blablabla (wie uninteressant)…Angeklagter beschreibt sich selbst als unschuldig…blablabla…höhere Macht steuerte ihn...…warte, was zum Teufel?

Jim stutzt. Was er da liest ergibt keinen Sinn.

Der Angeklagte gab zum Protokoll, dass er unschuldig sei, weil er von einer höheren Macht zu der Tat gedrängt wurde. Er sagte, vor der vermeintlichen Tat mehrfach am gleichen Seven Eleven – Tisch große Summen gewonnen zu haben.  Nach Zeugenaussagen kam der Kasinobesitzer höchstpersönlich zu ihm und stellte ihn zu Rede, wahrscheinlich, weil er misstrauisch geworden war. Beweismittel W1 und W2 haben ihn daraufhin, nach seinen Worten, „gezwungen, diesen Dreckskerl zu erledigen“. 

„Das nächste Mal bist du mit Suchen dran“. Clair Volitar erscheint und schaut ziemlich verärgert drein. Sie knallt einen Umschlag auf den Tisch.

Jim blickt zu ihr auf.

„Das wurde ja auch Zeit. Warum hat das denn so lange gedauert?“, fragt er spitz.

„Hatte ein Kollege wohl versehentlich ausgeliehen. Lag in der falschen Abteilung.“

Er greift sich den Umschlag und öffnet ihn. Die Versiegelung ist bereits durchbrochen. 

„Warum sollen wir nochmal erneut die Sachen von dem Typen durchwühlen?“, fragt Claire.

„Weil der Richter sich nochmal die Beweismittel angucken will, die den Typen „gezwungen“ haben sollen. Was für ein Schwachsinn.“ 

Er kippt den Inhalt aus. Auf dem Tisch verteilen sich Pokerchips, ein Paar Asse und zwei Joker. Widerwillig fällt ein weiteres Objekt aus der Öffnung. Blitze zucken auf. Das Ding springt mit unglaublichem Vergnügen auf der Tischplatte herum, bevor es zum Erliegen kommt. 

„Sag mal Claire, weißt du wie die Regeln für Seven-Eleven sind?“

„Klar, ist ein Spiel mit zwei Würfeln. Du brauchst die Summe Sieben oder Elf um zu gewinnen. Ganz einfach.“

Er schaut auf den Würfel vor ihm. Wow, der sieht echt edel aus, denkt sich Jim. Eine smaragdgrüne Fläche, durchbrochen von fünf weißen Punkten. An der Seite des Umschlags ist eine Checkliste aufgeklebt. 

Jim ist irritiert.

„Warte mal, wo ist der zweite Würfel?“  


Jetzt 

Es ist erstaunlich kalt an diesem Abend. Der Herbst hat bereits angefangen, seine Arbeit zu verrichten. Auf den Baumkronen im Park sind kaum noch Blätter zu erkennen.

Wie ist er hierhergekommen? Und wie viel Zeit ist zwischen dem Schuss und jetzt vergangen? Frank weiß es nicht. Es macht auch nichts mehr aus, ihm ist jetzt alles egal. Er fühlt nur noch Leere in sich. Ein tiefes Loch hat alle Emotionen aufgesaugt. Zurück bleibt bedrückende Schwärze, die wie ein Teerfilm auf seiner Seele klebt.

Gefühle sterben, Gedanken leben weiter.

Eingehüllt in einer dicken Winterjacke sitzt er auf der Parkbank. Langsam und zäh beginnen die Gedanken durch seinen Kopf zu fließen.

Wie konnte das nur alles passieren? Dieser Tag schien wie jeder andere. Doch was da passiert ist, hat alles verändert. Jetzt sitze ich hier, mir ist bitter kalt. Ich spüre die Schuld auf meinen Schultern. Sie drückt mich gnadenlos nach unten und zerquetscht mich.
Mein Freund ist tot. Ich habe einen Unbekannten erschossen. Und die Frau? Ich weiß nicht mal, ob sie es geschafft hat…

Das alles ist nur passiert, weil ich bin, wie ich bin. Nie in meinem Leben habe ich Entscheidungen fällen können. Ich bin Polizist geworden, weil ich genau wusste, wie logisch das war. Es ist etwas Gutes, das Gesetz zu hüten. Und sie geben die einen klaren Katalog an Aufgaben und Pflichten, du hast einen Kodex, nach dem du dich richten kannst. Keine Entscheidungen, nur Regeln. Doch was nützt dir dies im Angesicht des Todes? 

Er seufzt. Sein Atem geht langsam und schwer. Die Hände zittern. Ihm ist kalt.

Was habe ich bloß getan? Wieso bin ich so, wie ich bin? Ich dürfte niemals in diese Situation versetzt werden, Leben zu retten! Ich bin kein Retter. Ich bin ein Feigling. Ein Feigling, der sich nicht entscheiden kann. Noch niemals entscheiden konnte. Immer und immer wieder hat mich dieses verdammte Leben dazu gezwungen, Entscheidungen zu treffen. Realschule oder Gymnasium.  Ausbildung oder Studieren. Freundin oder Freiheit. Immer wieder musste ich mich entscheiden und nie habe ich die richtige Entscheidung getroffen.

Das Leben besteht aus so vielen einzelnen Variablen. Zusammengesetzt ergeben sie das Schicksal jenes Einzelnen. Doch wie soll man sich entscheiden, wenn man die Variablen nicht kennt, wenn einem die Gleichung nichts sagt? Wenn darauf nur Buchstaben und Zahlenreihen zu erkennen sind, die Substanz eines Leben, dass man nicht mehr versteht? Warum sitze ich hier? Was hat mich an diesen Ort gebracht? Meine Unfähigkeit, zu rechnen.

Wenn dir jemand im Mathematikunterricht eine Aufgabe gegeben hatte, hieß es immer: Finde die Lösung.  Das war meistens die Essenz des Ganzen. Aber es gibt nicht immer nur einen Weg zum Ziel. Mit mehr Aufwand konnte man manchmal zum selben Ergebnis kommen, von den vorgeschriebenen Pfaden abweichen und sich ein Stück Freiheit im komplizierten System des Lebens erkämpfen.

Doch dann legte jemand fest, dass es auch auf den Lösungsweg Punkte gab. Und von da an brach alles wieder zusammen. Feste Strukturen, keine Unabhängigkeit. Entscheidungen, die jeder für das Leben zu treffen hatte. Diesen oder jenen Job? Welche gottverdammte Versicherung nehme ich denn? Die wollen mich doch alle übers Ohr hauen! Was passiert, wenn der strikte Lösungsweg nicht mehr weiterhilft? Was soll man dann tun?

Das Logischste für mich wäre wohl gewesen, zum Polizeipsychologen zugehen. Geh dahin, rede mit ihm, ja, ja, dann wird alles wieder gut. Nichts wird wieder gut! Ich will nicht mehr an dieser vorgefertigten Lösung mitwirken, ich will ausbrechen aus diesem System. Falsche Variablen, die in Wirklichkeit Konstanten sind. Kann ich mich überhaupt noch entscheiden? Michael ist tot und wird auch für immer tot bleiben. Und Schuld bin ich! Egal was passiert, diese Konstante ist gesetzt und wird mich für immer verfolgen.

Er fühlt, dass er sich an einem Scheideweg in seinem Leben befindet. Der Verstand, der ihm einst so vertraut erschien, zeigt nur Gleichgültigkeit ihm gegenüber. 

Wie soll es nun weitergehen?

Wieder eine Entscheidung, die zu fällen ist.

Oder ist die Entscheidung eher: Soll es für mich weitergehen?

Das Logischste machen? Nie wieder, das Logischste hat mich hierher gebracht!

Wie so oft in seinem Leben, ist ihm alles egal. Was er braucht, ist nicht die erneute Qual, eine Entscheidung zu treffen, sondern eine Entscheidung und zwar sofort.

Frank zittert am ganzen Körper. Wer ist er, dass er über das Leben von drei Menschen entscheiden musste? Einer war ihm sehr nahe gewesen, die anderen Beiden hat er nicht einmal gekannt.

Er fasst an den Halfter. Seine Dienstwaffe sitzt fest und unbeteiligt darin.

Und über das eigene Leben? War man denn der Herr seiner Selbst? Doch was, wenn von dem Selbst nichts mehr übrig bleibt und es eigentlich egal ist, stehen zu bleiben oder weiterzugehen?  Weil der Weg nie enden wird, der schmerzvolle Weg, voll mit Steinen, die einen versuchen zu Fall bringen und so vielen Abzweigungen, die einen in die Irre führen wollen. Was macht es also aus, diese wichtigste Entscheidung jemand anderem zu überlassen? Er könnte genauso das Schicksal befragen, ihm ein Zeichen zu senden. 

In der Schule wäre jetzt Wahrscheinlichkeitsrechnung angesagt. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, jemals wieder ein gutes Leben zu führen? Nach diesem Vorfall? Seien wir nicht so kleinlich. Genauso hoch,  wie nie über das Geschehene hinwegzukommen und ewig als emotionaler Krüppel und Schuldiger zurückzubleiben. Dann kann ich auch gleich aufhören zu leben.

Gleiche Chance für beide Welten. Dazwischen gab es eine Vielzahl von Abzweigungen, Variablen. Aber Scheiß auf die Dinge, die ich eh nie berechnen konnte.

Es ging also um eine simple Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten. 

Leben oder Sterben, hallt es in seinem Kopf.

Er braucht einen Entscheidungsträger. 
 
Franks Blick fällt auf seine linke Hand. Der Würfel ruht seelenruhig darin und strahlt seine magische Aura in das schmerzverzerrte Gesicht. Seine Gedanken beginnen zu rasen.

Der gerade Weg, der einfache Weg, wäre, alles zu beenden. Nie wieder Schuld auf mich laden zu müssen. Nie wieder einen Kollegen im Stich lassen, nur mich selbst. Keine Verantwortung mehr übernehmen und nie wieder dieses falsche Spiel spielen! Der gerade Weg. Eine gerade Zahl.

Der ungerade Weg, der schwere Weg. Das alles irgendwie verarbeiten. Emotionen, wenn sie denn noch in mir schlummern, herausbrechen, herausschreien, sich neu sortieren, Betriebssystem neu aufsetzten, Cache leeren, neustarten. Nur eine kleine Datei in meinem Kopf würde mich für immer daran erinnern, wie mein Leben als entscheidungsunwilliger Idiot gewesen und was dadurch passiert ist. Der ungerade Weg. 

Gerade Zahl heißt Sterben. Ungerade heißt Leben.

Der Würfel ist einfach perfekt. Ich gebe die wichtigste Entscheidung meines Lebens aus der Hand. Warum auch nicht? War sie denn so wichtig? Wichtiger als andere, z.B. diese gottverdammte Zeitung abzubestellen? Nein. Am Ende, am Scheideweg des Seins, zählt alles gleich. Der Würfel ist so gut wieder jeder andere Gegenstand, um diese Entscheidung zu fällen.

Eins, Drei und Fünf heißt: Neustart

Zwei, Vier und Sechs heißt: Stecker ziehen. Der Tod.

Er kichert. Richtig poetisch ist er in seinen vielleicht letzten Gedanken geworden.

Nun ist es aber Zeit, sie endlich zu treffen. Die letzte Entscheidung seines alten und die vielleicht erste Entscheidung seines neuen Lebens.

Er lässt den smaragdgrünen Würfel langsam aus seiner Hand rollen. All die Verantwortung liegt nun auf ihm. Wie ein Edelstein blitzt er auf, als er seinen Weg zum Boden antritt.

Leben oder Sterben.

Er schlägt auf dem Kopfsteinpflaster auf.

Leben oder Sterben.

Wie wild springt er umher.

Leben oder Sterben.

Er kommt zur Ruhe. Seine Oberfläche glitzert im schwachen Licht der Laternen.  Weiße Punkte strahlen ihn an und durchdringen die unergründliche Schwärze, den Teerfilm seiner Seele. Die Entscheidung ist gefallen. 

Ein Seufzer entfährt ihm.

Nun ist ihm nicht mehr kalt. Für einen Moment kehrt die Klarheit in seinen Geist zurück, die ihm sagt, dass er nie wieder schwere Entscheidungen treffen muss. Denn die Wichtigste wurde ihm soeben abgenommen. Von nun an ist alles simpel.

Seine Hände umklammern fest die Pistole.


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