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Sonntag, 24. November 2013

Bucktopia: Schattenseiten. Folge 8: Tod und ein neues Leben

 Der Händler runzelte die Stirn und musterte Rodge misstrauisch. Dann fingen seine Augen jedoch an zu glänzen und ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens huschte über sein Gesicht.
„Leopold? Bist du das?“
Harry kam hinter dem Stand hervor, zögerte kurz, und reichte ihm schließlich die Hand. Rodge fiel auf, dass er eine Pistole am Gürtel trug. Wie er die wohl hier hereingeschmuggelt hatte?
„Mein Gott, das muss ja schon Jahre her sein, dass wir uns mal gesehen haben. Sind deine Eltern auch hier?“
Rodge schüttelte den Kopf.
„Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht sollten wir das nicht hier auf der Straße stehend besprechen. Schon gar nicht, wenn man dich mit der da sehen könnte.“
Er wies auf die Pistole.
Harry schüttelte den Kopf.
„Ach, die ist nicht geladen. Ich musste Kugeln und Pulver am Stadttor abgeben, aber wie du meinst. André“, fügte er an den zweiten Händler an seinem Stand gewandt hinzu, „du übernimmst kurz alleine. Ich bin in einer halben Stunde wieder da.“
Dann drehte er sich wieder zu Rodge um.
„Wir beide gehen inzwischen in eine Kneipe, und du erzählst mir, was du hier so ganz alleine treibst. Los komm, ich lade dich ein.“
Er legte Rodge den Arm um die Schulter und schob ihn zum Eingang eines nahegelegenen Gasthauses.
Als Harry für ihn die Tür öffnete, sah Rodge aus den Augenwinkeln eine schwarze Gestalt. Er drehte sich um, doch in diesem Augenblick flog etwas silbern glänzendes knapp an ihm vorbei und bohrte sich in den Hals seines Onkels. Ohne zu überlegen zog Rodge die Pistole aus dem Gürtel seines Onkels und schleuderte sie, während er sich umdrehte, der dunklen Gestalt entgegen. Dieser Gegenangriff kam zu unerwartet, als das sie noch hätte ausweichen können. Der Knauf der Waffe traf sie mit voller Wucht am Kopf, sie fiel rücklings mit dem Hinterkopf aufs Pflaster und blieb reglos liegen.
Rodge wandte sich zu seinem Onkel um. Mit einem Blick erkannte er, dass hier nichts mehr zu machen war. Das Wurfmesser hatte seine Kehle glatt durchschnitten, eine große Blutlache hatte sich um ihn herum ausgebreitet. Das Wurfmesser …
Auf einmal wurde Rodge ganz schlecht. Er drehte sich zu dem schwarz gekleideten Menschen um, den er eben mit seinem Pistolenwurf überwältigt hatte. Der schwarze Umhang, das Wurfmesser, die langen, braunen Haare, die aus der Kapuze hervorlugten …
Rodge gab ein ersticktes Geräusch von sich und rannte los, auf den schwarz verhüllten Körper zu, der da auf dem Boden lag. Um ihn herum war inzwischen eine Panik ausgebrochen. In der erklärten Stadt des Friedens war ein Kampf ausgebrochen. Zwei Menschen waren zu Boden gegangen, einer davon lag in einer riesigen Blutpfütze. Schreiend liefen die Menschen durcheinander und Rodge hatte alle Mühe, sich seinen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen, auch wenn es nur um ein paar Meter ging.
Endlich angekommen kniete er sich nieder und nahm die Kapuze von dem Gesicht des Angreifers … der Angreiferin. Er schluchzte. Da lag Alija, die Augen geschlossen, an der Schläfe deutlich den Abdruck des Pistolenknaufs. Sie rührte sich nicht. Als Rodge ihren Kopf vom Boden heben und auf etwas weiches betten wollte, fasste er in etwas nasses. Erst jetzt realisierte er, dass auch sie blutete. Sie schien mit dem Kopf heftig aufs Pflaster aufgeschlagen zu sein. Er legte eine Hand auf ihre Brust, um die Atembewegung zu erspüren, doch da war nichts, keine Regung. Da ließ Leopold, denn niemand anders war es, der hier trauerte, ihren Kopf wieder sinken und ging gesenkten Kopfes in Richtung Stadttor. Die Wachen waren alle ins Innere der Stadt gerannt, als sie den Tumult gehört hatten. So hatte Leopold keinerlei Schwierigkeiten, als er draußen seine und Alijas restliche Sachen von ihrem Lagerplatz holte und mit allem, was sie besessen hatten, in die Stadt zurückkehrte. Als er wieder auf dem Werkzeugmarkt angekommen war, waren immer noch keine Wachen in der Nähe. Wahrscheinlich hatte man ihnen nur im Vorbeihasten zugeschrien, dass etwas passiert war, ohne das jemand so geistesgegenwärtig gewesen war, ihnen den Ort mitzuteilen, und die Wachen selbst hatten noch nie einen bewaffneten Konflikt in der Stadt schlichten müssen, so dass sie zu unerfahren waren, als dass ihnen die richtige Vorgehensweise eingefallen wäre.
Leopold kehrte zu Alijas totem Körper zurück. Er schob ihr ihr Bündel unter den Kopf.
„Warum musstest du ihn töten? Was sollte das alles?“
Er wisperte ihr die Worte ins Ohr, ohne eine Antwort zu erwarten, doch als er sich gerade wieder erheben wollte, sah er, dass sich ihre linke Hand um ein Stück Papier verkrampft hatte. Mit einiger Mühe gelang es ihm, es aus der Umklammerung zu lösen. Es war die liste der Mörder von Alijas Eltern. Gedankenversunken betrachtete Leopold das Papier, bis sein Blick auf einen Namen fiel. „Harry Klein“ stand da. Das war doch sein Onkel Harry! Dann hatte er also … Leopold begann, zu begreifen. Dann fiel ihm etwas ein. Als sie sich gerade getroffen hatten, hatte Alija ihn nach seinen Eltern gefragt. Fieberhaft suchte er das Papier ab und tatsächlich – auch ihre Namen standen da. Leopold vergrub sein Gesicht in den Händen. Auch sie, seine geliebten Eltern, waren dabei gewesen, als zwei Menschen, Eltern eines kleinen Kindes zudem, ermordet und zusammen mit ihrem Haus in Brand gesteckt worden waren. Mit Tränen in den Augen blickte er wieder in Alijas starres Gesicht.
„Es tut mir so Leid. Erst werden deine Eltern umgebracht, und dann … dann nimmt der Sohn ihrer Mörder dir das Leben. Ich wusste doch nicht … dir hätte ich doch niemals … “
Leopold verstummte. Ein nahezu stummes Schluchzen schüttelten ihn. Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und fasste einen Plan. Mit schnellen Handgriffen nahm er Alijas Waffen und ihren schwarzen Umhang an sich. Dann nahm er die Liste nochmals in Augenschein. Neben einigen Namen waren Notizen gemacht worden. Es handelte sich um Informationen über den jeweiligen Aufenthaltsort, die Alija schon gesammelt hatte. Die bereits durchgestrichenen Namen und den seines Onkels abgezogen enthielt die Liste noch sieben Namen. Sieben Namen würden eine Zeit lang reichen. Leopold stand auf und betrachtete noch einmal den Körper der jungen Frau, die ihm so nahe gewesen war, wie niemand sonst. Einem plötzlichen Impuls folgend zog er seine Sichel hervor und legte sie zu ihr. Wie einen Gruß ließ er ihr seine erste Waffe, über die sie sich mehrfach lustig gemacht hatte. Noch einmal schaute er in ihr Gesicht, um sich dieses Bild möglichst lange zu bewahren. Dann drehte er sich um und verschwand in den Schatten der kleinen Gassen. Auf Umwegen begab er sich zum Stadttor. Er wollte auf keinen Fall einer Wache über den weg laufen, die ihn vielleicht wegen seiner Waffen festnehmen würde.

Mit jedem Schritt, den er aufs Stadttor zuging, verbarg sich Leopold mehr. Rodges harte Schale schloss sich um ihn, denn was er nun vorhatte, konnte Leopold nicht durchführen. Als er schließlich die Stadt verließ, war es Rodge, der das Tor durchquerte. Er sah noch einmal auf die Liste und prägte sich den ersten Namen darauf gut ein. Das war von nun an sein Leben, das war seine Aufgabe. Er würde Alijas Rache vollenden. Was danach kam, wusste er nicht, aber das war für den Moment auch nicht wichtig. Mit langen Schritten entschwand Rodge in die Nacht hinein.

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