Der Händler runzelte die Stirn und musterte Rodge misstrauisch. Dann
fingen seine Augen jedoch an zu glänzen und ein Ausdruck ungläubigen
Erstaunens huschte über sein Gesicht.
„Leopold? Bist du das?“
Harry kam hinter dem Stand hervor, zögerte kurz, und reichte ihm
schließlich die Hand. Rodge fiel auf, dass er eine Pistole am Gürtel
trug. Wie er die wohl hier hereingeschmuggelt hatte?
„Mein Gott, das muss ja schon Jahre her sein, dass wir uns mal
gesehen haben. Sind deine Eltern auch hier?“
Rodge schüttelte den Kopf.
„Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht sollten wir das nicht
hier auf der Straße stehend besprechen. Schon gar nicht, wenn man
dich mit der da sehen könnte.“
Er wies auf die Pistole.
Harry schüttelte den Kopf.
„Ach, die ist nicht geladen. Ich musste Kugeln und Pulver am
Stadttor abgeben, aber wie du meinst. André“, fügte er an den
zweiten Händler an seinem Stand gewandt hinzu, „du übernimmst
kurz alleine. Ich bin in einer halben Stunde wieder da.“
Dann drehte er sich wieder zu Rodge um.
„Wir beide gehen inzwischen in eine Kneipe, und du erzählst mir,
was du hier so ganz alleine treibst. Los komm, ich lade dich ein.“
Er legte Rodge den Arm um die Schulter und schob ihn zum Eingang
eines nahegelegenen Gasthauses.
Als Harry für ihn die Tür öffnete, sah Rodge aus den Augenwinkeln
eine schwarze Gestalt. Er drehte sich um, doch in diesem Augenblick
flog etwas silbern glänzendes knapp an ihm vorbei und bohrte sich in
den Hals seines Onkels. Ohne zu überlegen zog Rodge die Pistole aus
dem Gürtel seines Onkels und schleuderte sie, während er sich
umdrehte, der dunklen Gestalt entgegen. Dieser Gegenangriff kam zu
unerwartet, als das sie noch hätte ausweichen können. Der Knauf der
Waffe traf sie mit voller Wucht am Kopf, sie fiel rücklings mit dem
Hinterkopf aufs Pflaster und blieb reglos liegen.
Rodge wandte sich zu seinem Onkel um. Mit einem Blick erkannte er,
dass hier nichts mehr zu machen war. Das Wurfmesser hatte seine Kehle
glatt durchschnitten, eine große Blutlache hatte sich um ihn herum
ausgebreitet. Das Wurfmesser …
Auf einmal wurde Rodge ganz schlecht. Er drehte sich zu dem schwarz
gekleideten Menschen um, den er eben mit seinem Pistolenwurf
überwältigt hatte. Der schwarze Umhang, das Wurfmesser, die langen,
braunen Haare, die aus der Kapuze hervorlugten …
Rodge gab ein ersticktes Geräusch von sich und rannte los, auf den
schwarz verhüllten Körper zu, der da auf dem Boden lag. Um ihn
herum war inzwischen eine Panik ausgebrochen. In der erklärten Stadt
des Friedens war ein Kampf ausgebrochen. Zwei Menschen waren zu Boden
gegangen, einer davon lag in einer riesigen Blutpfütze. Schreiend
liefen die Menschen durcheinander und Rodge hatte alle Mühe, sich
seinen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen, auch wenn es nur um
ein paar Meter ging.
Endlich angekommen kniete er sich nieder und nahm die Kapuze von dem
Gesicht des Angreifers … der Angreiferin. Er schluchzte. Da lag
Alija, die Augen geschlossen, an der Schläfe deutlich den Abdruck
des Pistolenknaufs. Sie rührte sich nicht. Als Rodge ihren Kopf vom
Boden heben und auf etwas weiches betten wollte, fasste er in etwas
nasses. Erst jetzt realisierte er, dass auch sie blutete. Sie schien
mit dem Kopf heftig aufs Pflaster aufgeschlagen zu sein. Er legte
eine Hand auf ihre Brust, um die Atembewegung zu erspüren, doch da
war nichts, keine Regung. Da ließ Leopold, denn niemand anders war
es, der hier trauerte, ihren Kopf wieder sinken und ging gesenkten
Kopfes in Richtung Stadttor. Die Wachen waren alle ins Innere der
Stadt gerannt, als sie den Tumult gehört hatten. So hatte Leopold
keinerlei Schwierigkeiten, als er draußen seine und Alijas restliche
Sachen von ihrem Lagerplatz holte und mit allem, was sie besessen
hatten, in die Stadt zurückkehrte. Als er wieder auf dem
Werkzeugmarkt angekommen war, waren immer noch keine Wachen in der
Nähe. Wahrscheinlich hatte man ihnen nur im Vorbeihasten
zugeschrien, dass etwas passiert war, ohne das jemand so
geistesgegenwärtig gewesen war, ihnen den Ort mitzuteilen, und die
Wachen selbst hatten noch nie einen bewaffneten Konflikt in der Stadt
schlichten müssen, so dass sie zu unerfahren waren, als dass ihnen
die richtige Vorgehensweise eingefallen wäre.
Leopold kehrte zu Alijas totem Körper zurück. Er schob ihr ihr
Bündel unter den Kopf.
„Warum musstest du ihn töten? Was sollte das alles?“
Er wisperte ihr die Worte ins Ohr, ohne eine Antwort zu erwarten,
doch als er sich gerade wieder erheben wollte, sah er, dass sich ihre
linke Hand um ein Stück Papier verkrampft hatte. Mit einiger Mühe
gelang es ihm, es aus der Umklammerung zu lösen. Es war die liste
der Mörder von Alijas Eltern. Gedankenversunken betrachtete Leopold
das Papier, bis sein Blick auf einen Namen fiel. „Harry Klein“
stand da. Das war doch sein Onkel Harry! Dann hatte er also …
Leopold begann, zu begreifen. Dann fiel ihm etwas ein. Als sie sich
gerade getroffen hatten, hatte Alija ihn nach seinen Eltern gefragt.
Fieberhaft suchte er das Papier ab und tatsächlich – auch ihre
Namen standen da. Leopold vergrub sein Gesicht in den Händen. Auch
sie, seine geliebten Eltern, waren dabei gewesen, als zwei Menschen,
Eltern eines kleinen Kindes zudem, ermordet und zusammen mit ihrem
Haus in Brand gesteckt worden waren. Mit Tränen in den Augen blickte
er wieder in Alijas starres Gesicht.
„Es tut mir so Leid. Erst werden deine Eltern umgebracht, und dann
… dann nimmt der Sohn ihrer Mörder dir das Leben. Ich wusste doch nicht … dir
hätte ich doch niemals … “
Leopold verstummte. Ein nahezu stummes Schluchzen schüttelten ihn.
Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und fasste einen
Plan. Mit schnellen Handgriffen nahm er Alijas Waffen und ihren
schwarzen Umhang an sich. Dann nahm er die Liste nochmals in
Augenschein. Neben einigen Namen waren Notizen gemacht worden. Es
handelte sich um Informationen über den jeweiligen Aufenthaltsort,
die Alija schon gesammelt hatte. Die bereits durchgestrichenen Namen
und den seines Onkels abgezogen enthielt die Liste noch sieben Namen.
Sieben Namen würden eine Zeit lang reichen. Leopold stand auf und
betrachtete noch einmal den Körper der jungen Frau, die ihm so nahe
gewesen war, wie niemand sonst. Einem plötzlichen Impuls folgend zog
er seine Sichel hervor und legte sie zu ihr. Wie einen Gruß ließ er
ihr seine erste Waffe, über die sie sich mehrfach lustig gemacht
hatte. Noch einmal schaute er in ihr Gesicht, um sich dieses Bild
möglichst lange zu bewahren. Dann drehte er sich um und verschwand
in den Schatten der kleinen Gassen. Auf Umwegen begab er sich zum
Stadttor. Er wollte auf keinen Fall einer Wache über den weg laufen,
die ihn vielleicht wegen seiner Waffen festnehmen würde.
Mit jedem Schritt, den er aufs Stadttor zuging, verbarg sich Leopold
mehr. Rodges harte Schale schloss sich um ihn, denn was er nun
vorhatte, konnte Leopold nicht durchführen. Als er schließlich die
Stadt verließ, war es Rodge, der das Tor durchquerte. Er sah noch
einmal auf die Liste und prägte sich den ersten Namen darauf gut
ein. Das war von nun an sein Leben, das war seine Aufgabe. Er würde
Alijas Rache vollenden. Was danach kam, wusste er nicht, aber das war
für den Moment auch nicht wichtig. Mit langen Schritten entschwand
Rodge in die Nacht hinein.
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