MVJstories

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Mittwoch, 20. November 2013

Wenn der Würfel fällt - Teil II



Von Mr.Big



6 Stunden zuvor

Die Donutschachtel liegt seelenruhig auf dem Armaturenbrett. Doch etwas stimmt nicht. Sie wirkt so seelenlos und leer. Von dem einst so mächtigen Rührgut ist nichts mehr übrig geblieben. Derweil leckt sich Michael genüsslich die Finger ab. Als Detektiv würde Frank sagen: Die Donuts hatten nie eine Chance gehabt. In einem Streifenwagen ist die Überlebensquote für diese Genussmittel immer sehr gering. 

Den ganzen Nachmittag fahren sie nun schon Straßen auf und ab, immer und immer wieder. Damit nicht der letzte Rest an Spaß flöten geht, starrt Frank ab und zu Passanten auf eindringliche Weise an. So will er die Präsenz des Gesetzes vermitteln und ihnen vielleicht einen kleinen Schauer über den Rücken jagen. Ansonsten machen er und sein Partner aber nichts großartigeres, als Gummi auf der Piste zu lassen. Wie öde. Er wünscht sich seine Zeitung mit den vier Buchstaben zurück. Auch wenn das beim Fahren irgendwie doof wäre. 

Blechernes Krächzen ertönt aus den Lautsprechern. Eine Stimme meldet sich über Funk.

„Wagen 323, bitte melden. Wagen 323.“ 

„Houston, wir hören sie laut und deutlich“, gibt Michael zurück.

„Ich habe mehrere besorgte Anrufe von Anwohnern in der Darsonstraße erhalten, die wildes Geschrei melden. Ihr seid gerade ziemlich nahe. Könnt ihr da mal nachsehen gehen?“

„Ist das ein Notruf?“ fragt Frank, nur um sich zu vergewissern.

 „Nein. Bis jetzt nicht. Kontrolliert das trotzdem mal. Wenn ihr Verstärkung braucht, meldet euch.“

„Okidoki, Chef“, erwidert Michael.

Frank nimmt ein paar Abbiegungen und fährt dann auf den zweispurigen Stadtring, der schnellste Weg zu Darsonstraße. Schon die Anwesenheit des blauweißen Polizeiautos reicht aus, um den Verkehr spürbar zu drosseln. Ist es nicht witzig, wie sie alle plötzlich vorgaukeln, vorbildliche Fahrer zu sein? Selbst der Audi, der just im Rückspiegel aufgeploppt ist, scheint es nun nicht mehr so sehr eilig zu haben und bleibt brav mit vorgegebener Geschwindigkeit hinter ihnen. Alles tuckert vor sich hin. Links von ihnen fährt eine Straßenbahn vorbei.

Michael wird ungeduldig.

„Schalt schon die Sirene an, Frank. Zeig‘ denen mal,  wie viele Pferde hier unter der Haube stecken! Kann ja nicht sein, dass diese Straßenbahn noch vor uns am Ziel ist!“
 „Aber es ist kein Notruf.“ „ Jetzt drück schon aufs Gas.“

Michael betätigt den Schalter. Sofort schallt die Fanfare über die ganze Bahn. Auf der linken Spur löst sich der Verkehr binnen Sekunden auf und hinterlässt eine wunderschöne Rennstrecke. Frank gibt ordentlich Gummi. Wie schnell man doch sein kann, wenn alle anderen Autos einfach mal rechts bleiben.

 „Die Kavallerie reitet ein, yeehaw Baby!“ 

Frank stellt sich einen Moment lang vor, wie Michael wohl als Ranger im Wilden Westen ausgesehen hätte. 

In seinen Gedanken manifestiert sich das Bild der weiten Prärie. Die Sonne steht dich am Horizont und scheint auf goldgelbe Farne, die sich seicht im Wind bewegen. Aus den Schatten der Berge kommt Michael, der Gesetzeshüter, angeritten. Stolz und mächtig sitzt er da, in weißem Hemd und Lederweste, auf Jolly Jumper, seinem treuen Pferd, und reitet dem Abenteuer entgegen, während er vor Ausgelassenheit mit seinem Colt wild in die Luft ballert und das Lasso schwingt und… 

 „Frank? Pass auf!“

Ein VW Käfer war ausgeschert und auf ihre Fahrbahn geraten. Instinktiv tritt Frank auf die Bremse. Ein lautes Quietschen ertönt. Der Wagen zieht sich spürbar zusammen. Beide Autos kommen sich bedenklich nahe. Zu nahe. 

Nur wenige Zentimeter voneinander entfernt halten sie inne. So scheint es zumindest. Beide Fahrzeuge düsen immer noch mit gut achtzig Sachen geradeaus. Der Käfer-Fahrer bemerkt die Sirene im seinem Nacken und rudert rüber. Frank und Michael rauschen weiter. Tiefes Durchatmen in der Fahrerkabine. 

„Was für ein Idiot. Das war vielleicht knapp. Ich glaub wir sind gleich da, Frank.“ 

Das Auto beschreibt eine sanfte Kurve, als es in die Darsonstraße einfährt. Da ist auch schon die Nummer des Blocks, von dem der Notruf kam. Frank parkt am Straßenrand und will gerade aussteigen, als ihm ein kleiner Gegenstand aus dem Schoß fällt. Das winzige Etwas plumpst auf den Asphalt und glitzert ihn in seinem verschmitzten Grünton an. 

„Siehe einer an, mein Glücksbringer. Willst du etwas ausbüxen? Dich möchte ich nicht so einfach verlieren. Husch, husch, darin zurück, wo du hingehörst.“ 

Der Würfel gleitet zurück in seine Hosentasche.

In der Straße scheint alles ruhig zu sein.

„Na, wo ist denn das Geschrei? Also ich höre nix, naja, außer dem Atem der Großstadt“, sagt Frank.

„Wie poetisch heute.“ 

„Ich tue mein Bestes.“

Sie gehen den Fußweg entlang. 

„Zentrale, hier Wagen 323. Sind am Einsatzort angelangt. Haben nix auffälliges be…“

Plötzlich ein Schrei. Er kommt aus dem Gebäude zu ihrer Rechten. Binnen Sekunden verändert sich die gesamte Situation. Michael und Frank sind in voller Alarmbereitschaft. Ihre Walter P99 - Pistolen sind auf den Laden vor ihnen gerichtet. Ein Tattoostudio.

In den Schaufenstern sind Bilder zu erkennen, die wohl am besten mit dem Begriff „Körperkunst“ beschreibbar sind. Über der Tür prangert ein Banner mit chinesischen Schriftzeichen

 „Hast du das gehört? Das kam von einer Frau. Wir müssen da rein und ihr helfen!“
Oh mein Gott, wo bin ich da nur reingeraten, denkst sich Frank. „Wir müssen Verstärkung rufen“

„Nein, wir müssen zu ihr. Weiß Gott, was da drin passiert!“

Michael rennt los, während jede Faser von Franks Körper Alarm schlägt.

Du weißt nicht, was dich da drin erwartet, denkt er. Aber andererseits weißt ich genau, worin meine Pflicht besteht. Ich bin da um die Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, dieser Frau zu helfen…und verdammt nochmal, ich muss meinem Kollegen Rückendeckung geben!  Er eilt ihm hinterher.

Michael ist bereits im Inneren verschwunden. Nur ein paar Schritte dahinter überquert Frank die Türschwelle. Er findet sich in einem abgedunkelten Raum wieder. Das Licht fällt nur schwach durch die Fenster. An den dunkelroten Wänden hängen Fotografien von Tätowierungen. 

Frank versucht den Fuß anzuheben, als er einen Widerstand spürt. Etwas klebt an seiner Sohle. Er schaut nach unten. Eine Blutlache tut sich unter seinen Füßen auf. Erschrocken springt er zur Seite. Dabei rempelt er gegen einen Tisch. Mehrere Farbfläschen gehen krachend zu Boden.  

 „Pssst. Sei doch vorsichtig, verdammt nochmal.“, flüstert Michael, der sich, die Pistole im Anschlag, direkt neben ihn hingehockt hat.

„Hörst du irgendetwas?“ 

 „Nein. Doch. Warte.“

Ein leises Wimmern kommt aus dem hinteren Teil des Raumes. Frank zeigt auf die Stelle, in der sich nun ein dunkelroter Fußabdruck abzeichnet.

„Siehst du das auch? Das Blutspur führt in die Abstellkammer da.“

 „Geh und sie nach, ob da jemand ist. Ich sichere die Umgebung ab.“

Langsam schleicht Frank über das Parkett, bedacht darauf, nicht erneut in die Spur hineinzutreten. Beim näheren Betrachten muss hier ein heftiger Kampf stattgefunden haben. Überall sind feine Spritzer verteilt. Vorsichtig umrundet er die Kasse. Dicht vor der Abstellkammer bleibt er stehen. Unbewusst versichert er sich, dass der Würfel noch in seiner Hosentasche ist. 

Dann stößt er die Tür auf und schaut ins Innere. 

Auf dem Boden liegt eine Frau, an die Dreißig Jahre vielleicht. Sie ist blutüberströmt. Ihre Kleider sind verdreht und zerrissen, durchtränkt von schimmerndem Dunkelrot. Ihr ganzer Körper weißt tiefe Schnittwunden auf. Doch sie atmet noch. Wer zum Teufel hat dir das angetan, denkt sich Frank. Neben der Frau liegen kleine, zerrissene Beutel. Weißes, kristallines Pulver glitzert durch den Raum und vermischt sich mit dem Blut zu einem grotesken Brei.

Frank versucht gerade das Gesehene zu verarbeiten, als erneut ein Schrei ertönt. Diesmal von einem Mann. Er fährt herum und eilt in den Raum zurück.

Michael ist nicht mehr allein. Eine Gestalt ist in der anderen Ecke des Raumes aufgetaucht. Aus dem trügerischen Schatten starren ihn zwei pechschwarze Augen an. Sie gehören einem Mann, glattrasierter Schädel und Oberarme wie Betonpfeiler. Regungslos steht er da. Der Großteil seines Körpers bleibt verborgen. 

Für einen Moment lang  herrscht Stille. Alles hält den Atem an. Die Pistolen der Polizisten sind auf den Unbekannten gerichtet.

„Stehenbleiben. Keine Bewegung“, ruft Michael.

Frank probiert ihn zu Verstehen zu geben, was er im Abstellraum vorgefunden hat. Doch es ist überflüssig. Ein Wimmern bahnt sich den Weg durch die Stille. Es kommt von der Frau. In Michaels Gesicht zeichnet sich die Erkenntnis ab.

„Oh mein Gott, wird sie es schaffen?“ Er blickt zu seinem Kollegen. Frank nickt, mehr aufgrund von Hoffnung als von Gewissheit. Michaels Augen fixieren wieder die fremde Person.  Seine Züge sind angespannt. 

„Auf den Boden und Hände auf den Kopf!“

Der Hüne verharrt im Halbdunkeln. Auf seinen Armen verästeln sich Tattoos, die Landkarte eines wilden Lebens. 

Etwas stimmt nicht, denkt Frank. 

Du musst dich  entscheiden, schießt es ihm durch den Kopf.

Er ist verwirrt. Was entscheiden?

Eingreifen oder dastehen. 

Leben oder Sterben.

Seine inneren Alarmglocken läuten. Beide Hände umklammern die Pistole. In seiner Hosentasche brennt sich ein ungewöhnliches Hitze durch den Stoff.

Leben oder Sterben, hallt es in seinen Ohren.

Der Mann springt nach vorne. Mehr noch, er fliegt förmlich nach vorne.  In seiner Hand hält er einen länglichen Gegenstand.  Metall blitzt auf und schneidet durch die Luft. 

Frank will reagieren, muss reagieren. Er versucht mit aller Macht den Abzug zu betätigen. Doch er kann nicht! Seine Zeigefinger sind wie versteinert.

Die Klinge fährt hernieder und verschwindet im Körper des völlig überraschten Polizisten. Ein Schuss ertönt und bohrt sich in die Deckenverkleidung. Michael schaut auf den Griff, der aus seiner Brust ragt. Seine Augen zittern wie wild, bevor sie glasig werden und alles Leben aus ihnen schwindet. Er sackt zu Boden.

Frank verweilt in Schockstarre. Der Mann hält noch immer das Messer in der Hand. Von der blutverschmierten Spitze tropfen kleine rote Perlen auf das Parkett. Der Blick des Hünen haftet auf dem zweiten Polizisten. Zum ersten Mal sieht Frank die Zeichen des Wahnsinns. Unnormal geweitete Pupillen starren ihn an. Kein Verstand ist dahinter zu entdecken, nur pure Raserei.  

Er macht einen Schritt nach vorne. Franks Hände umklammern die Pistole, so fest sie können.  

Leben oder Sterben. Leben oder Sterben.

Er macht erneut einen Schritt nach vorne. Franks Zeigefinger zittert am Abzug, er will drücken, aber er kann nicht. Sein Blick gleitet zu dem am Boden liegenden Kollegen, seinen Freund…

…und plötzlich drängt etwas aus seinem tiefsten Inneren nach außen und löst ihn aus dem Klammergriff des Schocks. 

Leben oder Sterben. LEBEN ODER STERBEN. 

Der Hüne springt auf ihn zu. Frank drückt ab. Eine Sekunde lang kann er deutlichen sehen, wie das Projektil den Lauf verlässt, Fahrt aufnimmt, auf den heranstürzenden Irren zufliegt und sich dann in seine Brust bohrt. 

Ein kurzer Knall. Dann ist Stille. 

Nichts von alldem, was Frank sieht, erscheint ihm noch real. Der Mann schaut ungläubig auf das Loch in seiner Brust. Erstaunt betastet er den Krater, aus dem rasend schnell Blut zu fließen beginnt. Das Messer fällt zu Boden. In seinen Augen blitzt kurz Klarheit auf; der vernebelte Geist, der in den letzten Sekunden des Seins sich noch einmal seines Körpers realisiert. Es war nur ein Moment, doch dieser Moment verändert alles. Sein Bewusstsein verschwindet. Er kracht zu Boden. Das Parkett erzittert unter dem Gewicht. 

Frank gelingt es noch, die Nummer des Notarztes zu wählen.

Dann wird alles schwarz. 

In dem Tattoostudio ist wieder das leise Wimmern einer Frau zu hören.

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