Von Mr.Big
6 Stunden zuvor
Die
Donutschachtel liegt seelenruhig auf dem Armaturenbrett. Doch etwas stimmt
nicht. Sie wirkt so seelenlos und leer. Von dem einst so mächtigen Rührgut ist
nichts mehr übrig geblieben. Derweil leckt sich Michael genüsslich die Finger
ab. Als Detektiv würde Frank sagen: Die Donuts hatten nie eine Chance gehabt.
In einem Streifenwagen ist die Überlebensquote für diese Genussmittel immer
sehr gering.
Den
ganzen Nachmittag fahren sie nun schon Straßen auf und ab, immer und immer
wieder. Damit nicht der letzte Rest an Spaß flöten geht, starrt Frank ab und zu
Passanten auf eindringliche Weise an. So will er die Präsenz des Gesetzes vermitteln
und ihnen vielleicht einen kleinen Schauer über den Rücken jagen. Ansonsten
machen er und sein Partner aber nichts großartigeres, als Gummi auf der Piste
zu lassen. Wie öde. Er wünscht sich seine Zeitung mit den vier Buchstaben
zurück. Auch wenn das beim Fahren irgendwie doof wäre.
Blechernes
Krächzen ertönt aus den Lautsprechern. Eine Stimme meldet sich über Funk.
„Wagen
323, bitte melden. Wagen 323.“
„Houston,
wir hören sie laut und deutlich“, gibt Michael zurück.
„Ich
habe mehrere besorgte Anrufe von Anwohnern in der Darsonstraße erhalten, die wildes
Geschrei melden. Ihr seid gerade ziemlich nahe. Könnt ihr da mal nachsehen
gehen?“
„Ist
das ein Notruf?“ fragt Frank, nur um sich zu vergewissern.
„Nein. Bis jetzt nicht. Kontrolliert das
trotzdem mal. Wenn ihr Verstärkung braucht, meldet euch.“
„Okidoki,
Chef“, erwidert Michael.
Frank
nimmt ein paar Abbiegungen und fährt dann auf den zweispurigen Stadtring, der
schnellste Weg zu Darsonstraße. Schon die Anwesenheit des blauweißen
Polizeiautos reicht aus, um den Verkehr spürbar zu drosseln. Ist es nicht
witzig, wie sie alle plötzlich vorgaukeln, vorbildliche Fahrer zu sein? Selbst
der Audi, der just im Rückspiegel aufgeploppt ist, scheint es nun nicht mehr so
sehr eilig zu haben und bleibt brav mit vorgegebener Geschwindigkeit hinter
ihnen. Alles tuckert vor sich hin. Links von ihnen fährt eine Straßenbahn
vorbei.
Michael
wird ungeduldig.
„Schalt
schon die Sirene an, Frank. Zeig‘ denen mal, wie viele Pferde hier unter der Haube stecken!
Kann ja nicht sein, dass diese Straßenbahn noch vor uns am Ziel ist!“
„Aber es
ist kein Notruf.“ „ Jetzt drück schon aufs Gas.“
Michael
betätigt den Schalter. Sofort schallt die Fanfare über die ganze Bahn. Auf der
linken Spur löst sich der Verkehr binnen Sekunden auf und hinterlässt eine
wunderschöne Rennstrecke. Frank gibt ordentlich Gummi. Wie schnell man doch
sein kann, wenn alle anderen Autos einfach mal rechts bleiben.
„Die Kavallerie reitet ein, yeehaw Baby!“
Frank
stellt sich einen Moment lang vor, wie Michael wohl als Ranger im Wilden Westen
ausgesehen hätte.
In
seinen Gedanken manifestiert sich das Bild der weiten Prärie. Die Sonne steht
dich am Horizont und scheint auf goldgelbe Farne, die sich seicht im Wind
bewegen. Aus den Schatten der Berge kommt Michael, der Gesetzeshüter, angeritten.
Stolz und mächtig sitzt er da, in weißem Hemd und Lederweste, auf Jolly Jumper,
seinem treuen Pferd, und reitet dem Abenteuer entgegen, während er vor
Ausgelassenheit mit seinem Colt wild in die Luft ballert und das Lasso schwingt
und…
„Frank? Pass auf!“
Ein
VW Käfer war ausgeschert und auf ihre Fahrbahn geraten. Instinktiv tritt Frank
auf die Bremse. Ein lautes Quietschen ertönt. Der Wagen zieht sich spürbar
zusammen. Beide Autos kommen sich bedenklich nahe. Zu nahe.
Nur
wenige Zentimeter voneinander entfernt halten sie inne. So scheint es
zumindest. Beide Fahrzeuge düsen immer noch mit gut achtzig Sachen geradeaus. Der
Käfer-Fahrer bemerkt die Sirene im seinem Nacken und rudert rüber. Frank und
Michael rauschen weiter. Tiefes Durchatmen in der Fahrerkabine.
„Was
für ein Idiot. Das war vielleicht knapp. Ich glaub wir sind gleich da, Frank.“
Das
Auto beschreibt eine sanfte Kurve, als es in die Darsonstraße einfährt. Da ist auch
schon die Nummer des Blocks, von dem der Notruf kam. Frank parkt am Straßenrand
und will gerade aussteigen, als ihm ein kleiner Gegenstand aus dem Schoß fällt.
Das winzige Etwas plumpst auf den Asphalt und glitzert ihn in seinem
verschmitzten Grünton an.
„Siehe
einer an, mein Glücksbringer. Willst du etwas ausbüxen? Dich möchte ich nicht
so einfach verlieren. Husch, husch, darin zurück, wo du hingehörst.“
Der
Würfel gleitet zurück in seine Hosentasche.
In
der Straße scheint alles ruhig zu sein.
„Na,
wo ist denn das Geschrei? Also ich höre nix, naja, außer dem Atem der Großstadt“,
sagt Frank.
„Wie
poetisch heute.“
„Ich
tue mein Bestes.“
Sie
gehen den Fußweg entlang.
„Zentrale,
hier Wagen 323. Sind am Einsatzort angelangt. Haben nix auffälliges be…“
Plötzlich
ein Schrei. Er kommt aus dem Gebäude zu ihrer Rechten. Binnen Sekunden
verändert sich die gesamte Situation. Michael und Frank sind in voller
Alarmbereitschaft. Ihre Walter P99 - Pistolen sind auf den Laden vor ihnen
gerichtet. Ein Tattoostudio.
In
den Schaufenstern sind Bilder zu erkennen, die wohl am besten mit dem Begriff „Körperkunst“
beschreibbar sind. Über der Tür prangert ein Banner mit chinesischen
Schriftzeichen
„Hast du das gehört? Das kam von einer Frau.
Wir müssen da rein und ihr helfen!“
Oh
mein Gott, wo bin ich da nur reingeraten, denkst sich Frank. „Wir müssen Verstärkung
rufen“
„Nein,
wir müssen zu ihr. Weiß Gott, was da drin passiert!“
Michael
rennt los, während jede Faser von Franks Körper Alarm schlägt.
Du
weißt nicht, was dich da drin erwartet, denkt er. Aber andererseits weißt ich
genau, worin meine Pflicht besteht. Ich bin da um die Sicherheit und Ordnung zu
gewährleisten, dieser Frau zu helfen…und verdammt nochmal, ich muss meinem
Kollegen Rückendeckung geben! Er eilt
ihm hinterher.
Michael
ist bereits im Inneren verschwunden. Nur ein paar Schritte dahinter überquert
Frank die Türschwelle. Er findet sich in einem abgedunkelten Raum wieder. Das
Licht fällt nur schwach durch die Fenster. An den dunkelroten Wänden hängen
Fotografien von Tätowierungen.
Frank
versucht den Fuß anzuheben, als er einen Widerstand spürt. Etwas klebt an
seiner Sohle. Er schaut nach unten. Eine Blutlache tut sich unter seinen Füßen
auf. Erschrocken springt er zur Seite. Dabei rempelt er gegen einen Tisch. Mehrere
Farbfläschen gehen krachend zu Boden.
„Pssst. Sei doch vorsichtig, verdammt
nochmal.“, flüstert Michael, der sich, die Pistole im Anschlag, direkt neben
ihn hingehockt hat.
„Hörst
du irgendetwas?“
„Nein. Doch. Warte.“
Ein
leises Wimmern kommt aus dem hinteren Teil des Raumes. Frank zeigt auf die
Stelle, in der sich nun ein dunkelroter Fußabdruck abzeichnet.
„Siehst
du das auch? Das Blutspur führt in die Abstellkammer da.“
„Geh und sie nach, ob da jemand ist. Ich
sichere die Umgebung ab.“
Langsam
schleicht Frank über das Parkett, bedacht darauf, nicht erneut in die Spur hineinzutreten.
Beim näheren Betrachten muss hier ein heftiger Kampf stattgefunden haben.
Überall sind feine Spritzer verteilt. Vorsichtig umrundet er die Kasse. Dicht
vor der Abstellkammer bleibt er stehen. Unbewusst versichert er sich, dass der
Würfel noch in seiner Hosentasche ist.
Dann
stößt er die Tür auf und schaut ins Innere.
Auf
dem Boden liegt eine Frau, an die Dreißig Jahre vielleicht. Sie ist
blutüberströmt. Ihre Kleider sind verdreht und zerrissen, durchtränkt von
schimmerndem Dunkelrot. Ihr ganzer Körper weißt tiefe Schnittwunden auf. Doch
sie atmet noch. Wer zum Teufel hat dir das angetan, denkt sich Frank. Neben der
Frau liegen kleine, zerrissene Beutel. Weißes, kristallines Pulver glitzert
durch den Raum und vermischt sich mit dem Blut zu einem grotesken Brei.
Frank
versucht gerade das Gesehene zu verarbeiten, als erneut ein Schrei ertönt. Diesmal
von einem Mann. Er fährt herum und eilt in den Raum zurück.
Michael
ist nicht mehr allein. Eine Gestalt ist in der anderen Ecke des Raumes
aufgetaucht. Aus dem trügerischen Schatten starren ihn zwei pechschwarze Augen
an. Sie gehören einem Mann, glattrasierter Schädel und Oberarme wie Betonpfeiler.
Regungslos steht er da. Der Großteil seines Körpers bleibt verborgen.
Für
einen Moment lang herrscht Stille. Alles
hält den Atem an. Die Pistolen der Polizisten sind auf den Unbekannten
gerichtet.
„Stehenbleiben.
Keine Bewegung“, ruft Michael.
Frank
probiert ihn zu Verstehen zu geben, was er im Abstellraum vorgefunden hat. Doch
es ist überflüssig. Ein Wimmern bahnt sich den Weg durch die Stille. Es kommt
von der Frau. In Michaels Gesicht zeichnet sich die Erkenntnis ab.
„Oh
mein Gott, wird sie es schaffen?“ Er blickt zu seinem Kollegen. Frank nickt,
mehr aufgrund von Hoffnung als von Gewissheit. Michaels Augen fixieren wieder die
fremde Person. Seine Züge sind
angespannt.
„Auf
den Boden und Hände auf den Kopf!“
Der
Hüne verharrt im Halbdunkeln. Auf seinen Armen verästeln sich Tattoos, die
Landkarte eines wilden Lebens.
Etwas
stimmt nicht, denkt Frank.
Du musst dich entscheiden, schießt es ihm durch den Kopf.
Er
ist verwirrt. Was entscheiden?
Eingreifen oder
dastehen.
Leben oder Sterben.
Seine
inneren Alarmglocken läuten. Beide Hände umklammern die Pistole. In seiner
Hosentasche brennt sich ein ungewöhnliches Hitze durch den Stoff.
Leben oder Sterben, hallt es in seinen Ohren.
Der
Mann springt nach vorne. Mehr noch, er fliegt
förmlich nach vorne. In seiner Hand hält
er einen länglichen Gegenstand. Metall
blitzt auf und schneidet durch die Luft.
Frank
will reagieren, muss reagieren. Er
versucht mit aller Macht den Abzug zu betätigen. Doch er kann nicht! Seine
Zeigefinger sind wie versteinert.
Die
Klinge fährt hernieder und verschwindet im Körper des völlig überraschten
Polizisten. Ein Schuss ertönt und bohrt sich in die Deckenverkleidung. Michael
schaut auf den Griff, der aus seiner Brust ragt. Seine Augen zittern wie wild,
bevor sie glasig werden und alles Leben aus ihnen schwindet. Er sackt zu Boden.
Frank
verweilt in Schockstarre. Der Mann hält noch immer das Messer in der Hand. Von
der blutverschmierten Spitze tropfen kleine rote Perlen auf das Parkett. Der Blick
des Hünen haftet auf dem zweiten Polizisten. Zum ersten Mal sieht Frank die Zeichen
des Wahnsinns. Unnormal geweitete Pupillen starren ihn an. Kein Verstand ist
dahinter zu entdecken, nur pure Raserei.
Er
macht einen Schritt nach vorne. Franks Hände umklammern die Pistole, so fest
sie können.
Leben oder Sterben.
Leben oder Sterben.
Er
macht erneut einen Schritt nach vorne. Franks Zeigefinger zittert am Abzug, er
will drücken, aber er kann nicht. Sein Blick gleitet zu dem am Boden liegenden
Kollegen, seinen Freund…
…und
plötzlich drängt etwas aus seinem tiefsten Inneren nach außen und löst ihn aus
dem Klammergriff des Schocks.
Leben oder Sterben.
LEBEN ODER STERBEN.
Der
Hüne springt auf ihn zu. Frank drückt ab. Eine Sekunde lang kann er deutlichen
sehen, wie das Projektil den Lauf verlässt, Fahrt aufnimmt, auf den
heranstürzenden Irren zufliegt und sich dann in seine Brust bohrt.
Ein
kurzer Knall. Dann ist Stille.
Nichts
von alldem, was Frank sieht, erscheint ihm noch real. Der Mann schaut ungläubig
auf das Loch in seiner Brust. Erstaunt betastet er den Krater, aus dem rasend
schnell Blut zu fließen beginnt. Das Messer fällt zu Boden. In seinen Augen
blitzt kurz Klarheit auf; der vernebelte Geist, der in den letzten Sekunden des
Seins sich noch einmal seines Körpers realisiert. Es war nur ein Moment, doch
dieser Moment verändert alles. Sein Bewusstsein verschwindet. Er kracht zu
Boden. Das Parkett erzittert unter dem Gewicht.
Frank
gelingt es noch, die Nummer des Notarztes zu wählen.
Dann
wird alles schwarz.
In
dem Tattoostudio ist wieder das leise Wimmern einer Frau zu hören.
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