Von Mr.Big
Es ist erstaunlich kalt
an diesem Abend. Der Herbst hat bereits angefangen, seine Arbeit zu verrichten.
Auf den Baumkronen im Park sind kaum noch Blätter zu erkennen. Ein einsamer Mann sitzt auf einer Bank und starrt
gedankenverloren auf den Würfel in seiner linken Hand. Er scheint müde zu sein.
Tiefschwarze Ringe bilden sich unter seinen Augen ab. Sein Gesicht ist von Schmerzen
verzerrt. Es sind zu viele Gedanken, die ihn, seit er sich gesetzt hat, durch
den Kopf geschossen sind. Selbst seine dicke Winterjacke kann ihn nicht
warmhalten. Innerlich ist er kalt. Zu Eis gefroren. Fast tot.
12 Stunden zuvor
Das
ist die Geschichte von Frank. Wie so wie viele andere Menschen ist Frank
unzufrieden mit seinem Job. Dabei ist das sogar ein recht guter Job, den er da
verrichtet. Frank ist Polizist, Gesetzeshüter, quasi ein Cowboy der Neuzeit,
der auf seine Mitmenschen aufpasst und böse Buben ins Gefängnis bringt. Ein
strahlender Eckpfeiler des staatlichen Systems, wie es sein Hauptkommissar
immer zu sagen pflegte. Eigentlich geht es ihm gar nicht so schlecht. Die
harten Jahre der Ausbildung haben ihn zurechtgeschliffen und auf die raue Welt
da draußen vorbereitet. Eine raue Welt, die dennoch jedem Individuum seine
persönliche Freiheit zugesteht. Doch irgendwie mag ihm das Leben nicht so recht
gelingen.
Frank
sitzt an seinem Esstisch im Küchenzimmer. Es ist früh am Morgen und er muss
bald zur Arbeit fahren. Neben ihm gesellen sich ein Toastbrot, ein Glas Nutella
und eine Kaffeetasse. Die Zeitung hält er in den Händen ausgebreitet. „Schon wieder
nur schlechte Nachrichten“, murmelt er und blättert zum Lokalteil vor. Er
besieht ihn sich kurz und schüttelt dann unvermittelt den Kopf. Auch hier
nichts Nennenswertes, das seinen Verstand an diesem Morgen positiv stimuliert.
Ihm bleibt wohl nichts übrig, als zu dem Sportteil vorzublättern. Das einzig
Gute in dem ganzen Schundblatt, denkt er sich und legt die Zeitung mit den vier
Buchstaben zur Seite. Wie es nur möglich ist, so wenige Seiten mit so viel
Nonsens zu füllen. Er denkt kurz nach. In seinen Augen spiegelt sich der
entschlossene Wille zu handeln. Mit einem Satz steht er auf und geht in den
Flur. Zielsicher greift er nach dem schnurlosen Telefon und hämmert auf die
Tastatur ein. Die Verbindung wird hergestellt. Warteschlange. Zwei Sekunden
später liegt der Hörer wieder in der Ladestation. Jeden Tag ärgert er sich über
das Blatt, und jedes Mal versucht er sein Abonnement zu kündigen und jeden Tag
scheitert er kläglich. Heute ist da leider keine Ausnahme. Genervt von sich
selbst und seiner Inkonsequenz geht er zurück in die Küche und nimmt einen
tiefen Schluck aus seiner Tasse. Der Kaffee schmeckt scheußlich. Das kann ja
ein Tag werden.
Auf
dem Revier angekommen, ist er sich im Klaren, dass er keine Zeit zu verlieren
hat, denn die Uhr bis Schichtbeginn tickt. Mit festen Schritten durchquert
Frank die Eingangshalle, grüßt kurz den Mann am Empfang und sprintet in
Richtung Fahrstuhl. Die Türen schließen sich gerade. Kurz schätzt er die Lage
ein. Noch zwei Meter. Mit durchschnittlich 5 km/h bewegen sich die Türhälften
aufeinander zu und werden im nächsten Moment die Insassen hermetisch abriegeln.
Frank macht einen Satz und kriegt den Fuß dazwischen. Ein Druck projiziert sich
auf seine Stahlkappenstiefel, doch er nimmt ihn gar nicht wahr. Gestöhne geht
durch die überfüllte Kabine. Nicht noch ein Fahrgast.
Endlich
im richtigen Stockwerk angekommen, saust er durch den Korridor seiner Abteilung
entgegen. Schutzpolizei steht an der Tür. Er schlüpft hindurch.
Den
dahinterliegenden Raum kann man sich wie in einem schlechten Traum vorstellen,
in dem alles gleich aussieht. Es reiht sich Tisch an Tisch und Schrank an
Schrank. Irgendwo dazwischen sind Menschen zu sehen, die aber keine Gesichter
besitzen. Sie verschwinden hinter Monitoren und Akten. Der Abteilung haftet
eine denkbar kühle Atmosphäre an. Hinzu kommt „die Mauer“, wie Frank sie gerne
nennt.
„Die
Mauer“ ist eine zwei Meter hohe Trennwand und separiert die Schutzpolizei von
der Kriminalabteilung. Schon dumm, wenn an allen Enden gespart wird. Da müssen
halt auch die Abteilungen räumlich zusammengelegt werden. Den Meisten dient
„die Mauer“ eigentlich nur als riesiger Erinnerungszettel. Er mag sie nicht.
Vielleicht kommt es daher, dass er einen Großteil seines Lebens in Ostberlin
zugebracht hat. Jedes Mal verspürt er den Drang, dass Ding in einem wilden Impuls
einfach einzureißen. Heute juckt es ihn wieder gewaltig in den Fingern. Er fährt
mit der Hand über das graue Gebilde und fühlt den allzu geringen Widerstand.
Nur ein platzierter Schlag, und er könnte ein Loch hineinreißen und sich aus
diesem Alptraum befreien. Wenn er sich nur genau konzentriert…
„Ich
mach es sowieso nicht.“
Wieso
Gedanken an etwas verschwenden, das eh nur Gedanken bleiben werden. Seufzend macht
Frank sich auf, um seinen Platz in dieser Endlosschleife zu finden.
Da
ist auch schon sein Arbeitsplatz. Oh man, was für ein Chaos. Niemand hat
heimlich den Schreibtisch aufgeräumt. Alles befindet sich im gleichen Zustand,
wie er es hinterlassen hat. Eine totale Müllhalde. Gräulich-gelbes Papier
stapelt sich um die Wette, während zwei Dutzend Büroklammern faul rumliegen und
Applaus klatschen. „Es lebe die Entropie“ besagt der Zettel an seinem Monitor.
Ja ja, lache du nur, denkt sich Frank und verkneift es sich, auf die akkurat
geordneten Akten auf der anderen Seite des langen, viereckigen Tisches zu
schauen. Diese Hälfte gehört seinem Freund und Partner Michael Bleul. Und der
ist gegen Anarchie auf dem Arbeitsplatz.
Die
Kollegen von der Nachschicht verabschieden sich und verlassen die Dienststelle.
„Gehen Sie ruhig, Sie sind jetzt ein freier Mensch.“, witzelt Michael herum,
während er um den Schreibtisch stolziert und es sich in seinem Stuhl bequem
macht. „Hey Kollege, hast du endlich deinen Papierkram im Griff?“. Auf der
anderen Seite des Tisches müht Frank sich sichtlich ab, irgendeine Art von
Struktur zu schaffen. Warum muss es ausgerechnet ihm immer so schwer fallen? „Die
Unordnung im Weltraum nimmt zu, warum sollte es dann nicht auch auf meinem
Schreibtisch passieren?“ Michael lacht, wendet sich ab und lässt ihn in seinem Elend
allein.
Die
erste Aufgabe eines Polizisten auf Arbeit: Aktenberge besteigen, einzelne
Papierbrocken zwecks Nachforschung herausbrechen, diese dann einer genauen
Beobachtung unterziehen, beschreiben, nummerieren, abstempeln, wegheften,
Kaffee trinken und von vorne beginnen.
Frank
müht sich gerade an einer besonders gut verklebten Umschlag ab, als sich etwas aus
dem Inneren löst. Ein quaderförmiges Gebilde fällt heraus und springt erquickt
über die Tischplatte. Nahe dem Kaffeebecher kommt es zur Ruhe.
Ungläubig
schaut Frank den fremden Besucher an.
Sechs
Punkte leuchten auf. „Hach, na das nenne ich mal einen Glückswurf, wer bist du
denn?“.
Er
zieht die Schreibtischleuchte heran und betrachtet das Fundstück genauer. Weiße
Kreise, umschlossen von smaragdgrüner Farbe, unter deren Oberfläche gezackte
Blitze zu pulsieren scheinen. Ein echt tolles Exemplar von einem Würfel, aber
was hat er hier zu suchen? Und wem gehört er? Er lässt ihn über den Tisch
kullern.
„Schramowski, was zum Teufel tun Sie da!“
Der
Hauptmann erscheint neben dem Schreibtisch. Sein Gesicht verheißt nichts Gutes.
„Sie
sind hier nicht im Kasino, packen Sie den Würfel weg und machen Sie sich an die
Arbeit. Der Papierkram erledigt sich nicht von allein!“ „Äh, ja Herr Hauptmann,
ich habe nur kurz…“ „Das ist mir egal, was sie da kurz gemacht haben. Wie sieht
denn ihr Schreibtisch schon wieder aus. Das bekommt man ja schlechte Laune,
wenn man nur draufguckt. Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an Kollege Bleul
hier. Jetzt aber hurtig, hurtig. Ach übrigens, ich habe Sie beide heute für den
Streifendienst eingeteilt. Gleich nach dem Mittag geht’s los. Aber bis dahin in
der Schreibtisch aufgeräumt. Na dann, los, los, los!“
Das
war ja wieder klar. Gerade zur Visite lässt er sich beim Würfeln erwischen. Hoffentlich
hat das keiner mitgekriegt. Michael wirft ihm einen mitleidsvollen Blick zu.
Hinter
„der Mauer“ ertönt leiser Gelächter. Sie ist zwar ein super Sichtschutz, aber
nicht gerade geräuschdämmend. Schwups, da erscheinen auch schon zwei hämisch grinsende
Gesichter und blicken über den Rand. „Die Schnüffler“, wie Frank sie immer
nennt. Kriminalkommissar Jim Kramer und
Polizeihauptmeister Claire Volitar.
„Was
war denn das für eine Aktion, Schramowski“, prustet Kramer.
„Ja,
genau, was war denn das für eine Aktion?“, erwidert Volitar.
„Du
kannst hier doch nicht einfach mit Beweismittel rumspielen.“
„Was soll
denn der Rest der Abteilung von dir denken?“
„Echt mal, machst du dir denn gar keine Gedanken?“
„Und
wenn du hier schon während der Arbeit rumspielen musst, gebe ich dir einen Tipp.
Skat ist leiser als Würfeln.“
Sie
halten ihre Karten über die Trennwand und geben sich einen High five. Diese
Idioten von der Kriminalabteilung, denkt sich Frank. Ihre Gesichter
verschwinden wieder hinter „der Mauer“.
Er
betrachtet den Würfel auf seinem Tisch. Irgendwie fasziniert ihn dieses grüne
Objekt. Das Glitzern, dieses Strahlen. Viel zu schön, um irgendwo in den
Untiefen des Archivs zu verschwinden…
Er
beschaut sich die Verpackung. An der Seite steht eine Liste mit den enthaltenen
Beweismitteln. Daneben ist in dicken, roten Lettern „Gelöster Fall“ zu lesen. Es
würde keinen Unterschied machen, denkt er sich.
Also
greift er den Würfel und lässt ihn in seine Hosentasche gleiten.
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