Im Nachhinein war Rodge seine Reaktion auf die plötzliche
Erkenntnis, von einem Mädchen beschützt worden zu sein, äußerst
peinlich. Die junge Frau hatte ihn nicht einmal mit einer spöttischen
Antwort bedacht. Sie hatte ihn nur ein paar Sekunden lang mit einem
Gesichtsausdruck angesehen, in dem sich Unglaube, Überlegenheit und
Mitleid auf eine Weise mischten, das Rodge seinen Blick
augenblicklich zu Boden senkte. Diese junge Dame hatte soeben
bewiesen, dass sie weit besser mit dem Leben hier draußen umgehen
konnte als Rodge, von Leopold ganz zu schweigen. Sie hatte ihm mit
ihren beeindruckenden Kampfkünsten aus der Klemme geholfen und ihm
war auch augenblicklich klar, dass sie es gewesen war, die neulich
die beiden Banditen ausgeschaltet hatte. Die Wurfmesser waren ihm
Hinweis genug.
Nach der unangenehmen Szene mit der „Mädchen“-Bemerkung hatte
sie ihre Messer wieder eingesammelt und er hatte sich auf ihren
knappen Befehl hin daran gemacht, ein Feuer zu entfachen. Nun saßen
sich die beiden gegenüber und starrten in die Flammen.
Schließlich zog sie etwas hervor und warf es neben ihm auf den
Boden.
„Hier, ich glaube, das Ding gehört dir“
Es war die Sichel.
„Oh, danke.“ Rodge griff sich seine Waffe und begann, damit
herumzuspielen.
„Wenn ich mich nicht täusche, hast du auch etwas, das mir gehört.“
Rodge sah auf.
„Woher sollte ich denn etwas haben, was...“ Sein Blick blieb an
dem Wurfmesser hängen, das sie noch in der Hand hielt.
„Ach so.“
Rodge kramte die beiden Messer hervor, die er den beiden toten
Banditen vor einigen Tagen aus dem Rücken gezogen hatte und
überreichte sie ihr.
„Danke fürs Mitnehmen“ sagte sie spöttisch und begann, die
Klingen zu putzen. Dann hielt sie inne und sah Rodge ins Gesicht.
„Ich glaube, wir sollten uns erstmal vorstellen. Mein Name ist
Alija.“
„Leop... Rodge“ sagte Rodge.
„Wohin bist du unterwegs, Rodge?“
„Ich will nach Bucktopia.“ Rodge erklärte ihr die Gründe seiner
Wanderung. Als er fertig war, sah Alija ihn beunruhigt an.
„Du weißt also nicht, wo deine Eltern gerade sind?“
Rodge schüttelte den Kopf. Aus irgendeinem Grund schien Alija sich
darüber zu ärgern. Dann besann sie sich und fragte: „Wie war
gleich der Name des Onkels, zu dem du willst?“
„Harry“, antwortete Rodge, „wieso?“
Doch Alija schien sich schon wieder in ihren eigenen Gedanken
verloren zu haben.
„Der Onkel“, murmelte sie, „immerhin etwas...“
Rodge konnte sich ihre Reaktion nicht erklären, spürte aber, dass
eine direkte Nachfrage wohl kaum zum Erfolg geführt hätte. Daher
fragte er stattdessen:
„Und wohin willst du? Was machst du so hier draußen?“
Alija sah ihn versonnen an.
„Was ich hier mache? Ich bin unterwegs, genau wie du. Und frag mich
jetzt bloß nicht, was mein Ziel ist, das ist nämlich allein meine
Sache. Die erste Frage verstehe ich mal als die nach meiner nächsten
Zwischenstation. Das wäre Bucktopia, wie bei dir. Ich schlage also
vor, wir tun uns bis dahin zusammen. Auf die Art sind wir wehrhafter
und können uns bei den Nachtwachen abwechseln. Hierzulande sollte
man nach Möglichkeit gemeinsam reisen.“
Rodge stutzte. Der Ausdruck „gemeinsam reisen“ hatte ihm etwas
ins Gedächtnis gerufen, wonach zu fragen er fast vergessen hätte.
„In gewissem Sinne tun wir das doch schon seit längerem, oder?“
„Wie bitte?“ Das Mädchen wirkte verwirrt.
„Ach komm schon.“ Rodge grinste sie schelmisch an. „Du hast mir
doch neulich schon geholfen, als mich diese Wegelagerer angegriffen
haben und Jackson hat von einer Gestalt im schwarzen Mantel erzählt,
die er gesehen habe. Das warst bestimmt auch du.“
„Jackson?“
„Der Typ, den ich neulich getroffen habe. So wie du scheinbar
hinter mir hergelaufen bist musst du ihn doch gesehen haben. Er hatte
einen Mantel aus bunten Flicken an...“
„Ach der. Ja, den habe ich gesehen. Im Übrigen: Ja, ich bin dir
ein Stück gefolgt und nein, ich sage dir nicht, warum. Das es nicht
war, um dir Schaden zuzufügen, wirst du ja wohl mitbekommen haben.
Der Rest geht dich nicht das Geringste an. Ist das klar?“ Ihr Blick
funkelte ihn übers Feuer hinweg an und er konnte sich nicht
entscheiden, welche Flamme heller loderte.
„Ist ja gut“, versuchte er sie zu beruhigen, „ich frag ja schon
gar nicht mehr. Du kannst mir ja stattdessen etwas über deine
Vergangenheit erzählen, deine Familie oder so. Oder ist das auch
alles top secret?“
Alija sah ihn einige Augenblicke lang einfach nur an.
„Später vielleicht“ sagte sie dann.
Den Rest des Abends verbrachten sie schweigend. Irgendwann wickelten
sie sich jeder in seine Decke und schliefen ein.
***
Am nächsten Tag setzten die beiden ihre Wanderung also gemeinsam
fort. Alija wirkte wesentlich aufgeräumter als am Vorabend.
Scheinbar hatte sie sich damit abgefunden, dass sie ihre Existenz
nicht länger vor ihm hatte geheim halten können. Jetzt schien sie
es zu genießen, nicht mehr allein zu sein und jemanden zum Reden zu
haben. Auch für Rodge war es eine Erleichterung. Seit er losgezogen
war hatte er nur zweimal mit Menschen geredet, die es nicht auf sein
Leben abgesehen hatten. Die beiden redeten fast den ganzen Vormittag
lang beim Wandern. Dabei fiel Rodge auf, dass Alija selbst, wenn sie
etwas erzählte oder konzentriert zuhörte niemals aufhörte, ihre
Umgebung zu beobachten. Die Aufmerksamkeit und Vorsicht schienen ihr
in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Ständig streifte ihr
wachsamer Blick über die Landschaft und durchsuchte sie nach
Anzeichen für eine mögliche Bedrohung.
Den größten Teil der Zeit redete Rodge. Er erzählte von seinem
Leben im Haus seiner Eltern, von ihren Ländereien und davon, wie
seine Eltern ab und zu zum Tauschen ins Dorf gegangen waren. Es war
diese beiläufige Bemerkung, die Alija auf einmal ernst werden ließ.
„Ich habe da gewohnt“ sagte sie schließlich. „Im Dorf. Als
kleines Kind.“
Rodge sah sie aufmerksam an. Er spürte, dass das, was nun kommen
würde, keine Ausgelassenheit vertrug, wie er sie eben noch verspürt
hatte.
„Eines Nachts sind... Leute gekommen. Ein ganzer Haufen Leute. Sie
haben meine Eltern bedroht, wollten etwas von ihnen haben. Ich selbst
war noch ganz klein und habe kaum etwas verstanden. Ich stand auf der
Treppe im Schatten, wo mich niemand sehen konnte. Als sie anfingen,
laut zu werden und meine Eltern herumzuschubsen bin ich ins obere
Stockwerk geflohen und habe mich in einem Schrank versteckt. Wenig
später habe ich lautes Gebrüll von unten gehört, auch die Schreie
einer Frau. Dann war es kurz still. Alle hatten das Haus verlassen.
Als ich mich schließlich wieder aus dem Schrank heraustraute, war
niemand mehr da. Dafür roch es komisch. Ich lief auf den Flur und
bemerkte, dass die Leute das Dach angezündet hatten. Ich bin dann so
schnell wie möglich die Treppe hinunter gerannt, laut weinend. Bevor
ich unten durch die Haustür lief konnte ich noch einen letzten Blick
auf...“ Alija schluckte. „...auf meine Eltern werfen. Sie lagen
da, beide erschlagen in riesigen Blutlachen.“ Sie atmete tief
durch. Dann erzählte sie weiter, mit sachlicher Stimme jetzt,
monoton, fast gelangweilt.
„Das Haus brannte komplett nieder. Ich bin direkt in den Wald
gelaufen. Ich hatte mir da mit meiner besten Freundin eine Hütte
gebaut, in der ich schlief. Diese Freundin war es auch, die mich
vorerst ernährte, indem sie mir regelmäßig etwas zu essen
vorbeibrachte. Sie hat niemandem von mir erzählt, außer ihren
Eltern, die mir daraufhin durch sie anboten, doch zu ihnen zu ziehen.
Ich blieb im Wald. Als ich einige Monate im Wald gelebt hatte, ich
war wirklich noch ziemlich klein, vielleicht fünf oder sechs, baute
ich mir eine eigene Hütte, von der auch meine Freundin nicht wusste,
wo sie war. Die alte Hütte diente nur noch als Treffpunkt. Mein
Essen besorgte ich mir zunehmend selbst. Zumeist klaute ich es aus
den umliegenden Dörfern. Mit vielleicht acht Jahren begann ich, mir
mein Essen selbst im Wald zu erjagen. Ich stellte Fallen auf und
baute mir primitive Waffen aus Stöcken und Dingen, die ich in den
Orten klaute.“ Sie nickte langsam.
„Ja, das war mein Leben.“
„Das erklärt aber noch nicht, warum du so gut kämpfen kannst und
woher du deine Waffen hast“, wagte Rodge einzuwenden, „Sowas
findet man ja nicht alle Tage.“
Alija sah ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an.
„Vielleicht erzähle ich dir ja heute Abend den Rest der
Geschichte. Für den Anfang weißt du schon ziemlich viel über mich.
Ich glaube nicht, dass es außer dir jemanden gibt, dem ich das alles
offengelegt habe.“
Rodge stutzte.
„Warum hast du es mir dann erzählt?“
„Nun ja...“ Sie zögerte. „Deine Geschichte gegen meine, oder?“
***
Am Abend rasteten sie in einem kleinen Gehölz am Fuße einer
felsigen Steilwand. Von einer Seite durch den Berg, von den anderen
durch Bäume von der Umwelt abgeschirmt vermittelte dieser Platz ein
seltenes Gefühl der Sicherheit.
Rodge saß am Feuer und schnitzte mit einem Messer, das Alija ihm
geliehen hatte, an einem Griff für das Sensenblatt. Er wollte keinen
langen Stiel daran befestigen, um das Ganze nicht zu unhandlich zu
machen. Seine neue Gefährtin sah ihm gedankenverloren dabei zu. Dann
begann sie wieder zu reden.
„Die Waffen stammen von einem Händler.“
Rodge blickte auf.
„Du hast sie gekauft?“
„Nein.“
„Gestohlen?“
„Auch nicht … wirklich.“
„Was dann?“
Alija seufzte müde und strich sich mit der Hand über die Augen.
„Der Händler war tot, als ich ihn fand. Er war überfallen worden,
kurz vorher. Ich hatte noch den Kampfeslärm gehört und war ihm
nachgegangen, aber als ich da war sah ich nur noch, wie der Räuber
mit seiner Beute verschwand. Auf dem Boden lag die Leiche des
Händlers, der sich unvorsichtigerweise allein in die Outlands
getraut hatte.“
„Du warst auch allein“ warf Rodge ein. Alija warf ihm einen
mürrischen Blick zu.
„Das ist was anderes. Ich hatte keinen Eselskarren mit kostbaren
Waren dabei. Ich konnte mich verstecken. Willst du meine Geschichte
nun hören oder nicht?“
„Will ich. Tut mir Leid.“
„Also, ich ging natürlich zu den Überresten des Wagens, um
herauszufinden, ob es da etwas zu holen gebe. Die brauchbaren Dinge
schienen alle weg zu sein. Nur ein alter Sattel lag noch da, den der
Händler wohl dabeigehabt hatte, um auf seinem Esel auch reiten zu
können, wenn er ihn nicht gerade zum Ziehen des Karrens brauchte.
Das Tier selbst hatte der Räuber mitgenommen, um seine Beute darauf
zu transportieren. Ich wollte mich eben wieder umdrehen, als ich
etwas glänzendes bemerkte.“
Alija schien ganz in ihrer Geschichte gefangen zu sein. Mit
glänzenden Augen starrte sie ins Feuer, wo sie die Szene, von der
sie erzählte, erneut vor sich zu sehen schien.
„Ich sah mir die Sache genauer an. Aus einer der Nähte des Sattels
blinkte mir etwas metallisches entgegen. Ich öffnete die Naht ein
Stück weit und hatte bald einen Dolch in der Hand. Die Waffe war
makellos, rasiermesserscharf und, soweit ich das beurteilen konnte,
von guter Qualität. Niemand ist heute noch in der Lage, eine solche
Klinge herzustellen. Neugierig schnitt ich den Sattel weiter auf. Ich
fand noch einen Dolch wie den ersten und fünf Wurfmesser, ebenfalls
in äußerst gutem Zustand. Der Händler muss wohl vorgehabt haben,
sie im nächsten Ort teuer zu verkaufen. Er hatte sie versteckt,
damit ihm bei einem eventuellen Überfall nicht das Wertvollste
genommen würde. Doch genau das ist passiert. Ihm wurde das Leben
genommen.“
Alija schwieg. Doch Rodge wollte mehr wissen.
„Was ist dann passiert?“
Die junge Frau hob ihren Blick und schaute ihm direkt in die Augen.
Er erschrak. Ihr Gesichtsausdruck war auf einmal kalt, vollkommen
gefühllos.
„Ich habe ihn getötet.“
„Wen?“
„Den Banditen. Ich habe die Waffen an mich genommen, bin ihm
hinterher geschlichen und habe ihn rücklings niedergestochen. Mein
erster Mord. Ich war etwa zehn.“
Rodge schwieg. Er hatte den Blick gesenkt und sah in die Flammen. Die
Vorstellung, dass dieses junge, so zart wirkende Mädchen dort
drüben, sie konnte noch nicht älter als 17 oder 18 Jahre sein,
schon im Alter von zehn Jahren einen Menschen umgebracht hatte, war
für ihn schwer zu verwinden. Doch Alija war noch nicht fertig.
„Nach diesem Erlebnis ging ich zurück in mein Dorf. Ich zeigte
mich nicht öffentlich, aber ich besuchte viele der Einwohner, alle,
von denen ich dachte, dass sie mir sagen könnten, wer damals am Mord
an meinen Eltern beteiligt war. Die Namen, die ich herausfand,
schrieb ich auf eine Liste.“
Sie Zog einen kleinen, zerfledderten Zettel hervor und betrachtete
versonnen die handschriftlichen Notizen darauf. Rodge konnte zwar
keinen der Namen erkennen, aber er sah, dass schon einige
durchgestrichen waren.
„Ich jage die Mörder meiner Eltern. Das ist die Aufgabe, die ich
mir selbst gegeben habe. Seit dem Tag, an dem ich diese Waffen fand,
übe ich jeden Tag damit. Das Verstecken, Schleichen und die
Fähigkeit, mich im verborgenen zu bewegen, hatte ich durch mein
Leben in der Wildnis schon längst vervollkommnet. Ungefähr die
Hälfte der Personen habe ich schon erwischt. Und der Rest folgt auch
noch.“
Sie steckte den Zettel wieder weg und sah Rodge herausfordernd an.
„Und, wie sieht's aus? Immer noch Lust, mit mir zu reisen?“
„Ich...ich weiß nicht...“
Alija seufzte abermals.
„Du kannst dich entscheiden, wie du willst. Zwei Dinge bitte ich
dich jedoch, zu bedenken: So gefährlich ich auch für die anderen
bin, du hast von mir nichts zu befürchten. Du warst nicht dabei, als
meine Eltern gestorben sind, also bin ich auch nicht hinter dir her.
Und zweitens: Du kannst mich zwar wegschicken, aber ich habe meine
Gründe, dir zu folgen. Du kannst dich also entscheiden: Mit mir als
Gefährtin reisen oder mit mir als Schatten.“
Rodge hatte sich wieder gefasst. Er betrachtete sie mit traurigen
Augen. Leopolds Augen.
„Du brauchst mir nicht zu drohen. Ich würde mir ohnehin nicht
anmaßen, dich zu verurteilen. Niemand sollte das, der nicht erlebt
hat, was du erlebt hast.“
Ein paar Sekunden lang schauten sich die beiden in die Augen, und
spürten, dass sie sich gegenseitig verstanden. Schließlich stand
Alija auf, ging zu ihrem Bündel, das auf seiner Seite des Feuers lag
und hob es auf. Rodge sah ihr verwirrt zu.
„Gehst du?“
„Die erste Nachtwache ist meine. Leg dich hin.“
Auf dem Rückweg kam sie an ihm vorbei. Sie zögerte kurz.
„Und … danke“, sagte sie schließlich, fuhr ihm scheu mit den
Fingern durchs Haar und kehrte schließlich an ihren Platz zurück.
Rodge wickelte sich in seine Decke und war innerhalb weniger Minuten
eingeschlafen.
***
Mitten in der Nacht weckte sie ihn zur Wachablösung. Während Alija
sich in ihren Umhang kuschelte, setzte Rodge sich ans Feuer. Er hatte
den Griff seiner neuen Waffe bereits fertiggestellt und versuchte
nun, Das Sensenblatt daran zu befestigen. Dazu standen ihm einige
Meter Bindfaden zur Verfügung, die er sich von Alija hatte geben
lassen. Während er so an seinem eigenwilligen Schwert bastelte,
begann er, über seine Begleitung nachzudenken.
Alijas Bericht über ihren bisherigen Lebensweg hatte ihn stark
beeindruckt. Er merkte, dass sein Respekt ihr gegenüber dadurch noch
gewachsen war, ja, dass er sie dafür bewunderte, wie sie mit den
Problemen, die ihr Leben ihr am laufenden Band zuteil werden ließ,
fertig wurde. Ohne Zweifel war diese junge Frau eine unheimlich
starke Person, doch er meinte, hinter der Fassade aus überlegenen
Fähigkeiten und unbeeindrucktem Stolz mitunter etwas zartes,
verletzliches zu erahnen, etwas, das die Gefühle barg, die das
Mädchen sich nach außen hin verwehrte. War dies alles zunächst nur
eine unbestimmte Vermutung gewesen, so hatte sich, als sie ihre
Geschichte erzählt hatte, die Gewissheit in ihm breit gemacht, dass
Alija, ähnlich wie Rodge, zwei Persönlichkeiten in sich barg. Einen
neuen Namen schien sie dafür nicht zu brauchen – Alija kam ihm
nicht gerade wie ein Kriegerinnenname vor – doch auch sie schien
einen Teil von sich wegzusperren, einen Teil, der Leopold ähnlich
war und nicht Rodge. Durch die langen Jahre der Einsamkeit hatte sie
diesen Teil von sich wesentlich besser unterdrücken gelernt, als
Rodge in seinen nicht ganz zwei Wochen, aber trotzdem war er noch da
und zeigte sich hin und wieder.
Rodge legte seine im Werden begriffene Waffe beiseite, da es ihm
nicht gelingen wollte, die beiden teile fest aneinander zu fügen,
und sah stattdessen seine schlafende Weggefährtin an. Ihr schwarzer
Umhang bedeckte den seitlich liegenden schlanken Körper vollständig
und ließ seine Form nur erahnen. Einzig das Gesicht und eine Hand
waren im Schein des Feuers klar zu erkennen. Rodge musste lächeln.
So erfahren, geschickt, stark und erbarmungslos sie sich am Tag geben
musste, beim Schlafen sah Alija einfach nur wie eine ganz normale
junge Frau aus. Eine auffallend hübsche junge Frau freilich, aber
doch auf keinen Fall wie eine geheimnisvolle Schattengestalt, die
Stück für Stück ihre Todesliste abarbeitete. Rodge merkte, dass
sein Argwohn ihr gegenüber, der bei ihrer Eröffnung, sie bringe
seit dem Alter von zehn Jahren regelmäßig Leute um, jäh
aufgeflammt, inzwischen wieder verloschen war. Zwar fuhr ihm noch
immer ein kalter Schauder über den Rücken, wenn er daran dachte,
dass eine junge Frau ihre gesamte Jugend damit verbrachte, Rache zu
üben, aber inzwischen fiel es ihm nicht mehr so leicht, eine
Verbindung zwischen diesem erschreckenden Bild und dem Mädchen
herzustellen, dass da friedlich schlummernd auf der anderen Seite des
Feuers lag. Natürlich hatte sie ihm all diese Dinge erzählt, aber
die Person, die er über den Tag kennengelernt hatte, war eine ganz
andere und die Geschichte vom Tod ihrer Eltern sowie der gequälte
Ausdruck, der beim Erzählen dieser Episode in ihre Augen getreten
war, hatten sich tiefer in sein Hirn gebrannt, als die schrecklichen
Szenen, die sie später beinahe emotionslos geschildert hatte. Im
Laufe dieser Gedankenkette hatte sich Rodge immer mehr verflüchtigt.
Inzwischen war es fast ausschließlich Leopold, der das Gesicht der
Schlafenden nachdenklich musterte, bis er schließlich lächelnd den
Kopf schüttelte und sich wieder sein unvollendetes Schwert griff.
Er, der unerfahrene Neuling mit behüteter Jugend hatte in den
Outlands eine schwarz gekleidete Serienmörderin getroffen. Statt
aber sein Heil in der Flucht zu suchen hatte er mit ihr eine
Reisegesellschaft gebildet und stellte nun unvermittelt fest, dass er
die Killerin mochte. Und zwar mehr als nur ein wenig.
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