Erst als es schon dämmrig wurde sahen sie wieder die ersten
Anzeichen von Leben. Zunächst handelte es sich um etwas Moos auf
einem Stein und ein paar halbvertrocknete Grasbüschel. Doch schon
wenig später fanden sie einen Busch, der Blätter von einem
kräftigen Grün trug und schließlich schritten sie wieder über
eine saftige Wiese. Als es schließlich so dunkel war, dass Rodge
zweimal innerhalb von einer Minute über Steine stolperte, die er
nicht gesehen hatte, machten sie halt. Wie immer entzündeten sie ein
Feuer und saßen nach einer Mahlzeit aus ihren Vorräten noch eine
Weile nebeneinander da. Rodge säuberte sein Sensenschwert und Alija,
deren Messer bereits wieder glänzten wie neu, schaute ihm dabei zu.
Schließlich ergriff sie das Wort.
„Du hast dich gut geschlagen heute. Zwei von den Biestern gehen auf
dein Konto, und außerdem…“
Sie stockte.
„Du hast mir heute das Leben gerettet. Danke.“
Rodge sah nicht auf.
„Ich schätze, damit wären wir quitt. Oder auch nicht, schließlich
hast du mir schon zweimal das leben gerettet, mindestens. Wer weiß,
wie oft du jemanden aufgehalten hast, ehe er an mich rankam. Also,
kein Problem. Das war ich dir wohl schuldig.“
„Nein, das warst du nicht, weil...“
Sie biss sich auf die Lippe. Dann sprudelte sie los.
„Ich hab dir doch erzählt, warum ich unterwegs bin, ich habe dir
die Liste gezeigt, und ... und ich … ach, verdammt!“
Jetzt hob Rodge doch seinen Blick und sah sie an.
„Was ist los? Was ist mit der Liste?“
„Ach … nichts …“
„Willst du mir erzählen, dass ich jetzt doch mit darauf stehe?“
fragte er scherzhaft.
Sie sah ihn erschrocken an.
„Nein, das nicht. Du nicht.“
Die letzten Worte hatte sie fast geflüstert, während sie sich an
seine Schulter lehnte.
„Bitte lass uns jetzt nicht mehr davon sprechen.“
Er legte die Waffe beiseite und den Arm um ihre Schultern. So saßen
die beiden noch eine ganze Weile beieinander und blickten in die
Flammen, während sich jeder seine Gedanken über den anderen machte.
Erst spät machten sie sich ihre Lager, dicht beieinander, doch jeder
für sich.
***
Die nächsten Tage waren für Rodge die Schönsten seit langem. Sie
wanderten durch eine blühende Landschaft, so dass das Gehen fast
schon mehr Genuss als Strapaze war. Das Wichtigste aber war für ihn,
dass er in Alija endlich den Freund gefunden hatte, der ihm in seinem
alten Leben, abgeschottet vom Rest der Welt im Anwesen seiner Eltern,
immer gefehlt hatte. Nach ihrem Erlebnis bei der Chemiefabrik und dem
darauffolgenden Abend war sie viel offener und gelöster als zuvor.
Rodge, oft dachte er in dieser Zeit über sich selbst auch als
Leopold, hatte das Gefühl, nun endlich ein Stück von der anderen
Seite Alijas kennenzulernen, der menschlichen, verletzlichen, aber
auch begeisterungsfähigen Alija. Sie erzählte viel von den Dingen,
die sie auf ihren Wanderungen erlebt hatte und lachte genausoviel wie
Leopold. Im Laufe dieser Tage wuchsen die beiden so sehr zusammen,
das Leopold schon mit Schrecken daran dachte, dass sie sich nach
ihrer Ankunft in Bucktopia wieder trennen würden, und auch in Alijas
Blick sah er ab und zu, wenn sie ihn betrachtete, eine gewisse
Melancholie, die er auf ähnliche Gedankengänge zurückführte.
Von Leopolds, beziehungsweise Rodges Standpunkt aus hätte diese
Reise jedenfalls noch ewig so weitergehen können und daher war es
nicht verwunderlich, dass er mit gemischten Gefühlen reagierte, als
ihn Alija eines Morgens, sie waren auf ihr Betreiben hin schon vor
Sonnenaufgang aufgebrochen, zu sich rief und ihm einen kleinen,
leuchtenden Punkt am Horizont zeigte.
„Rodge, wir sind da. Das da ist Bucktopia!“
***
Gegen Abend passierten sie eines der Tore von Bucktopia. Am Eingang
mussten sie ihre Waffen abgeben. Alija war beunruhigt, aber Rodge,
der von seinen Eltern davon gehört hatte, machte ihr klar, dass das
normal sei und niemand innerhalb der Mauern Waffen trage.
„Das ist ein friedliches Zusammentreffen. Natürlich kann man die
eine oder andere Schlägerei nicht verhindern, aber die Bucktopianer
geben sich alle Mühe, wenigstens schweren Verletzungen und Toten
vorzubeugen. Du kriegst ja alles wieder, wenn du die Stadt verlässt.“
„Das will ich hoffen“ knurrte sie und sah den Wächter, der ihre
Messer entgegengenommen hatte, misstrauisch an.
Im Inneren der Stadt war trotz der späten Stunde noch viel los. An
allen Ecken standen Händler und priesen ihre Waren an. Gaukler
marschierten in langen Reihen durch die Straßen und boten ihre
Künste dar. Rodge und Alija, beide an Ruhe und Abgeschiedenheit
gewöhnt, taumelten fast taub und blind durch den Krawall. Auf jedem
Platz, den sie betraten war eine Bühne aufgebaut, auf der
abwechselnd Musiker und Theatergruppen auftraten. Viele von diesen
Gruppen hatten sich extra für dieses Treffen gebildet. Überall
drängten sich Menschen. Sie schoben sich die Bürgersteige und
Straßen entlang, sie quetschten sich in Kneipen und drängelten sich
vor Bühnen, Schauzelten und Marktständen. Die vielen aufgeregten
Stimmen verwoben sich zu einer unverständlichen Melange aus
Wortfetzen, Husten, Kinderschreien, Gelächter und allen Arten von
Geräuschen, die eine menschliche Stimme eben so hervorbringen kann.
Alija und Rodge ließen sich am Anfang einfach mit der Menschenmasse
treiben. Sie waren wie geblendet von dem überbordenden Angebot an
Eindrücken. Als sie schließlich, nachdem sie von der Menge einmal
fast durch die komplette Stadt geschleift worden waren, wieder bei
dem Tor ankamen, durch welches sie die Stadt betreten hatten, zog
Alija Rodge nah an die Häuser, an den einzigen Ort also, wo man ohne
weiteres stehenbleiben konnte, und machte den Vorschlag, es am
nächsten Tag noch einmal zu versuchen.
„Lass uns unsere Waffe holen und draußen vor der Stadt unser Lager
aufschlagen. Ich halte es nicht mehr lange hier drin aus. Das ist mir
einfach zu viel.“
Rodge, dem es nicht besser erging, hatte nicht das Geringste gegen
diesen Vorschlag einzuwenden und so verließen sie die Stadt, ließen
sich von den Wachen die Waffen und suchten sich einige hundert Meter
weiter ein Fleckchen Erde, um dort zu nächtigen. Vollkommen
erschöpft von der langen Wanderung und der sie überfordernden
Großveranstaltung in Bucktopia schliefen sie bald ein.
***
Am nächsten Tag standen sie früh auf. Nachdem sie die spärlichen
Reste ihrer Vorräte zum Frühstück gegessen hatten, wollte Rodge
sich sofort wieder in die Stadt begeben und seinen Onkel suchen.
Alija war jedoch zurückhaltender.
„Mir war das ein bisschen zu viel gestern. Der ganze Trubel da
drin. Geh ruhig alleine, ich sehe inzwischen, ob ich eine Möglichkeit
finde, den Proviant zu erneuern.“
Rodge nickte langsam.
„Aber … wir sehen uns nochmal wieder, oder? Bist du noch da, wenn
ich heute Abend nochmal rauskomme … um … mich zu verabschieden?“
Alija sah ihn betroffen an. Dann kam sie mit raschen Schritten zu ihm
herüber und umarmte ihn.
„Wenn du dir das wünschst, werde ich da sein“, sagte sie, und
dann, etwas leiser: „Aber dann wirst du mich wahrscheinlich nicht
mehr treffen wollen.“
Rodge sah erstaunt auf sie herunter.
„Was soll das heißen? Natürlich will ich dich treffen!“
Sie lächelte ihn nur an, ein trauriges Lächeln. Dann drückte sie
ihm schnell einen Kuss auf die Wange.
„Geh. Bis heute Abend.“
„Aber was … “
„Geh!“
Verwirrt machte sich Rodge auf den Weg zum Stadttor. Nach einigen
Schritten drehte er sich noch einmal um, aber Alija hatte ihm schon
den Rücken zugekehrt und Rodge konnte nicht wissen, dass sie es tat,
um ihre Tränen vor ihm zu verbergen.
***
Morgens war die Stadt wesentlich ruhiger als am Abend. Viele der
Menschen, die die Straßen, Gassen und Plätze noch bis tief in die
Nacht hinein bevölkert hatten, verschliefen den Vormittag, um für
den nächsten Abend fit zu sein, und so kam es, dass Rodge bei seinem
zweiten Besuch in Bucktopia einfach ein normal bevölkertes Städtchen
erblickte. Er schlenderte durch die Straßen und sah sich in Ruhe um.
Die Marktstände verteilten sich über die ganze Stadt, und so
brauchte er viele Stunden, um zumindest auf alles einen kurzen Blick
geworfen zu haben. Erst am Ende dieser Tour wurde ihm klar, dass es
durchaus eine Ordnung in dem augenscheinlichen Chaos gab, zumindest,
was die Händler anging. Die schienen die verschiedenen Plätze der
Stadt nämlich unter sich aufgeteilt zu haben. Auf einem gab es
ausschließlich Lebensmittel, auf einem anderen Waffen und Werkzeuge,
wobei die Waffen in Vitrinen untergebracht waren und, wenn man sich
entschloss, eine zu kaufen, bei einer beliebigen Torwache hinterlegt
werden konnten, so dass man sie beim Verlassen der Stadt ausgehändigt
bekam, auf einem dritten Platz sah Rodge alle möglichen
Kunstgegenstände und einige Straßen weiter gab es Dinge des
täglichen Bedarfs. Diejenigen Händler, die sich nicht sicher waren,
zu welcher Gruppe sie gehörten, hatten ihre Stände einfach in den
Straßen zwischen den jeweiligen Plätzen aufgebaut.
Rodge hielt sich eine Weile lang bei den Ständen mit wertvollen
Artefakten aus der Zeit vor der Katastrophe auf, wo er einige der
Dinge, die er von zuhause mitgenommen hatte, gegen die merkwürdigen
Münzen eintauschte, die in dieser Stadt als Zahlungsmittel dienten.
Von einer dieser Münzen kaufte er sich eine Tüte mit kleinen, süßen
Kuchen und ein kleines Brot. Kauend machte er sich auf zum
Werkzeugmarkt. Sein Onkel Harry verdiente seinen Lebensunterhalt
durch das herstellen verschiedenster Werkzeuge aus den Überresten
alter Geräte und Maschinen. Wenn er ihn irgendwo finden würde, dann
hier.
Neugierig betrachtete er die Auslagen der einzelnen Stände und warf
dabei immer wieder unauffällige Blicke auf die Händler. Beim
dritten Stand, an dem er vorbeikam, hatte er Glück. Ein großer,
grobschlächtiger Mann mit ausladendem Bauch, Schnurrbart und Glatze
war gerade dabei, einem schmächtigen Kerlchen einen Hammer
anzudrehen, den dieser mit Sicherheit nicht einmal halten konnte.
Rodge betrachtete ihn kurz. Es war einige Jahre, her, dass er seinen
Onkel zuletzt gesehen hatte, aber wenn er sich die Gesichtszüge in
Erinnerung rief...
„Harry?“
Der massige Händler drehte sich zu ihm um.
„Bist du … mein Onkel Harry?“
***
Alija
hatte sich ihren Umhang um die Schultern gelegt, die Kapuze ins
Gesicht gezogen und die Waffen unter dem schwarzen Stoff verborgen.
Heute würde sie einen weiteren Teil ihrer Mission erfüllen. Es
würde nicht einfach sein, aber sie hatte einen Schwur abgelegt.
Sie
schlich sich in Richtung Stadt, machte jedoch einen großen Bogen um
das Tor. An einer offensichtlich unbeobachteten Stelle der Mauer
begann sie, dieselbe zu ersteigen. Sie krallte sich mit Fuß- und
Fingerspitzen in die kleinen Fugen zwischen den Steinen. Ihre
jahrelange Erfahrung im erklettern von Bäumen kam ihr hierbei
zugute. Keuchend schob sie sich schließlich über die Brüstung und
sah sich um. Niemand war zu sehen. Um so besser.
Die
Mauerkrone lag ungefähr auf der gleichen Höhe, wie die zahlreichen
Hausdächer. Alija sprang auf eines der Dächer, lief darauf entlang
und überquerte mit einem weiteren Sprung eine kleine Gasse. Auf
diese Weise bewegte sie sich auf den Dächern der Stadt entlang, so
oft wie möglich den Schatten von Schornsteinen, anderen Dachgiebeln
oder Mäuerchen und Verzierungen nutzend, um sich zu verbergen, bis
sie schließlich den Werkzeugmarkt erreichte. Rodge hatte ihr
erzählt, sein Onkel sei Werkzeugschmied oder etwas ähnliches. Daher
hatte Alija schon am Vorabend bei ihrer verwirrenden
Stadtbesichtigung die Gelegenheit ergriffen und heimlich jemanden
gefragt, wo denn die Werkzeugschmiede zu finden seien, während Rodge
in den Anblick eines Gauklers versunken gewesen war, der mit den
bunten Spielfiguren irgendeines in Vergessenheit geratenen
Brettspiels jongliert hatte.
Sie
machte es sich auf einem Dach bequem und wartete darauf, dass Rodge
auftauchte.
***
Nach
einigen Stunden wurde sie ungeduldig. Wie lange brauchte er denn?
Sicher, er musste erst herausfinden, wo er überhaupt zu suchen
hatte, aber so lange konnte das doch nicht dauern? Und wenn Rodge
bereits vor ihr hier gewesen und mit seinem Onkel längst abgezogen
war? Nein. Unmöglich. So schnell konnte er nicht gewesen sein.
Wahrscheinlich machte er sich einfach einen schönen Tag und nahm
sich Zeit, all das anzuschauen, was er am Vorabend in all dem Trubel
gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Alija stand kurz auf und
schüttelte ihre Glieder aus. Dann setzte sie sich wieder und stellte
sich auf eine längere Wartezeit ein.
***
Die
Sonne stand schon tief, als Rodge endlich auf dem Platz auftauchte.
Alija sah ihm zu, wie er die Stände abschritt und schließlich an
einem stehen blieb. Er schien irgendjemanden anzusprechen. Alija
zerknüllte vor Aufregung die Namenliste in ihrer linken Hand. Dann
trat ein fetter Mann mit Glatze und buschigem Schnurrbart aus dem
Inneren des Marktstands. Die beiden reichten sich die Hand. Das
musste wohl Rodges Onkel sein.
Alija
kletterte flink an der Fassade des Hauses hinunter. Im Vergleich zu
der Stadtmauer war das hier ein Kinderspiel. Dann folgte sie den
beiden, die Kurs auf ein nahes Gasthaus genommen hatten. Inzwischen
fing es an zu dämmern. Alija hielt bereits eines ihrer Wurfmesser
unter dem Umhang bereit. Da, jetzt blieben sie stehen, der Fette
öffnete die Tür es Wirtshauses und drehte sich dabei halb zu ihr,
Rodge drehte ihr sein Profil zu. Das war der Moment. Sie hob das
Messer.
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