MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Dienstag, 17. Juli 2012

5. Vater Und Sohn (15.10.2133)


Lady Marie


In den letzten Jahren waren um immer mehr Städte herum Mauern hochgezogen worden. Ein Grund dafür war das unkontrollierte Wachstum jener städtischen Gebiete, das man damit nun einzudämmen hoffte, da einige Kommunen sehr viel Wert auf ihre Übersichtlichkeit legten. Ein anderer Grund war jener, dass man alles Verbrechergesocks einfach aussiedeln konnte. Wer nicht in die Gemeinschaft passte, wurde fortgeschickt oder gar nicht erst hereingelassen. Durch dieses Vorgehen bildeten sich immer größere Slums um die Klein- und Großstädte herum. Besagte Orte wurden nicht zur Stadt gezählt und erhielten also keine Förderungen, polizeilichen Schutz, Versorgung, etc., aber einige Menschen aus den Slums arbeiteten schwarz in der Stadt, um Abends bei Torschluss in ihre selbst gebauten Hütten zurückzukehren, was die Dörfer vor der Stadt am Leben erhielt, genau wie der Schwarzhandel, organisiertes Verbrechen und andere dem Vergnügen dienliche Gesellschaftssparten.
Auch diese Slum-Entwicklung hatte man zu unterbinden versucht. Das Land, auf dem jemand wohnte, musste rechtmäßig erstanden werden. Man konnte doch nicht einfach irgendwo wohnen, wo es einem passte, nur weil man sich die Miete in der Stadt selbst nicht leisten konnte! Aber die Menschen waren erfinderisch und vor allem zahlreich. Man hatte die Vorstadt-Bildung nicht verhindern können. Sie setzte sich unentwegt fort und sorgte für Beunruhigung innerhalb der städtischen Bevölkerung. Wie hartnäckig diese Menschen waren! Man schickte sie fort, aber sie kehrten wieder zurück wie Ratten.
Überall um mich her sah ich Kinder. In den Slums gab es viele Kinder. Anders als in der Stadt. Wer Geld hatte, brauchte keine Kinder mehr. Kinder nahmen nur Platz weg, es reichte, wenn jeder, der eines wollte, eines hatte. Solange es dabei blieb, gab es auch genügend Leute, die sich um die Gören kümmern konnten. Soweit die Meinung innerhalb der Stadtmauern (Die Regierung sah das alles etwas anders. Man kämpfte noch immer gegen den eklatanten Nachwuchsmangel. So war es auch zu den Registrierungen gekommen. Noch allerdings existierte wenigstens keine Geburtenpflicht). Inzwischen waren die Vororte schon gut eingerichtet. Es gab illegale Läden, Krankenstationen, sogar Schulen. Aber noch immer lebte man im Schatten der Mauern mit der Gewissheit, verstoßen worden zu sein, weil man nicht ins Bild passte oder etwas sagen wollte.
Manchen Menschen sah man dieses Gefühl an. Still musterte ich die Leute um mich her. Erneut nahm mich kein einziger von ihnen wahr. Waren sie zu beschäftigt mit ihrem eigenen Leiden? Interessierten sie sich gar nicht für die Angelegenheiten der Stadt, in deren Schatten sie wuchsen?
Aber das bezweifelte ich. Hätte einer mich erkannt, der unzufrieden mit dem Leben in den Slums war, hätte er mich in jedem Fall verkauft. Und ich könnte es ihm nicht verübeln.
Massen an Menschen zogen an mir vorüber. Ich war auf dem Markt gelandet und trug meinen Mantel, die Kapuze nicht einmal über den Kopf geschlagen. Dennoch hatte ich irgendwie das Gefühl, dass dieses Kleidungsstück mich vor den Blicken schützte. An einem Stand bekam ich Brot, ohne dass die Verkäuferin Notiz von mir nahm. An einem anderen verkaufte man mir zwei Äpfel und einige Pflaumen ohne ein Wort oder einen Blick. Ich bewegte mich immer weiter in jene Regionen, in denen man nicht nur auf illegale Weise, sondern noch dazu illegale Waren kaufen konnte. Dies war der gefährlichste Ort in den Slums, aber ich hatte keine besonderen Bedenken, da ich selbst vor einiger Zeit noch in den Slums einer größeren Stadt gewohnt hatte. Ich kannte mich aus und wusste, worauf ich zu achten hatte, wann ich Vorsicht walten lassen musste. Fast schon war es ein Gefühl, als käme ich nach Hause.
Eine kleine Tür wies zu einem angeblichen Feinmechanik-Waren Fachverkäufer. Auch hier also ein Synonym für das, was ich suchte. Geringfügiger Bedenken betrat ich den Schuppen und wurde sogleich von tiefer Schwärze empfangen. Zunächst fand ich den Verkäufer nicht und sah mich etwas unter seinen 'legalen' Waren um: uralte Taschenuhren, rostige Schlüssel und Schlösser, leere Feuerzeuge, zerbrochene Spieluhren und dazwischen alte Cd´s und USB – Sticks, womit hier wohl nun wirklich niemand etwas anfangen konnte, denn in den Slums gab es schon lange keine Computer mehr. Mein Blick blieb an einer kleinen Taschenuhr hängen, deren Rädchen sich wohl schon seit hundert Jahren nicht mehr bewegt hatten. Dennoch faszinierten mich das Ziffernblatt, die filigranen Zeiger und leichten Verzierungen. Wie alt dieses Ding schon sein musste! Es lief ja noch nicht einmal mit atomarer Langzeitbatterie!
„Ein schönes Stück und uralt noch dazu“, erklang plötzlich eine rauchige Stimme hinter mir. Überrascht wandte ich mich um und stand einem kleinen, langhaarigen Mann mit Spitzbart und trüben blauen Augen gegenüber.
„Ja“, erwiderte ich, „Aber eigentlich bin ich nicht hergekommen, um eine Uhr zu kaufen...“
„Wenn das so ist“, er faltete die Hände und musterte mich eingehend, „Wie kann ich Ihnen...helfen, Fräulein?“
„Nun“, begann ich und beobachtete ihn dabei vorsichtig, „Ich suche ein gewisses feinmechanisches Gerät, wenn sie verstehen, was ich meine.“
„Wie meinen, Fräulein?“ Er sah mich unschuldig an. Vermutlich fürchtete er, dass ich ein Spion aus der Stadt war. Ab und zu stürmte die Polizei die Slums, um Waffen und Wertgegenstände zu konfiszieren.
„Dann hab ich mich vielleicht geirrt“, pokerte ich und wandte mich zum Gehen. Als ich die Klinke bereits in der Hand hielt, rief er mich zurück: „Warten Sie.“
Ich wandte mich wieder zu ihm um. Sein Blick versuchte, in meinen Kopf zu kriechen: „Woher kommst du, Mädchen?“
„Wenn Sie auf die Beantwortung dieser Frage bestehen, muss ich Sie jetzt verlassen.“
Wieder wandte ich mich zum Gehen. Dieses Mal aber hielt er mich sofort zurück: „Ich habe verstanden. Nehme an, du bist eine von denen.“
„Von wem?“, fragte ich.
„Den Vogelfreien. Nicht wahr?“
Ich schwieg. Noch immer stand ich mit dem Gesicht zur Tür.
„Keine Sorge“, hörte ich ihn sagen, „Das allein enttarnt dich nicht. Inzwischen gibt es so viele von euch...“
Nun erst drehte ich mich zu ihm um: „Wie meinen Sie das?“
„Jede Woche bringen sie eine Liste heraus“, antwortete er mir kopfschüttelnd, „Letzte Woche hat es meinen Sohn erwischt.“
Ich sah tiefen Hass in seinem Gesicht.
„So können sie nicht ewig weiter machen“, musste ich ungläubig bemerken, „Wer soll denn am Ende noch übrig bleiben?“
„Nach der ersten Liste gab es Proteste“, erklärte der Verkäufer, „daraufhin haben sie immer neue Listen herausgebracht, die die Protestierenden einschlossen. Schließlich verstummten die Proteste vorerst. Sie versuchen, den Menschen Panik zu machen und es funktioniert. Aber immer mehr Menschen laufen fort und verstecken sich. Von der ersten Liste haben sie achtzehn Menschen eingekerkert, weil sie alle nicht daran glaubten und sich nicht bewegten. Auch von der zweiten haben sie noch viele erwischt. Aber inzwischen haben die Menschen gelernt.“
Darum also hatten sie mich zu Anfang nicht wirklich verfolgt. Sie hatten vermutlich gar nicht daran gedacht, dass ich nicht mehr da sein würde. Aber achtzehn. Achtzehn Menschen, die sich zum selben Zeitpunkt in der selben Situation befunden hatten wie ich, hatte es die Freiheit gekostet, nicht paranoid gewesen zu sein. Ein Schauder durchlief mich. Ein anderer war noch auch freiem Fuß. Ein einziger außer mir. Ich erinnerte mich, an diesem Morgen nicht auf viele von den Namen geachtete zu haben. An fünfter Stelle war der meine genannt worden, woraufhin ich mich in heller Aufbruchspanik befunden hatte. Ob noch jemand dabei gewesen war, den ich kannte? Es waren damals schließlich nicht nur meine Mutter und ich gewesen, die sich auf so unpässliche Weise widersetzt hatten...
Mama.
„Mein Name ist Kenzo“, unterbrach der Verkäufer meine Gedankengänge und bot mir seine Hand an. Ich sah ihn leicht lächeln. Auch Neugierde lag in diesem Blick. Aber es war eine Neugierde, die mich nicht abschreckte.
Ich griff nach der Hand, als beschritte ich bedenkenlos eine Brücke, die keiner sonst betreten hätte, weil sie über einen reißenden Fluss führte. „Reia“, stellte ich mich vor. Ich selbst verspürte die unbegründete Gewissheit, dass die Brücke halten und mich endlich weiterbringen würde.
„Willkommen in meinem Laden, Reia“, schmunzelte er und aus irgendeinem Grund durchfuhr mich ein erneuter Schauer. Für einen Moment war ich sicher, ihn bereits zu kennen.
„Ich würde mich freuen, wenn du mir etwas erzählen könntest. Was hältst du von einem Tee?“

Im hinteren Teil des Ladens brannte einige Öllampe und verbreitete schummriges Licht. In diesem Abteil fanden sich keine Regale mehr und auch keinerlei Wahren. Dieser Ort wirkte beinahe wie eine Art schäbiger Wohnraum. Kenzo hatte einem Kessel, der in einer extra dafür ausgesparten Raumecke über einem Campinggaskocher aus Zeiten meiner Ururgroßmutter vor sich hin köchelte, etwas heißes Wasser entnommen, um damit frischen Tee aufzugießen und nun verbreitete sich ein angenehmer Duft von Salbei im Raum, der ansonsten eher nach Rost und Staub roch.
„Ich frage dich nicht, auf welcher Liste dein Name stand“, erklärte Kenzo vorsichtig, „aber ich sehe, dass du schon ein Weilchen unterwegs sein musst.“
Ich antwortete nicht, starrte auf meine Teetasse, während der Mann irgendetwas zwischen seinen Kesseln herumhantierte. Ich bemerkte nicht einmal, dass er dabei war, zu kochen.
„Darf ich dir meinen Respekt aussprechen?“, fragte er, mein Schweigen schien ihn nicht zu verunsichern, „Du musst einen weiten Weg hinter dir haben, aber immerhin hast du es hierher geschafft ohne dich selbst zu verlieren.“
Nun musste ich lächeln: „Wie alles, was mir bisher widerfahren ist, war aber auch das eher Zufall.“
Ohne eine gewisse Begegnung wenige Tage zuvor würde ich nämlich noch immer ziel- und antriebslos wie eine Art Zombie durch den Wald irren. So viel musste man diesem Rahlis anrechnen. Selbst wenn er mir einen gewaltigen Schock versetzt hatte.
„Lieber glücklicher Zufall als missglückte Pläne“, schmunzelte Kenzo und etwas väterliches lag darin.
Kurz schwieg ich, dann sah ich zu ihm auf und musterte ihn vorsichtig: „Sie sprachen vorhin von Ihrem Sohn... Ist er auch geflohen.“
Das Lächeln auf Kenzos Gesicht versteifte sich: „Ja, aber er ist schon lange fort. Ich habe ihn rausgeworfen, als er volljährig wurde...“
Überrascht sah ich ihn an: „Warum...warum haben Sie denn...?“
Er stockte in seiner Arbeit. „Willst du wirklich diese Geschichte hören? Eine Geschichte, die so lange her ist und mit der du nichts zu tun hast?“
Nachdenklich betrachtete ich die Tischplatte. „Wenn Sie mir Ihre Geschichte erzählen wollten, wäre mir das eine Ehre“, antwortete ich dann.
Er wandte sich zu mir um und wieder überraschte mich das Schmunzeln, dass ihn mir so bekannt erscheinen ließ.
„Ich werde dir unter einer Bedingung erzählen, Reia.“ Und sein Blick wurde provokant: „Und zwar unter der, dass du heute mein Gast bist und endlich aufhörst, mich zu Siezen.“
Auch ich musste lächeln. „Einverstanden“, nickte ich, „Also erzählst du mir...deine Geschichte.“
Kurz schien er mich zu beobachten und abzuschätzen. Dann wandte der hagere, sehnige Mann, der nicht größer war als ich selbst, sich erneut seinem Arbeitstisch zu und begann, mir eine Geschichte zu erzählen.
„Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist dies das erste Mal, dass ich behaupten kann, etwas richtig gemacht zu haben“, erzählte Kenzo, „Denn jetzt, da er gesucht wird, hat er die besten Voraussetzungen, die man sich dafür wünschen kann.“
„Wie das?“
Er sah mich an, etwas blitzte in seinem Blick: „Bei seiner Geburt wurde er nicht registriert.“
Überrascht zog ich die Augenbrauen empor: „Wie ist denn das möglich?“
Es war lange her, dass man diese Regelung eingeführt hatte. Lange vor meiner Geburt war das geschehen. Zunächst fand diese Registrierung zum Erreichen der Volljährigkeit statt, schließlich aber führten sie die Regelung ein, dass ein jedes neugeborene Kind registriert werden müsse. Aus Sicherheitsgründen wollten sie das tun und aus Kontrollgründen, die aber die Bevölkerung nicht näher beträfen, sagten sie. Jedes Kind fand Platz und Nummerierung in einer langen Liste von anderen identitätslosen Wesen. Fingerabdrücke und DNS wurden digital gespeichert. Von jedem einzelnen Menschen. So damals auch von mir, weshalb ich nun auch einige Probleme hatte, denn man hatte alle Informationen über mich, die man brauchte, um mich verfolgen und überwachen zu können. Zunächst zeigten sich gute Resultate. Die Verbrechensbekämpfung schritt weit voran, aber dann, und das war längst nicht der gesamten Menschheit aufgefallen, begannen sie, ihre Macht zu missbrauchen.
Kenzo hatte seine Arbeit beendet und inzwischen köchelte in dem Topf über dem Gaskocher sein nächstes Abendessen, sodass er sich zu mir an den Tisch setzte.
„Gleich zu Beginn dieser Registrierungsentwicklungen war ich misstrauisch geworden. Als sie begannen, mit der DNS herumzupfuschen, war mir auch klar, wieso, denn auf einmal schienen sie alles über einen jeden Menschen wissen zu können“, und er sah mich bedeutungsvoll an. Ich unterdessen erinnerte mich daran, was auch meine Mutter mir bereits erzählt hatte: Es fing damit an, dass sie den jeweiligen Schulweg festlegten. Dann setzte sich alles fort, indem sie einem den späteren Berufsweg empfahlen und auf diese Weise versuchten, Künstler aus der Welt zu schaffen. Auch Mama hatten sie etwas vorgeschrieben, etwas, was sie gerade mehr brauchten, als eine Schriftstellerin. Und da sie sich stets weigerte, einen anderen Weg einzuschlagen als den ihren, hatte man versucht sie umzustimmen. Und als das nicht funktionierte und sie in immer weiteren Texten Freiheit forderte und definierte, da hatte man zu neuen Mitteln gegriffen...
Auch in Kenzos Blick loderte Erinnerung: „Zu dieser Zeit verliebte ich mich in eine junge Frau, die mit großer Begeisterung malte. Und natürlich hatte sie so ihre Schwierigkeiten mit dem System... Man versuchte, sie zu überreden, aber sie war stur.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und versiegte sofort wieder. „Schließlich mussten wir fortgehen. Wir wollten einen eigenen Versuch starten, außerhalb der Gesellschaft leben. Ähnlich wie du vielleicht...“ Er musterte mich aufmerksam: „Denn ich nehme an, auch auf dich sind sie erst aufmerksam geworden, weil du keine Laborassistentin oder Lehrerin werden wolltest, nicht wahr?“
Kurz flammte Misstrauen in mir auf, doch es war kein Wunder, dass er so schnell zu diesem Schluss gekommen war. Und es stimmte. Erst wenige Monate zuvor hatte man mir ein letztes Mal geraten, mich doch lieber anders zu entscheiden und den richtigen Weg einzuschlagen. Törichter Weise hatte ich nicht gehört.
„Pharmazeutin“, berichtigte ich ihn, „und ich vermute, dass es auch um meine Mutter ging...“
„Es geht immer in Wirklichkeit um die Eltern, wenn die Kinder plötzlich im negativen Fokus stehen“, schmunzelte Kenzo. Dann fuhr er fort: „Einige Jahre lebten wir ruhig und friedlich in irgendeinem Dorf außerhalb jeder Zivilisation auf unsere eigene Art und Weise. Doch als sie schwanger wurde, wurde sie unruhig. Sie hatte Angst, dass jemand von dem bevorstehenden Segen etwas merkte und man versuchen würde, uns das Kind wegzunehmen. Damals war das zwar noch nicht Gang und Gebe, die Gefahr erhöhte sich aber, als die Vergangenheit uns tatsächlich wieder einzuholen versuchte.“
Gespannt lauschte ich, während sich die Schatten an den Wänden zu einer Geschichte verwoben.
Sie hatten eine Nachricht zugestellt bekommen, die mehr oder weniger folgendes verlauten ließ: Auf einmal wollte man das junge Paar zurückzwingen und im Zweifelsfall verhaften. Also packten sie am selben Abend noch alles zusammen, was sie besaßen, und verschwanden von der Bildfläche. Es war überraschend, dass sie überhaupt die Gelegenheit dazu bekamen... Alles war anders gewesen zu den Anfängen.
Wieder hatten sie eine Weile ihre Ruhe gehabt, was aber wohl daran gelegen hatte, dass sie beständig ihren Wohnort gewechselt hatten. Die Lebensweise kam mir irgendwoher bekannt vor... Einige meiner Freunde waren spurlos verschwunden. Vermutlich waren die Gründe an dieser Stelle die gleichen. Schließlich kannte auch ich selbst das Bedürfnis, endgültig zu verschwinden. Was dachte ich da überhaupt: inzwischen hatte ich es ja wahr gemacht. Nun war ich eine von den Spurenlosen. Hoffentlich.
Niemand erfuhr von der Geburt des kleinen Sohnes und so ließen sie das Kind nicht registrieren. Schließlich aber geschah das Unausweichliche.
„Margeret hatte mir das Kind gelassen, um etwas in der Stadt zu erledigen. Aber am Abend warteten wir vergeblich auf sie. Sie kehrte nie zurück. Zwei Tage später berichtete mir ein Freund von ihrer Festnahme. Sie hatte sich gewehrt und war erschossen worden. Einige Tage später verließ ich schweren Herzens mit meinem dreijährigen Sohn das Dorf, aus Angst, dass sie ihn nun auch noch finden würden, nachdem sie mir meine Frau genommen hatten.“
Seine Stimme zitterte. Ich hielt den Atem an bei den Worten, brachte aber selbst keines heraus...
„Aber sie haben ihn nie gefunden“, fuhr Kenzo fort, „Nicht einmal von seiner Existenz haben sie erfahren. Nur fanden sie mit Hilfe des DNS-Rückerinnerers vor zwei Wochen mich. Ich hatte ihn schon vor zehn Jahren fortgejagt, weil ich befürchtete, dass sie sich irgendwann an mich erinnern würden und damit auf ihn stoßen. Dennoch erfuhren sie nun, dass es ihn gab, und setzten ihn, da ich ihn nie registrieren lassen hatte und er auch jetzt nicht auffindbar war, und somit also sich der Gesellschaft sträubte, auf die Liste.“
Mitleid lag in meinen Augen, ohne dass ich es wollte. Aber ich musste daran denken, dass der Junge vielleicht noch nicht einmal wusste, dass er gesucht wurde. Wenn er irgendwann versehentlich einer Wache über den Weg lief...
Aber vermutlich hatten sie nicht einmal ein Foto von ihm... Aus dieser Sicht gesehen war er der Glücklichste von uns allen. Ein nicht registrierter. Wie wäre es gewesen, so einer zu sein...? Wenigstens gehörten wir nicht zu den Menschen, denen man einen Sender eingepflanzt hatte... noch nicht.
„Sieh mich nicht so traurig an“, lächelte Kenzo plötzlich, „Mein Junge weiß sich durchzuschlagen. Ich habe nur Angst, dass er meine Karriere weiterführt... Aber wie ich ihn kenne, wird er sich gar nicht erst auf andere Menschen einlassen.“
Ein Bild fuhr mir durch den Kopf und verschwand auf der Stelle wieder, ohne dass ich mich daran hätte erinnern können.
Ich senkte den Blick, als ein Teller vor meiner Nase landete. Plötzlich umfing mich Stille.
Kenzo begann zu essen. Nach einer Weile legte er das Besteck nieder.
„Was ist los mit dir? Hast du keinen Hunger mehr?“
Ein zerbrechliches Lächeln gewann über meine Züge: „Meine Mutter...“
Kenzo beobachtete mich stumm.
„Sie war schwanger, weißt du? In zwei Wochen sollte das Kind geboren werden...“
Warum sprach ich überhaupt in der Vergangenheit?
Der Mann mir gegenüber schob seinen Teller von sich. Kurz schwieg er nur, dann legte er die Hände, die Handflächen nach oben, auf den Tisch.
Verdutzt sah ich ihn an.
„Es ist schwer“, sagte er mit einem tief in anderen Zeiten versunkenen Blick, „vor allem, wenn man allein ist... Lass uns an deine Familie denken. Und an meine. Vielleicht bewirkt es etwas. Zumindest für uns...“
Kurz zögerte ich, dann stiegen mir die Tränen empor und ich ergriff seine Hände. Wir beide schlossen die Augen und saßen Minuten lang nur da. Das Feuer im Kamin wurde kleiner, das Essen kalt. Draußen senkte sich die Sonne, während wir noch lange saßen und redeten. Wieder einmal hatte ich beinahe das Gefühl von Familie.
Am Ende war ich satt und konnte wieder lächeln, wenn ich auch trotzdem bedrückt war.
„Du könntest heute hier schlafen, wenn du willst“, bot Kenzo mir an, „Es wird immer kälter im Wald. Und ich verstehe zwar, dass du misstrauisch sein musst, was mich betrifft, aber du kannst die Tür verriegeln, wenn es dir lieber ist.“
Ich errötete leicht: „Ich danke dir. Aber ich habe das Gefühl, dass ich heute im Wald besser aufgehoben bin.“
Kenzo nickte und reichte mir eine Waffe.
Fasziniert und überrascht musterte ich sie. „Wie viel?“, fragte ich ihn.
„Gib mir fünf Taler und ich bin glücklich.“
„Ich will dich nicht ruinieren“, erwiderte ich streng.
Doch Kenzo schmunzelte nur: „Ich bestehe darauf, Fräulein.“
Lächelnd nahm ich die Waffe an und tauschte sie gegen mein letztes Geld.
„Und das hier“, grinste der alte Mann und hielt mir etwas entgegen, was sofort noch mehr Verwunderung in mir auslöste. Es war die Uhr, die ich bei meiner Ankunft so ausgiebig betrachtet hatte.
„Nimm sie als Geschenk. Ich hoffe, sie bringt dir Glück.“
„Ich kann das nicht alles annehmen“, wehrte ich mich, „Ich bin zwar vogelfrei, aber noch lang keine Schmarotzerin.“
Kenzo schüttelte nur den Kopf: „Du kannst mir dafür einen Gefallen tun.“
„Welchen?“
Er hielt mir einen Brief entgegen.
„Gib den an meinen Sohn weiter, wenn du ihn triffst.“
Mein Blick wurde verständnislos: „Aber...“
„Ich weiß, es ist eine seltsame Bitte. Vielleicht wirst du ihm niemals begegnen. Aber wenn es dir doch passieren sollte, gib ihm den.“
Gerührt nahm ich den Brief an mich. „Und wie erkenne ich ihn?“
Kenzo zwinkerte: „Er sollte etwa so verdorben sein wie sein alter Herr, dennoch...“, und in seinem Blick zeichnete sich Stolz ab, „...dennoch hat er das Herz am rechten Fleck und sein Verstand überschreitet den Horizont. Seinen Namen zu erfahren, würde dir nichts bringen. Ich vermute, dass er ihn geändert hat..., aber irgendwie, Reia, irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich dir heute diesen Brief mitgeben muss...“
Ich musste lächeln. „Danke für das Vertrauen“, und drückte zum Abschied seine Hand.
„Ich danke dir“, lächelte Kenzo mit diesem mir so bekannten Lächeln, „Ich hoffe, man trifft sich irgendwann einmal wieder. Vielleicht in besseren Tagen...“
„Vielleicht in besseren Tagen“, murmelte ich. Dann verließ ich den Laden und den illegalen Waffenhändler in einer staubigen halb-unterirdischen Kammer aus Pappwänden.
Hätte ich an diesem Abend gewusst, wie berechtigt unser beider Vermutungen gewesen waren, meine, nicht zu verweilen, und seine, den Brief fortzugeben, hätte ich gewusst, dass schon zwei Stunden später ein riesiges Feuer sich an dieser Stelle in den Himmel erheben sollte, ich wäre, um seinetwillen, wahrscheinlich geblieben. Aber das wusste ich nicht. Ich hörte auf mein Bauchgefühl und suchte mir wie jeden Abend ein Versteck im Wald, um einsam und frierend, aber sicher vor allem Äußeren, mein Inneres zu durchforsten. Denn diese Dinge blieben: Ich wollte am nächsten Tag in die ummauerte Stadt gehen. Und ich brauchte einen Plan, wie es danach weiterginge. Falls es denn ein danach noch gäbe.

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