MVJstories

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Donnerstag, 5. Februar 2015

Kälte. Folge 19: Ein Traum...

Als der erste Tag der zweiten Etappe seiner Wanderung sich dem Ende zuneigte, konnte Aaron den Wald in der Ferne nur noch als grünes Band erkennen. Er war natürlich bei Weitem noch nicht so weit vom Wald entfernt, wie bei seinem Aufbruch aus der Blockhütte, von wo aus er den Wald ja auch schon hatte sehen können, aber wenn seine Schätzung ungefähr stimmte, hatte er bestimmt fast dreimal so viel Wegstrecke hinter sich gebracht, wie an einem durchschnittlichen Tag am Anfang der Wanderung. Erschöpft aber zufrieden ließ er sich schließlich, nachdem er sich wie üblich ein Lager zusammenimprovisiert hatte, auf selbigem nieder, löste die Schnüre, die die Schneereifen an seinen Füßen hielten, und überprüfte seine Gehhilfen auf Schäden und Abnutzung.
Es stellte sich heraus, dass die Rahmen selbst – ganz wie erwartet – relativ unbeschädigt geblieben waren. Das Netz aus Schnüren hingegen, dass er dazwischen geknüpft hatte, zeigte deutlichen Abrieb. Besonders die Stellen, an denen die Schnur um den Rahmen gelegt war, wiesen sichtbare Schäden auf. Dagegen sah es dort, wo sein Schuh die Schnüre berührt hatte, etwas besser aus. Kurz überlegte er, warum das so war, fand nicht gleich einen Grund und verwarf schließlich die Frage, da sie ihn nicht weiterbrachte. Stattdessen dachte er darüber nach, ob er die Schneereifen gleich neu spannen sollte, um am nächsten Tag nicht mitten in der Wanderung davon aufgehalten zu werden? Er entschied sich dagegen. So verlockend es war, am nächsten Tag wieder eine Stecke wie die heutige zurückzulegen, er besaß nicht genug Schnur, um verschwenderisch damit umgehen zu können. Insgesamt würde er mehr Strecke mit den Schneereifen zurücklegen können, wenn er jedes Bisschen Schnur bis zum Zerreißen nutzte.
Schließlich aß er von dem Trockenfleisch, das ihm inzwischen so zuwider war, dass er es nur noch herunterbekam, wenn er zwischendurch immer wieder mit Schnee oder Wasser nachspülte, und kauerte sich schließlich auf seinem Nachtlager zusammen. Kein Geräusch sang ihn in den Schlaf, aber er hatte sich an die Stille gewöhnt.

In dieser Nacht hatte er einen Traum. Einen sehr eindrücklichen sogar. Er befand sich wieder bei der Blockhütte, in der sein Abenteuer seinen Anfang genommen hatte. Rundherum tobte ein Schneesturm, und so ging Aaron hinein. Als er jedoch den Hauptraum betrat, fiel sein Blick auf die Tür zum Nebenraum und er erinnerte sich plötzlich, dass da drüben noch Eriks Leiche liegen musste. Schon wollte er die Hütte panisch wieder verlassen, doch dann bezwang er sich und beschloss, dem alten Freund einen letzten Besuch abzustatten. War er überhaupt noch da? Vielleicht war der Mörder wieder dagewesen, oder einer seiner Komplizen, und hatte den toten Körper beseitigt, die Spuren verwischt...
Als Aaron die Tür zum Nebenraum öffnete, ging eine seltsame Wandlung mit ihm vor. Er spürte, dass er größer wurde, kräftiger und wilder. Die Hand, mit der er die Türklinke ergriffen hatte, war breit und schwielig, die andere aber hielt etwas, was er in der Kürze der Zeit nicht ganz erfassen konnte. Schließlich trat er in den Raum. Vor sich sah er Erik, der sich an die gegenüberliegende Wand drückte. Dann hob er den Arm – in der Hand hielt er eine Pistole. Er richtete sie auf Erik...
Was? Nein! Erik war einer seiner besten Freunde. Überall wollte er dieses schreckliche Ding hinhalten, nur nicht auf diesen Menschen. Panisch versuchte er, die Kontrolle über seinen Arm zurückzugewinnen, die Pistole fallen zu lassen, irgendetwas, aber da war etwas in ihm, etwas, das in unbändiger Wut entflammt war, das verletzen, ja töten wollte, weil ihm etwas weggenommen worden war. Der dort hatte ihm etwas weggenommen... Etwas so kostbares... Was ihm genommen worden war?
Er drückte ab.
Im Moment, da sein Finger den Abzug betätigte, hörte er hinter sich einen Laut. Er wollte herumschnellen, doch spürte er schon, wie ihm etwas scharfes, spitzes tief in den Rücken getrieben wurde. Er spürte, wie das Leben aus ihm wich, gleich darauf wurde ihm auch bewusst, wie der Traum sich langsam verflüchtigte. Schon halb im erwachen hörte er noch ein paar letzte Worte, die Worte seines Mörders, der Mörderin, wie er jetzt an der Stimme erkannte:

„Das habe ich nur für dich getan...“

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