MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Freitag, 23. Mai 2014

Glaubt an mich!

Wir schreiben das Jahr 2507 und die Welt ist erklärt. Vollständig. So jedenfalls lautet die offizielle Meinung der Wissenschaft und so denken fast alle Menschen auf der Erde. Alle Rätsel sind gelöst, alle Unsicherheiten beseitigt, alles Vage, jede Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit wurde ersetzt durch Gewissheit, harte Fakten, Zahlen, auf die alle Existenz reduziert werden kann. Angst und Hoffnung verbrüdern sich im Angesicht ihrer Vernichtung um dann gemeinsam unterzugehen, aus der Welt getilgt durch das unzweifelhafte Wissen, das nun ihren Platz einnimmt. Dabei weiß nicht einmal jeder. Nicht jeder einzelne Mensch ist mit den komplizierten Berechnungen vertraut, die nötig sind, um die Welt als Ganzes logisch erscheinen zu lassen, nur eine kleine Elite versteht die Zusammenhänge wirklich. Das Gefühl der Resignation angesichts der Berechenbarkeit jedes Vorgangs im Universum, die eine Vorstellung von so etwas wie „freiem Willen“ absurd erscheinen lässt, ist jedoch auch bei denen, die nicht wirklich wissen, allgegenwärtig. Ihnen genügt es, zu wissen, dass andere wissen. Die Welt ist erklärt, egal ob ich selbst sie verstehe. Ich weiß zwar nicht, warum was wie passiert, aber jemand anderes weiß es ganz genau. Ich komme mir vor, wie ein Wesen mit freiem Willen, aber dieser Jemand könnte jede einzelne meiner Aktionen genau voraussagen, weil ich in den aktuellen Umständen gar keine andere Möglichkeit habe, als mich so zu entscheiden. Gefangen sowohl in der Welt als auch in mir selbst, so versteht sich der Großteil der Menschheit. Jede Spontaneität ist verschwunden, und damit jede Lebensfreude. Ein erklärter Mensch ist kein guter Mensch. Jedenfalls nicht gut für sich selbst.

In einer Kleinstadt in Mitteldeutschland sitzt auf einer Parkbank die einzige Ausnahme. Martin will diese Welt nicht akzeptieren. Er weigert sich, die Errechenbarkeit des Menschen anzuerkennen, will nicht glauben, dass sich die Bedeutung eines Menschen in einer mathematischen Formel erschöpft. Martin will mehr sein, mehr in anderen sehen. Er glaubt an etwas Unerklärliches. Irgendwo, da ist er sich sicher, gibt es etwas, das nicht berechnet werden kann, etwas, dass sich den Formeln der Mathematiker entzieht. Martin glaubt nicht an einen Gott. Dafür denkt er sehr viel über ihn nach. Darüber, ob Gott nicht einfach nur ein Wort ist, für etwas Unerklärliches. Nicht für etwas Bestimmtes, sondern für das Unerklärliche an sich. Für das, was er sucht?

Martin geht gerne spazieren. Er fühlt sich nicht wohl mit seinen Mitmenschen, spürt, dass ihre Kapitulation vor der behaupteten Logik ihrer Leben ihm die Freude nimmt. Daher sucht er sich Orte, an denen er allein sein kann und beneidet die Tiere, die er in der Natur beobachtet, weil sie keine Gedanken an die Erklärbarkeit ihrer Leben verschwenden.
Eines Tages hat Martin einen seiner Spaziergänge besonders weit ausgedehnt. Er ist erst auf kleinen Pfaden immer weiter in den Wald hinein gegangen, hat dann aber begonnen, einfach quer durchs Unterholz zu laufen. Schließlich, es wird bereits dunkel und Martin hat mit Hilfe seines Kompasses die Richtung des Städtchens eingeschlagen, kommt er an einen Hügel, auf dessen Kuppe er eine Lichtung erspäht. Ein Feuer scheint dort zu brennen und Martin, halb neugierig auf denjenigen, der dort oben tatsächlich etwas so unlogischem wie einer Freizeitbeschäftigung nachzugehen scheint und halb angezogen von dem zu erwartenden großartigen Blick auf seine erleuchtete Heimatstadt, macht sich an den Aufstieg.

Zehn Minuten später biegt Martin die letzten Büsche beiseite, die ihn noch von der Lichtung auf der Hügelkuppe trennen. Neugierig lugt er zwischen den Zweigen hervor.
Auf der Lichtung sitzt ein Mann mittleren Alters und starrt in die Flammen. Er hat einen Stoppelbart, trägt eine Brille und das kurze Haar hat sich bereits von weiten Teilen seines Kopfes zurückgezogen. Er sieht nachdenklich aus, wie er da so sitzt. Nachdenklich und unheimlich traurig. Spontan empfindet Martin Mitleid mit ihm, ist aber gleichzeitig verwirrt. Etwas stimmt nicht mit diesem Mann. Es ist nichts sichtbares, soviel ist klar. Eher ein Gefühl... Martin kann es sich nicht erklären, und das fasziniert ihn. Dieser Mann scheint ihm nicht so stumpfsinnig und berechenbar, wie der Rest der Menschen. Was ist anders an ihm?
Schließlich hält Martin es nicht mehr aus. Er tritt aus seinem Versteck und ist mit wenigen Schritten am Feuer. Der Lagernde starrt weiterhin in die Flammen. Martin räuspert sich. Keine Reaktion. Auch das zweite, etwas lautere Räuspern bringt nicht den gewünschten Effekt. Schließlich versucht Martin es mit einem schüchternen Gruß.
„Ääh... hallo...“
Endlich hebt der andere seinen Blick, etwas überrascht aber nicht etwa erschrocken, und schaut Martin in die Augen.
„Oh, guten Abend. Verzeih, ich war in Gedanken versunken. Bist du schon lange hier?“
„Ich... nein, das nicht, ich wollte nur... was ist los?
Der Mann am Feuer hat plötzlich die Augen zusammengekniffen und mustert Martin nun misstrauisch. Bei dem plötzlichen Ausruf des Neuankömmlings setzt er allerdings sofort wieder seine alte, freundliche aber traurige Miene auf.
„Nichts nichts. Ich... hatte dich nur verwechselt. Ein kleiner Streich, den mir der Widerschein der Flammen auf deinem Gesicht gespielt hat. Setz dich doch.“
Martin wirft dem Fremden noch einen argwöhnischen Blick zu, leistet seiner Aufforderung jedoch Folge.
„Nun,“ lässt sich erneut der Mann am Feuer vernehmen, „was führt dich hierher? Woher kommst du überhaupt? Ich glaube, ich habe dich tatsächlich noch nie gesehen. Zumindest nicht, soweit ich zurückdenken kann, und das sind ja immerhin ein paar tausend Jahre.“
„Ein paar... Was?!?
„Nun komm schon. Tu nicht so, als wärst du überrascht. Ich bin nicht unbedingt der älteste Gott.“
Martin erstarrt.
Du bist... du behauptest, dass du Gott bist?“
„Ich bin nicht 'Gott'. Ich bin nur ein Gott, und... Aah!“ Die Augen des Mannes glänzen. „Du bist also keiner! Ich wusste doch gleich, dass irgendetwas an dir komisch ist.“
„An mir ist etwas komisch? Da wo ich herkomme ist es nicht im geringsten komisch, keinGott zu sein. Bei uns gibt es keine Götter. Die Leute glauben auch längst nicht mehr daran. Ich bin der einzige...“
Martin verstummt.
„Der einzige...?“ forscht der Gott nach. Martin seufzt.
„Der einzige, der noch an so etwas wie einen Gott glaubt. Zumindest so ähnlich. Ich weiß nicht genau... Ist schwierig zu erklären.“
Das behauptete höhere Wesen ihm gegenüber bekommt ganz große Augen.
„An einen Gott glauben? Aber... an Götter glaubt man doch nicht. Wie meinst du das? So eine Art... Religion?“
Jetzt ist Martin vollkommen durcheinander. Hier sitzt ihm jemand gegenüber, der behauptet, ein Gott zu sein, aber nicht die geringste Ahnung zu haben scheint, was ein Gott überhaupt ist.
„Natürlich betet man Götter an. Schon immer. Das heißt, heute nicht mehr so sehr, aber früher... Das Wort 'Gott' steht jedenfalls immer noch für eine höhere Daseinsform, der man huldigt und... ach, ich weiß auch nicht, ich habe nur in alten Büchern davon gelesen, heute kennt sich da ja kaum noch einer aus, aber soviel wissen sie doch alle: Götter betet man an. Woher kommst du, dass du das nicht weißt?“
Der andere schüttelt den Kopf, birgt sein Gesicht einen Moment lang in den Händen und wendet sich dann wieder an Martin.
„Wenn du Götter für höhere Wesen hältst, kannst du mit dem Namen des Ortes, von dem ich komme, sicher nichts anfangen. Dort leben nur Götter. Alle, die du triffst, sind Götter und niemand würde auf die Idee kommen, sie anzubeten. Wir beten zu einem anderen Wesen.“ Er seufzt. „Zumindest war es einmal so. Aber inzwischen... sind die meisten vom Glauben abgefallen. Früher haben sie noch alle in Ehrfurcht zu ihm aufgeblickt, Odin und Zeus, JHWH und Durga, alle Götter haben sich regelmäßig an ihn gewandt und ihn um die verschiedensten Dinge gebeten. Manche behaupten sogar, sie hätten mit ihm gesprochen, aber ihre Beschreibungen widersprechen sich... vielleicht tritt er ja auch in verschiedenen Gestalten auf. In der Zwischenzeit jedenfalls haben sie sich alle von ihm abgekehrt. Er sei nicht logisch, sagen sie. Seitdem leben sie ihr streng durchdachtes Leben, das mir so freudlos vorkommt... Ich fürchte, ich bin der Einzige, der noch an ihn glaubt. Da hätten wir also etwas gemeinsam.“
„Ich dachte gleich, dass du wegen irgendetwas traurig bist... Als ich dich hier am Feuer sah...“ Martin sieht den Gott mitleidig an. „Ich habe auch auf den ersten Blick gesehen, dass du irgendwie anders bist als wir. Aber dass du nun ein... wie auch immer, erzähl mir mehr von eurem Glauben! Wie nennt ihr euren Go... ich meine, das höhere Wesen, an das ihr glaubt?“
Der Gott lächelt versonnen vor sich hin. Auch mit diesem Gesichtsausdruck wirkt er nicht wirklich glücklich, sondern vielmehr wie von einer tiefen Melancholie ergriffen.
„Wenn du uns Götter schon für höhere Wesen hältst, muss dir der, an den ich glaube, gewaltiger vorkommen, als du jemals zu träumen gewagt hättest. Ein Wesen, dass Mauern und Paläste baut in einem Nichts an Zeit. Das ganze Flüsse umleitet, Berge versetzt und Völker vergehen lässt, wenn es ihm beliebt. Man sagt, es habe die Götter einst geschaffen, jeden Einzelnen von ihnen, genau wie ihre Ländereien, das Paradies, Wallhalla und wo sie alle wohnen. Na? Das ist wohl etwas mehr, als das, was du von uns Göttern gewohnt bist...“
„Eigentlich nicht“ meint Martin. „Das klingt ungefähr genauso wie das, was in den alten Büchern über euch geschrieben steht. Aber jetzt sag doch endlich. Wie heißt der, zu dem du betest?“
Da beugt sich der Gott mit geheimnisvollem Gesichtsausdruck zu Martin und flüstert ihm ins Ohr: „Unser Herr, der Schöpfer und Beherrscher trägt den Namen – der Mensch.“
„WAS?!?“
„Was ist los? Hast du schon von ihm gehört?“
„Ja. Ich meine, nein. Ach quatsch, ich bin doch ein Mensch.“
„Du... du bist...“
Auf einmal bekommt das Wesen am Feuer ganz glänzende Augen.
„Du bist... der Mensch? Ich bin dem wahrhaftigen Menschen begegnet?“
Ein zwischen Andacht und Unglaube changierender Ausdruck macht sich auf seinem Gesicht breit. Er macht den Eindruck, als wolle er sich gleich vor Martin zu Boden werfen.
„Hör auf, mich so anzustarren. Ich bin nicht der Mensch. Nur einer. Einer von vielen Milliarden Menschen.“
„Es gibt mehr als einen Menschen?“
Der andere ist sichtlich schockiert.
„Natürlich gibt es mehr als einen von uns. Und die ganzen Dinge, die du über uns gesagt hast stimmen auch nicht. Von wegen Schöpfer eurer Welt und Vernichter ganzer Völker.“
Martin stutzt kurz und überlegt einen Moment.
„Naja, jedenfalls stimmt es nicht so, wie sich das bei dir anhört. Ein Mensch allein ist gar nichts. Er könnte keines dieser Wunder vollbringen, die du da aufgezählt hast. Dafür braucht es schon einen...“
Martin unterbricht sich erneut und sieht zu Boden. Aber sein Gegenüber hat ihn auch so verstanden.
„Einen Gott?“ vollendet er Martins Satz. „Wolltest du das sagen? Aber wir können diese Dinge ebenso wenig wie ihr. Warum sonst hätten wir einen Grund gehabt, euch dafür zu bewundern?“
„Und welchen Grund hätten wir dafür gehabt euch zu bewundern, wenn wir das alles gekonnt hätten?“
Der Gott schweigt.
Martin schweigt.
Schließlich ergreift der Gott das Wort.
„Und was jetzt? Hier sitzen wir nun, wir beiden letzten Gläubigen, kurz nach der Erkenntnis, dass sich unsere Völker seit Hunderttausenden von Jahren missverstanden und auf diesem Missverständnis ihr Leben aufgebaut haben. Was tut man, wenn man so etwas herausgefunden hat?“
Martin antwortet nicht. Schweigend sehen beide ins Feuer, Minute um Minute, bis es schließlich heruntergebrannt ist und nur noch einige Kohlen glimmen.
Plötzlich steht Martin auf. Sein neuer Bekannter hebt überrascht den Blick.
„Wo willst du hin?“
„Komm mit!“
Verständnislos mustert der Sitzende Gott den stehenden Menschen, der ihm eine Hand entgegenstreckt.
„Was soll das? Wohin willst du mit mir gehen?“
Martin lässt die Hand sinken und atmet tief durch. Dann beginnt er zu erklären.
„Ich bin mit den Menschen, mit dem Leben unter ihnen unzufrieden. Schon lange habe ich das Gefühl, da müsse doch mehr sein. Mehr zu entdecken, zu erleben. Auch du bist enttäuscht von deinem Volk. Du magst das Leben mit ihnen nicht mehr, fühlst dich ausgestoßen. Merkst du es nicht? Wir beide sitzen im selben Boot. Wir haben das gleiche Problem. Aber wir haben auch die Möglichkeit, es zu lösen.“
Der Gott horcht auf.
„Wie stellst du dir das vor? Die Götter lassen sich nicht von der Existenz des Menschen überzeugen. Jetzt, wo ich weiß, dass ihr gar kein übernatürliches Wesen seid, hat es ja auch keinen Sinn mehr.“
„Es geht ja auch gar nicht darum, irgendjemanden umzustimmen. Es geht darum, wie wir außerhalb der uns unangenehm gewordenen Gesellschaften leben können. Jetzt, da wir im jeweils anderen einen Gleichgesinnten gefunden haben, können wir das.“
Erneut reicht Martin dem Wesen am Boden die Hand.
„Lass uns gemeinsam losziehen und aus dem Leben machen, was daraus wird. Es wird auf jeden Fall besser sein als unser Dasein als ewige Außenseiter, allein in der Masse. Du könntest mir die Heimat der Götter zeigen und ich kann dich durch die Länder der Menschen führen. Wir sind zwei, die sich das Leben mit all seinen Geheimnissen nicht abnehmen lassen. Warum nicht gemeinsam unsere verbleibende Zeit lebenswerter machen, als sie es bisher ist?“
Die dargebotene Rechte.
Ein langer, abschätzender Blick.
Ein Handschlag.


Eine halbe Stunde später können späte Spaziergänger ein seltsames Pärchen einen Weg in der Nähe der Stadt entlangwandern sehen. Zwei Männer, so scheint es, die in ein fesselndes Gespräch vertieft sind. Auf den ersten Blick. Doch wer genauer hinschaut wird den Unterschied bemerken. Einen Unterschied so fein, dass er nicht genau zu bestimmen ist, aber doch so frappierend, dass keiner umhinkann, den beiden nachschauend verwirrt den Kopf zu schütteln, auch wenn auf Nachfrage keiner von ihnen sagen könnte, worüber eigentlich.

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