Wir
schreiben das Jahr 2507 und die Welt ist erklärt. Vollständig. So
jedenfalls lautet die offizielle Meinung der Wissenschaft und so
denken fast alle Menschen auf der Erde. Alle Rätsel sind gelöst,
alle Unsicherheiten beseitigt, alles Vage, jede Wahrscheinlichkeit
und Möglichkeit wurde ersetzt durch Gewissheit, harte Fakten,
Zahlen, auf die alle Existenz reduziert werden kann. Angst und
Hoffnung verbrüdern sich im Angesicht ihrer Vernichtung um dann
gemeinsam unterzugehen, aus der Welt getilgt durch das unzweifelhafte
Wissen, das nun ihren Platz einnimmt. Dabei weiß nicht einmal jeder.
Nicht jeder einzelne Mensch ist mit den komplizierten Berechnungen
vertraut, die nötig sind, um die Welt als Ganzes logisch erscheinen
zu lassen, nur eine kleine Elite versteht die Zusammenhänge
wirklich. Das Gefühl der Resignation angesichts der Berechenbarkeit
jedes Vorgangs im Universum, die eine Vorstellung von so etwas wie
„freiem Willen“ absurd erscheinen lässt, ist jedoch auch bei
denen, die nicht wirklich wissen, allgegenwärtig. Ihnen genügt es,
zu wissen, dass andere wissen. Die Welt ist erklärt, egal ob
ich selbst sie verstehe. Ich weiß zwar nicht, warum was wie
passiert, aber jemand anderes weiß es ganz genau. Ich komme mir vor,
wie ein Wesen mit freiem Willen, aber dieser Jemand könnte jede
einzelne meiner Aktionen genau voraussagen, weil ich in den aktuellen
Umständen gar keine andere Möglichkeit habe, als mich so zu
entscheiden. Gefangen sowohl in der Welt als auch in mir selbst, so
versteht sich der Großteil der Menschheit. Jede Spontaneität ist
verschwunden, und damit jede Lebensfreude. Ein erklärter Mensch ist
kein guter Mensch. Jedenfalls nicht gut für sich selbst.
In
einer Kleinstadt in Mitteldeutschland sitzt auf einer Parkbank die
einzige Ausnahme. Martin will diese Welt nicht akzeptieren. Er
weigert sich, die Errechenbarkeit des Menschen anzuerkennen, will
nicht glauben, dass sich die Bedeutung eines Menschen in einer
mathematischen Formel erschöpft. Martin will mehr sein, mehr in
anderen sehen. Er glaubt an etwas Unerklärliches. Irgendwo, da ist
er sich sicher, gibt es etwas, das nicht berechnet werden kann,
etwas, dass sich den Formeln der Mathematiker entzieht. Martin glaubt
nicht an einen Gott. Dafür denkt er sehr viel über ihn nach.
Darüber, ob Gott nicht einfach nur ein Wort ist, für etwas
Unerklärliches. Nicht für etwas Bestimmtes, sondern für das
Unerklärliche an sich. Für das, was er sucht?
Martin
geht gerne spazieren. Er fühlt sich nicht wohl mit seinen
Mitmenschen, spürt, dass ihre Kapitulation vor der behaupteten Logik
ihrer Leben ihm die Freude nimmt. Daher sucht er sich Orte, an denen
er allein sein kann und beneidet die Tiere, die er in der Natur
beobachtet, weil sie keine Gedanken an die Erklärbarkeit ihrer Leben
verschwenden.
Eines
Tages hat Martin einen seiner Spaziergänge besonders weit
ausgedehnt. Er ist erst auf kleinen Pfaden immer weiter in den Wald
hinein gegangen, hat dann aber begonnen, einfach quer durchs
Unterholz zu laufen. Schließlich, es wird bereits dunkel und Martin
hat mit Hilfe seines Kompasses die Richtung des Städtchens
eingeschlagen, kommt er an einen Hügel, auf dessen Kuppe er eine
Lichtung erspäht. Ein Feuer scheint dort zu brennen und Martin, halb
neugierig auf denjenigen, der dort oben tatsächlich etwas so
unlogischem wie einer Freizeitbeschäftigung nachzugehen scheint und
halb angezogen von dem zu erwartenden großartigen Blick auf seine
erleuchtete Heimatstadt, macht sich an den Aufstieg.
Zehn
Minuten später biegt Martin die letzten Büsche beiseite, die ihn
noch von der Lichtung auf der Hügelkuppe trennen. Neugierig lugt er
zwischen den Zweigen hervor.
Auf
der Lichtung sitzt ein Mann mittleren Alters und starrt in die
Flammen. Er hat einen Stoppelbart, trägt eine Brille und das kurze
Haar hat sich bereits von weiten Teilen seines Kopfes zurückgezogen.
Er sieht nachdenklich aus, wie er da so sitzt. Nachdenklich und
unheimlich traurig. Spontan empfindet Martin Mitleid mit ihm, ist
aber gleichzeitig verwirrt. Etwas stimmt nicht mit diesem Mann. Es
ist nichts sichtbares, soviel ist klar. Eher ein Gefühl... Martin
kann es sich nicht erklären, und das fasziniert ihn. Dieser Mann
scheint ihm nicht so stumpfsinnig und berechenbar, wie der Rest der
Menschen. Was ist anders an ihm?
Schließlich
hält Martin es nicht mehr aus. Er tritt aus seinem Versteck und ist
mit wenigen Schritten am Feuer. Der Lagernde starrt weiterhin in die
Flammen. Martin räuspert sich. Keine Reaktion. Auch das zweite,
etwas lautere Räuspern bringt nicht den gewünschten Effekt.
Schließlich versucht Martin es mit einem schüchternen Gruß.
„Ääh...
hallo...“
Endlich
hebt der andere seinen Blick, etwas überrascht aber nicht etwa
erschrocken, und schaut Martin in die Augen.
„Oh,
guten Abend. Verzeih, ich war in Gedanken versunken. Bist du schon
lange hier?“
„Ich...
nein, das nicht, ich wollte nur... was ist los?“
Der
Mann am Feuer hat plötzlich die Augen zusammengekniffen und mustert
Martin nun misstrauisch. Bei dem plötzlichen Ausruf des
Neuankömmlings setzt er allerdings sofort wieder seine alte,
freundliche aber traurige Miene auf.
„Nichts
nichts. Ich... hatte dich nur verwechselt. Ein kleiner Streich, den
mir der Widerschein der Flammen auf deinem Gesicht gespielt hat. Setz
dich doch.“
Martin
wirft dem Fremden noch einen argwöhnischen Blick zu, leistet seiner
Aufforderung jedoch Folge.
„Nun,“
lässt sich erneut der Mann am Feuer vernehmen, „was führt dich
hierher? Woher kommst du überhaupt? Ich glaube, ich habe dich
tatsächlich noch nie gesehen. Zumindest nicht, soweit ich
zurückdenken kann, und das sind ja immerhin ein paar tausend Jahre.“
„Ein
paar... Was?!?“
„Nun
komm schon. Tu nicht so, als wärst du überrascht. Ich bin nicht
unbedingt der älteste Gott.“
Martin
erstarrt.
„Du
bist... du behauptest, dass du Gott bist?“
„Ich
bin nicht 'Gott'. Ich bin nur ein Gott, und... Aah!“ Die Augen des
Mannes glänzen. „Du bist also keiner! Ich wusste doch gleich, dass
irgendetwas an dir komisch ist.“
„An
mir ist etwas komisch? Da wo ich herkomme ist es nicht im geringsten
komisch, keinGott zu sein. Bei uns gibt es keine Götter. Die Leute
glauben auch längst nicht mehr daran. Ich bin der einzige...“
Martin
verstummt.
„Der
einzige...?“ forscht der Gott nach. Martin seufzt.
„Der
einzige, der noch an so etwas wie einen Gott glaubt. Zumindest so
ähnlich. Ich weiß nicht genau... Ist schwierig zu erklären.“
Das
behauptete höhere Wesen ihm gegenüber bekommt ganz große Augen.
„An
einen Gott glauben? Aber... an Götter glaubt man doch nicht. Wie
meinst du das? So eine Art... Religion?“
Jetzt
ist Martin vollkommen durcheinander. Hier sitzt ihm jemand gegenüber,
der behauptet, ein Gott zu sein, aber nicht die geringste Ahnung zu
haben scheint, was ein Gott überhaupt ist.
„Natürlich
betet man Götter an. Schon immer. Das heißt, heute nicht mehr so
sehr, aber früher... Das Wort 'Gott' steht jedenfalls immer noch für
eine höhere Daseinsform, der man huldigt und... ach, ich weiß auch
nicht, ich habe nur in alten Büchern davon gelesen, heute kennt sich
da ja kaum noch einer aus, aber soviel wissen sie doch alle: Götter
betet man an. Woher kommst du, dass du das nicht weißt?“
Der
andere schüttelt den Kopf, birgt sein Gesicht einen Moment lang in
den Händen und wendet sich dann wieder an Martin.
„Wenn
du Götter für höhere Wesen hältst, kannst du mit dem Namen des
Ortes, von dem ich komme, sicher nichts anfangen. Dort leben nur
Götter. Alle, die du triffst, sind Götter und niemand würde
auf die Idee kommen, sie anzubeten. Wir beten zu einem anderen
Wesen.“ Er seufzt. „Zumindest war es einmal so. Aber
inzwischen... sind die meisten vom Glauben abgefallen. Früher haben
sie noch alle in Ehrfurcht zu ihm aufgeblickt, Odin und Zeus, JHWH
und Durga, alle Götter haben sich regelmäßig an ihn gewandt und
ihn um die verschiedensten Dinge gebeten. Manche behaupten sogar, sie
hätten mit ihm gesprochen, aber ihre Beschreibungen widersprechen
sich... vielleicht tritt er ja auch in verschiedenen Gestalten auf.
In der Zwischenzeit jedenfalls haben sie sich alle von ihm abgekehrt.
Er sei nicht logisch, sagen sie. Seitdem leben sie ihr streng
durchdachtes Leben, das mir so freudlos vorkommt... Ich fürchte, ich
bin der Einzige, der noch an ihn glaubt. Da hätten wir also etwas
gemeinsam.“
„Ich
dachte gleich, dass du wegen irgendetwas traurig bist... Als ich dich
hier am Feuer sah...“ Martin sieht den Gott mitleidig an. „Ich
habe auch auf den ersten Blick gesehen, dass du irgendwie anders bist
als wir. Aber dass du nun ein... wie auch immer, erzähl mir mehr von
eurem Glauben! Wie nennt ihr euren Go... ich meine, das höhere
Wesen, an das ihr glaubt?“
Der
Gott lächelt versonnen vor sich hin. Auch mit diesem
Gesichtsausdruck wirkt er nicht wirklich glücklich, sondern vielmehr
wie von einer tiefen Melancholie ergriffen.
„Wenn
du uns Götter schon für höhere Wesen hältst, muss dir der, an den
ich glaube, gewaltiger vorkommen, als du jemals zu träumen gewagt
hättest. Ein Wesen, dass Mauern und Paläste baut in einem Nichts an
Zeit. Das ganze Flüsse umleitet, Berge versetzt und Völker vergehen
lässt, wenn es ihm beliebt. Man sagt, es habe die Götter einst
geschaffen, jeden Einzelnen von ihnen, genau wie ihre Ländereien,
das Paradies, Wallhalla und wo sie alle wohnen. Na? Das ist wohl
etwas mehr, als das, was du von uns Göttern gewohnt bist...“
„Eigentlich
nicht“ meint Martin. „Das klingt ungefähr genauso wie das, was
in den alten Büchern über euch geschrieben steht. Aber jetzt
sag doch endlich. Wie heißt der, zu dem du betest?“
Da
beugt sich der Gott mit geheimnisvollem Gesichtsausdruck zu Martin
und flüstert ihm ins Ohr: „Unser Herr, der Schöpfer und
Beherrscher trägt den Namen – der Mensch.“
„WAS?!?“
„Was
ist los? Hast du schon von ihm gehört?“
„Ja.
Ich meine, nein. Ach quatsch, ich bin doch ein Mensch.“
„Du...
du bist...“
Auf
einmal bekommt das Wesen am Feuer ganz glänzende Augen.
„Du
bist... der Mensch? Ich bin dem wahrhaftigen Menschen begegnet?“
Ein
zwischen Andacht und Unglaube changierender Ausdruck macht sich auf
seinem Gesicht breit. Er macht den Eindruck, als wolle er sich gleich
vor Martin zu Boden werfen.
„Hör
auf, mich so anzustarren. Ich bin nicht der Mensch. Nur einer.
Einer von vielen Milliarden Menschen.“
„Es
gibt mehr als einen Menschen?“
Der
andere ist sichtlich schockiert.
„Natürlich
gibt es mehr als einen von uns. Und die ganzen Dinge, die du über
uns gesagt hast stimmen auch nicht. Von wegen Schöpfer eurer Welt
und Vernichter ganzer Völker.“
Martin
stutzt kurz und überlegt einen Moment.
„Naja,
jedenfalls stimmt es nicht so, wie sich das bei dir anhört. Ein
Mensch allein ist gar nichts. Er könnte keines dieser Wunder
vollbringen, die du da aufgezählt hast. Dafür braucht es schon
einen...“
Martin
unterbricht sich erneut und sieht zu Boden. Aber sein Gegenüber hat
ihn auch so verstanden.
„Einen
Gott?“ vollendet er Martins Satz. „Wolltest du das sagen? Aber
wir können diese Dinge ebenso wenig wie ihr. Warum sonst hätten wir
einen Grund gehabt, euch dafür zu bewundern?“
„Und
welchen Grund hätten wir dafür gehabt euch zu
bewundern, wenn wir das alles gekonnt hätten?“
Der
Gott schweigt.
Martin
schweigt.
Schließlich
ergreift der Gott das Wort.
„Und
was jetzt? Hier sitzen wir nun, wir beiden letzten Gläubigen, kurz
nach der Erkenntnis, dass sich unsere Völker seit Hunderttausenden
von Jahren missverstanden und auf diesem Missverständnis ihr Leben
aufgebaut haben. Was tut man, wenn man so etwas herausgefunden hat?“
Martin
antwortet nicht. Schweigend sehen beide ins Feuer, Minute um Minute,
bis es schließlich heruntergebrannt ist und nur noch einige Kohlen
glimmen.
Plötzlich
steht Martin auf. Sein neuer Bekannter hebt überrascht den Blick.
„Wo
willst du hin?“
„Komm
mit!“
Verständnislos
mustert der Sitzende Gott den stehenden Menschen, der ihm eine Hand
entgegenstreckt.
„Was
soll das? Wohin willst du mit mir gehen?“
Martin
lässt die Hand sinken und atmet tief durch. Dann beginnt er zu
erklären.
„Ich
bin mit den Menschen, mit dem Leben unter ihnen unzufrieden. Schon
lange habe ich das Gefühl, da müsse doch mehr sein. Mehr zu
entdecken, zu erleben. Auch du bist enttäuscht von deinem Volk. Du
magst das Leben mit ihnen nicht mehr, fühlst dich ausgestoßen.
Merkst du es nicht? Wir beide sitzen im selben Boot. Wir haben das
gleiche Problem. Aber wir haben auch die Möglichkeit, es zu lösen.“
Der
Gott horcht auf.
„Wie
stellst du dir das vor? Die Götter lassen sich nicht von der
Existenz des Menschen überzeugen. Jetzt, wo ich weiß, dass ihr gar
kein übernatürliches Wesen seid, hat es ja auch keinen Sinn mehr.“
„Es
geht ja auch gar nicht darum, irgendjemanden umzustimmen. Es geht
darum, wie wir außerhalb der uns unangenehm gewordenen
Gesellschaften leben können. Jetzt, da wir im jeweils anderen einen
Gleichgesinnten gefunden haben, können wir das.“
Erneut
reicht Martin dem Wesen am Boden die Hand.
„Lass
uns gemeinsam losziehen und aus dem Leben machen, was daraus wird. Es
wird auf jeden Fall besser sein als unser Dasein als ewige
Außenseiter, allein in der Masse. Du könntest mir die Heimat der
Götter zeigen und ich kann dich durch die Länder der Menschen
führen. Wir sind zwei, die sich das Leben mit all seinen
Geheimnissen nicht abnehmen lassen. Warum nicht gemeinsam unsere
verbleibende Zeit lebenswerter machen, als sie es bisher ist?“
Die
dargebotene Rechte.
Ein
langer, abschätzender Blick.
Ein
Handschlag.
Eine
halbe Stunde später können späte Spaziergänger ein seltsames
Pärchen einen Weg in der Nähe der Stadt entlangwandern sehen. Zwei
Männer, so scheint es, die in ein fesselndes Gespräch vertieft
sind. Auf den ersten Blick. Doch wer genauer hinschaut wird den
Unterschied bemerken. Einen Unterschied so fein, dass er nicht genau
zu bestimmen ist, aber doch so frappierend, dass keiner umhinkann,
den beiden nachschauend verwirrt den Kopf zu schütteln, auch wenn
auf Nachfrage keiner von ihnen sagen könnte, worüber eigentlich.
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