Der Drang wird immer
stärker. Lange halte ich es nicht mehr aus. Ich sitze in der
Vorlesung und versuche, das Bedürfnis zu unterdrücken. Sehe auf die
Uhr. Noch zehn Minuten. Nicht lang genug, um ein plötzliches
Verschwinden entschuldbar zu machen, ganz abgesehen davon, dass der
Dozent auf derlei Unterbrechungen überaus allergisch reagiert. Nicht
lang genug, aber im Moment kommt diese Zeit einer halben Ewigkeit
gleich. Also einer ganzen. Die Hälfte der Ewigkeit ist ewig. Ich
sehe nochmals auf die Uhr. Zwanzig Sekunden sind vergangen. Ich
verziehe das Gesicht. Ich brauche es jetzt gleich, auf der Stelle,
aber 580 lange Sekunden trennen mich noch von der Erlösung. Wenn ich
doch jetzt nur allein wäre... Oder wenigstens niemand mitbekommen
hätte, das ich direkt vor der Vorlesung schon...
Eigentlich machen es ja
alle hin und wieder, aber ich, ich bin krank. Wirklich, ich weiß,
dass es eine Krankheit ist, und diese Krankheit lässt eben jetzt den
inneren Druck immer stärker werden, viel öfter als jeder andere
verspüre ich in letzter Zeit das Verlangen, kann nichts dagegen tun,
will es aber auch niemandem verraten. Was sollen sie von mir denken?
Wird es Häme geben? Ekel? Mitleid? Doch ich will keine dieser drei
Reaktionen.
Der Dozent erzählt etwas
von Injektionen. Ich verstehe nicht mehr als dieses eine Wort:
Injektion. Das einspritzen einer Flüssigkeit... Warum muss er jetzt
davon reden? Habe ich es nicht schwer genug?
Ich sehe wieder auf die
Uhr. Immerhin, zwei Minuten sind seid dem letzten Mal vergangen. Das
heißt, es sind noch...
Ich beginne, die Sekunden
zu zählen. Viele sind es, viel zu viele. Außer dieser Erkenntnis
kommt bei meinem Zählversuch nicht viel heraus.
Ich riskiere einen
weiteren Blick auf die Uhr. Weitere anderthalb Minuten sind um. Macht
eine noch zu durchkämpfende Zeit von sechs Minuten. Natürlich nur,
wenn der Dozent nicht überzieht. Das wird er doch nicht ausgerechnet
heute...? Ich schaue auf die Leinwand. Nirgendwo ein Hinweis darauf,
wie viele Folien noch fehlen, bis seine Präsentation endlich ein
Ende findet. Wie lange wird er noch reden? Ein Blick auf den Dozenten
verschafft mir keine Klarheit.
Ich sehe wieder auf die
Uhr. Die Hälfte ist geschafft. Die Hälfte... Die alte Frage nach
halb voll oder halb leer fällt mir wieder ein... Wie soll ich diese
Tortur noch einmal so lange aushalten? Das Drängen in meinem Inneren
hat sich zu einem Rasen verwandelt, einem Sturm, der alles mitreißt.
Die kleine Hütte, in der sich meine Selbstbeherrschung versteckt,
zittert schon gewaltig. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Dach und
Wände sich dem Wind überantworten und sie, die Selbstbeherrschung,
so rückstandslos in alle Himmelsrichtungen verweht wird, dass
hinterher nicht einmal der Gedanke aufkommen könnte, es habe sie
einmal gegeben. Meine Fingernägel hinterlassen bereits lange Kratzer
auf den ihnen schutzlos ausgelieferten Unterarmen. Ich brauche es
jetzt! Keine Wartezeit mehr, bitte!
Ein weiterer Blick auf
die Uhr bestätigt mir, dass mein Zeitgefühl mich vollständig
verlassen hat. Etwas unter vier Minuten sind es noch. Ich hätte
schwören können, dass wir schon eine halbe Stunde über die Zeit
sind.
Wenn ich doch nur jetzt
gleich, ganz heimlich, genau hier an Ort und Stelle... Aber das geht
nun wirklich nicht. Wenn mich jemand sähe! Irgendwie würden sie es
mitbekommen, so viel ist sicher. Ich beginne, über Wege
nachzudenken, unbemerkt zur Erlösung zu kommen. Wenn ich nun den
Behälter und das sonstige Equipment einfach im Rucksack lassen
würde, so tun, als hätte ich unterm Tisch darin zu kramen, dann
nach vollbrachter Tat wieder auftauche, als sei nichts gewesen...
Nein, das ging nicht. Viel zu riskant! Ich musste weiter warten,
warten, warten...
„Der lässt sich heute
aber ganz schön Zeit“ flüstert mir mein Sitznachbar zu.
„Ja...“, stöhne ich
zwischen zusammengebissenen Zähnen zurück, „kaum auszuhalten.“
„Sag mal, stimmt was
nicht mit dir?“ Der andere mustert mich besorgt. Kurz flimmert vor
meinen Augen vorbei, was er gerade sehen muss. Ein bleicher junger
Mann, Schweißperlen auf der Stirn, die Hände verkrampft und die
Kiefer fest zusammengebissen, leichter Silberblick.
„Alles bestens“,
stoße ich kurzatmig hervor, „nur ein bisschen... unterzuckert.
Geht gleich wieder.“ Zum Beweis schenke ich ihm ein wahrlich
furchterregend ermutigendes Lächeln, eher ein Blecken der
zusammengebissenen Zähne, und warte, bis er sich kopfschüttelnd
wieder seinen Aufzeichnungen zuwendet.
Wieviel Zeit mag unser
Gespräch wohl gekostet haben? Ich überprüfe wieder die Uhr, und
stelle fest, dass sie kurz nach dem letzten Mal, dass ich
nachgeschaut habe, stehen geblieben ist. Ich könnte schreien! Keine
Sekunde länger halte ich es aus! Das etwas in mir, das ich nur
mühsam zurückhalte, dieses Geschöpf der Tiefe, das mich nun schon
so lange plagt und mir befiehlt, es doch endlich zu tun, es lässt
sich nicht mehr bändigen, es will heraus! Ich schnappe mir meine
Tasche und bin gerade im Begriff, aufzuspringen, als plötzlich
lautes Klopfen studentischer Knöchel auf Pressspan ertönt. Na
endlich! Ich drängele mich so schnell ich kann durch die Reihe,
renne die Stufen bis zur Tür hinauf und sprinte den Gang entlang. An
der Tür mit dem kleinen Männchen stoße ich mit einem Studenten
einer anderen Fachrichtung zusammen, der mir irgendetwas nachruft,
aber das ist mir egal. Ich betrete eine Kabine, finde kaum die Zeit,
den Riegel vorzuschieben, endlich, endlich allein. Die Qual hat ein
Ende! Die Erfüllung all meiner Wünsche, sie steht kurz bevor. Nein,
es löst keine Probleme, aber werden Probleme und ihre Lösungen im
Angesicht dieser grenzenlosen Wonnen nicht zweitrangig? Relevante
Körperpartien sind im Nullkommanichts freigelegt und endlich fließt
der Lebenssaft, macht sich unendliche Befreiung breit. Was für ein
Rausch, was für eine Ekstase, aber gleichzeitig: Wie entspannend und
rundum befriedigend. Nie war die Welt ein besserer Ort.
Fünf Minuten später
verlasse ich die Kabine, beschwingt und mit Lust, ein kleines Lied zu
pfeifen. Die Erleichterung ist fast vollkommen, nur leicht von dem
Wissen getrübt, dass ich in spätestens einer Stunde wieder das
gleiche Bedürfnis haben werde. Ich seufze. Wieviel einfacher wird
das Leben sein, wenn ich wieder gesund und dazu in der Lage bin, eine
ganze Vorlesung durchzuhalten, ohne zwischendurch Wasser lassen zu
müssen.
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