MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Mittwoch, 7. Mai 2014

Entzug

Der Drang wird immer stärker. Lange halte ich es nicht mehr aus. Ich sitze in der Vorlesung und versuche, das Bedürfnis zu unterdrücken. Sehe auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Nicht lang genug, um ein plötzliches Verschwinden entschuldbar zu machen, ganz abgesehen davon, dass der Dozent auf derlei Unterbrechungen überaus allergisch reagiert. Nicht lang genug, aber im Moment kommt diese Zeit einer halben Ewigkeit gleich. Also einer ganzen. Die Hälfte der Ewigkeit ist ewig. Ich sehe nochmals auf die Uhr. Zwanzig Sekunden sind vergangen. Ich verziehe das Gesicht. Ich brauche es jetzt gleich, auf der Stelle, aber 580 lange Sekunden trennen mich noch von der Erlösung. Wenn ich doch jetzt nur allein wäre... Oder wenigstens niemand mitbekommen hätte, das ich direkt vor der Vorlesung schon...
Eigentlich machen es ja alle hin und wieder, aber ich, ich bin krank. Wirklich, ich weiß, dass es eine Krankheit ist, und diese Krankheit lässt eben jetzt den inneren Druck immer stärker werden, viel öfter als jeder andere verspüre ich in letzter Zeit das Verlangen, kann nichts dagegen tun, will es aber auch niemandem verraten. Was sollen sie von mir denken? Wird es Häme geben? Ekel? Mitleid? Doch ich will keine dieser drei Reaktionen.
Der Dozent erzählt etwas von Injektionen. Ich verstehe nicht mehr als dieses eine Wort: Injektion. Das einspritzen einer Flüssigkeit... Warum muss er jetzt davon reden? Habe ich es nicht schwer genug?
Ich sehe wieder auf die Uhr. Immerhin, zwei Minuten sind seid dem letzten Mal vergangen. Das heißt, es sind noch...
Ich beginne, die Sekunden zu zählen. Viele sind es, viel zu viele. Außer dieser Erkenntnis kommt bei meinem Zählversuch nicht viel heraus.
Ich riskiere einen weiteren Blick auf die Uhr. Weitere anderthalb Minuten sind um. Macht eine noch zu durchkämpfende Zeit von sechs Minuten. Natürlich nur, wenn der Dozent nicht überzieht. Das wird er doch nicht ausgerechnet heute...? Ich schaue auf die Leinwand. Nirgendwo ein Hinweis darauf, wie viele Folien noch fehlen, bis seine Präsentation endlich ein Ende findet. Wie lange wird er noch reden? Ein Blick auf den Dozenten verschafft mir keine Klarheit.
Ich sehe wieder auf die Uhr. Die Hälfte ist geschafft. Die Hälfte... Die alte Frage nach halb voll oder halb leer fällt mir wieder ein... Wie soll ich diese Tortur noch einmal so lange aushalten? Das Drängen in meinem Inneren hat sich zu einem Rasen verwandelt, einem Sturm, der alles mitreißt. Die kleine Hütte, in der sich meine Selbstbeherrschung versteckt, zittert schon gewaltig. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Dach und Wände sich dem Wind überantworten und sie, die Selbstbeherrschung, so rückstandslos in alle Himmelsrichtungen verweht wird, dass hinterher nicht einmal der Gedanke aufkommen könnte, es habe sie einmal gegeben. Meine Fingernägel hinterlassen bereits lange Kratzer auf den ihnen schutzlos ausgelieferten Unterarmen. Ich brauche es jetzt! Keine Wartezeit mehr, bitte!
Ein weiterer Blick auf die Uhr bestätigt mir, dass mein Zeitgefühl mich vollständig verlassen hat. Etwas unter vier Minuten sind es noch. Ich hätte schwören können, dass wir schon eine halbe Stunde über die Zeit sind.
Wenn ich doch nur jetzt gleich, ganz heimlich, genau hier an Ort und Stelle... Aber das geht nun wirklich nicht. Wenn mich jemand sähe! Irgendwie würden sie es mitbekommen, so viel ist sicher. Ich beginne, über Wege nachzudenken, unbemerkt zur Erlösung zu kommen. Wenn ich nun den Behälter und das sonstige Equipment einfach im Rucksack lassen würde, so tun, als hätte ich unterm Tisch darin zu kramen, dann nach vollbrachter Tat wieder auftauche, als sei nichts gewesen... Nein, das ging nicht. Viel zu riskant! Ich musste weiter warten, warten, warten...
„Der lässt sich heute aber ganz schön Zeit“ flüstert mir mein Sitznachbar zu.
„Ja...“, stöhne ich zwischen zusammengebissenen Zähnen zurück, „kaum auszuhalten.“
„Sag mal, stimmt was nicht mit dir?“ Der andere mustert mich besorgt. Kurz flimmert vor meinen Augen vorbei, was er gerade sehen muss. Ein bleicher junger Mann, Schweißperlen auf der Stirn, die Hände verkrampft und die Kiefer fest zusammengebissen, leichter Silberblick.
„Alles bestens“, stoße ich kurzatmig hervor, „nur ein bisschen... unterzuckert. Geht gleich wieder.“ Zum Beweis schenke ich ihm ein wahrlich furchterregend ermutigendes Lächeln, eher ein Blecken der zusammengebissenen Zähne, und warte, bis er sich kopfschüttelnd wieder seinen Aufzeichnungen zuwendet.
Wieviel Zeit mag unser Gespräch wohl gekostet haben? Ich überprüfe wieder die Uhr, und stelle fest, dass sie kurz nach dem letzten Mal, dass ich nachgeschaut habe, stehen geblieben ist. Ich könnte schreien! Keine Sekunde länger halte ich es aus! Das etwas in mir, das ich nur mühsam zurückhalte, dieses Geschöpf der Tiefe, das mich nun schon so lange plagt und mir befiehlt, es doch endlich zu tun, es lässt sich nicht mehr bändigen, es will heraus! Ich schnappe mir meine Tasche und bin gerade im Begriff, aufzuspringen, als plötzlich lautes Klopfen studentischer Knöchel auf Pressspan ertönt. Na endlich! Ich drängele mich so schnell ich kann durch die Reihe, renne die Stufen bis zur Tür hinauf und sprinte den Gang entlang. An der Tür mit dem kleinen Männchen stoße ich mit einem Studenten einer anderen Fachrichtung zusammen, der mir irgendetwas nachruft, aber das ist mir egal. Ich betrete eine Kabine, finde kaum die Zeit, den Riegel vorzuschieben, endlich, endlich allein. Die Qual hat ein Ende! Die Erfüllung all meiner Wünsche, sie steht kurz bevor. Nein, es löst keine Probleme, aber werden Probleme und ihre Lösungen im Angesicht dieser grenzenlosen Wonnen nicht zweitrangig? Relevante Körperpartien sind im Nullkommanichts freigelegt und endlich fließt der Lebenssaft, macht sich unendliche Befreiung breit. Was für ein Rausch, was für eine Ekstase, aber gleichzeitig: Wie entspannend und rundum befriedigend. Nie war die Welt ein besserer Ort.


Fünf Minuten später verlasse ich die Kabine, beschwingt und mit Lust, ein kleines Lied zu pfeifen. Die Erleichterung ist fast vollkommen, nur leicht von dem Wissen getrübt, dass ich in spätestens einer Stunde wieder das gleiche Bedürfnis haben werde. Ich seufze. Wieviel einfacher wird das Leben sein, wenn ich wieder gesund und dazu in der Lage bin, eine ganze Vorlesung durchzuhalten, ohne zwischendurch Wasser lassen zu müssen.

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