MVJstories

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Montag, 11. Februar 2013

Lebensplanung


von Sir John

„Ich komme vom Amt für individuelle Lebensplanung und habe in einer wichtigen Angelegenheit mit Ihnen zu reden. Dürfte ich bitte eintreten?“
„Ja, natürlich.“
Leicht verwirrt mache ich der ganz in grau gekleideten Dame Platz und folge ihr dann ins Wohnzimmer. „Setzen Sie sich.“
„Danke.“
Sie lässt sich auf einem meiner Wohnzimmersessel nieder und ich lasse mich in den ihr gegenüber fallen. Bei näherer Betrachtung fällt mir auf, dass die schätzungsweise 40-jährige Frau nicht nur grau gekleidet ist. Auch der Gesamteindruck dieser Person wirkt irgendwie grau, so eintönig und trist. Das Gesicht ist nicht hässlich, sondern vielmehr nichtssagend, so als würde sie alles, was sie sieht nur beiläufig registrieren und nichts davon wirklich wahrnehmen oder ihm Beachtung schenken. Ich versuche, ihr in die Augen zu sehen, aber ihr Blick ist auf einen Aktenstapel gerichtet, den sie inzwischen hervorgezogen hat. Endlich, den Blick immer noch auf den Akten, beginnt sie zu reden.
„Das Amt für individuelle Lebensplanung hat es sich zur Aufgabe gemacht, jedem Bürger der Bundesrepublik Deutschland einen geordneten Lebensweg zu ermöglichen, um individuelles Glück zu erreichen, zu fördern und nach wirtschaftlich sinnvollen Maßstäben zu verteilen. Zu diesem Zweck führen wir zur Zeit eine große Überprüfung der Lebenswege der volljährigen Bevölkerung der Bundesrepublik durch. Ich bin mit ihrem Fall betraut worden und bin bei meiner Arbeit auf einige Ungereimtheiten gestoßen.“
„Bahnhof. Koffer klauen.“ ist alles, was ich verstehe. Hat sie jetzt gesagt, warum sie hier ist, oder hat sie das nicht?
„Wenn meine Unterlagen stimmen, sind Sie hier in der Stadt zur Grundschule gegangen, und zwar von 1988 bis 1992?“
„Ja, das stimmt“
„Sie haben am Ende ihrer Schulzeit von ihren Lehrern die Empfehlung für die Fortsetzung ihrer schulischen Laufbahn an einem Gymnasium erhalten?“
Ich bestätige auch dies.
„Im Rahmen meiner Verpflichtungen als ihre persönliche Lebensplanerin habe ich die Stationen ihrer schulischen Laufbahn überprüft. Bei einer Rücksprache mit der Leiterin ihrer ehemaligen Grundschule stellte sich heraus, dass diese Empfehlung auf einem Fehler beruht. Man hat nachträglich festgestellt, dass sie mit einem anderen Kind verwechselt wurden. Ihre schulischen Leistungen im Alter von sechs bis zehn Jahren rechtfertigen keinen Besuch einer höheren Schule.“
Ich stutze. „Aber ich habe mein Abitur doch bestanden. Wen interessiert dann noch die Empfehlung der Grundschule?“
„Das sehen Sie falsch. Sie können das Abitur nicht bestanden haben. Laut Aussagen ihrer staatlich geprüften Lehrkräfte in der Grundschulzeit waren Sie dazu nicht in der Lage. Ihre Zeit am Gymnasium wurde für ungültig erklärt, selbstverständlich inklusive aller daraus resultierenden und darauf aufbauenden sowie der damit in Verbindung stehenden Erfolge.“
Ich bin fassungslos. „Wollen Sie damit sagen, mir wird mein Abitur aberkannt?“
Die Dame vom Amt für weißnichwas schüttelt den Kopf. „Sie verkennen die Situation. Ich habe mir erlaubt, einen dezidierten Lebenslauf für Sie zu erstellen. Hier ist nicht nur Ihr schulischer und beruflicher Werdegang verzeichnet, sondern auch Ihre persönliche Entwicklung. Ich werde Ihnen anhand dieses Dokuments die Folgen Ihrer Rückstufung erklären.“
Der Lebenslauf, den sie mir gezeigt hat, hat bestimmt tausend Seiten. Was sie jedoch jetzt hervorholt scheint eine Kurzfassung zu sein, ein Schnellhefter voller Papier. Sie tippt an eine Stelle im ersten Viertel des Hefters. „Sehen Sie, hier ist Ihr Übergang zum Gymnasium. Ab hier müssen wir die Dinge in Frage stellen. Zum Beispiel das hier. 'lernte seinen späteren guten Freund Bernd L. kennen'. Wir sind uns ja wohl einig, dass das ohne ihre Zugehörigkeit zu dieser Schule nicht passiert wäre.“
„Na und? Das kann ja wohl keiner rückgängig machen. Bernd und ich sind bis heute Freunde und das werden wir auch bleiben.“
„Ich fürchte, sie irren sich.“ Frau Grau rückt ihre Brille zurecht. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie überhaupt eine Sehhilfe trägt. „Herr L. War bis gestern Abend ihr Freund. Wir haben ihn bereits kontaktiert, er kennt Sie nun nicht mehr.“
Ich springe auf. „Das kann nicht sein! Das funktioniert so nicht!“ Fahrig fingere ich mein Handy hervor und suche im Speicher nach Bernds Nummer. „Ich hab sie doch eingespeichert... Ich hab ihn erst vorgestern angerufen...“
„Sie haben seine Nummer nicht.“ Lässt sich meine Besucherin vernehmen. „Er hat sie Ihnen nie gegeben und daher haben Sie sie auch nie eingespeichert. Im übrigen haben sie auch nie mit Herrn L. telefoniert, auch vorgestern nicht.“
Ich lasse mich wieder in den Sessel fallen. Das ist echt zu viel für mich. Das wäre für jeden zu viel.
„Es geht noch weiter“ fährt die graue Frau unbarmherzig fort. „Sie nahmen dann Gitarrenunterricht, zwei Jahre lang.“
„Das war außerhalb der Schule“, beeile ich mich, einzuwerfen. „Das hat nichts mit der ganzen Sache zu tun.“
„Ich fürchte schon.“ Lässt sich die Frau auf meinem Sofa mit unerträglicher Langeweile in der Stimme vernehmen, „Schließlich haben Sie auch den Jungen, der Sie auf die Idee gebracht hat, das Gitarrespiel zu erlernen, auf der Schule kennengelernt. Und es kommt noch ärger.“
Ich blicke auf ihre Hände, die sich einen Kugelschreiber gegriffen haben. Jeder Punkt, den sie mir aberkennt, wird säuberlich aus der Liste gestrichen. Schon sieht mein Lebenslauf gar nicht mehr so lang aus.
„In der Schule haben Sie oft Ärger mit ihren Mitschülern gehabt. Sie hatten nur wenig Freunde in der Schule, was dazu führte, dass Sie sich mehr und mehr an außerschulische Freunde banden. Nur dieser Nähe zu Freunden, die Sie noch aus ihrer frühen Kindheit kannten, ist es zu verdanken, dass eine dieser Freundinnen, Josephine K., Sie aufforderte, sie auf eine Jugendfreizeit nach Schweden zu begleiten. Und wen lernten Sie dort kennen?“
„Nein.“ Ich bin außer mir. „Nein, das können Sie nicht...“
„Wie ich aus Ihren Reaktionen schließe, haben Sie verstanden. Ich glaube kaum, dass Sie ihre langjährige feste Freundin Klara F. sonst auf anderem Wege kennengelernt hätten. Auch Frau F. hat gestern Abend Besuch von einem Kollegen bekommen.“
„Aber wir haben ein Kind!“ rief ich verzweifelt. „Sie können dem Kind doch nicht die Eltern wegnehmen! Das ist unmenschlich!“
„Oh, nein.“ Ich könnte schwören, dass sich inzwischen ein diabolisches Grinsen auf ihr ansonsten ausgesprochen emotionsarmes Gesicht gestohlen hat. „Sie haben Frau F. niemals kennengelernt, also haben Sie auch kein Kind mit ihr. Ihr Sohn wurde bereits gelöscht.“
„Sie haben ihn umgebracht?“
„Sie missverstehen mich schon wieder. Man kann niemanden umbringen, der niemals existiert hat.“
Ich breche zusammen. „Aber Sie können doch nicht einfach mein Leben ungeschehen machen“, versuche ich einen letzten, kraftlosen Einwand.
„Oh, doch, das geht.“ Die Graue ist schon wieder in ihre Akten versunken und erklärt dabei in abwesendem Tonfall:
„Wie Sie hier sehen können beziehen sich alle ihre Erlebnisse ab der fünften Klasse mehr oder weniger auf ihre Schule oder hängen davon ab. Da es für uns nicht von Belang ist, wie entfernt der Zusammenhang erscheint, können wir guten Gewissens die effizienteste Lösung wählen.“
Sie schaut mir in die Augen.
„Meine Aufgabe hier ist, ihnen mitzuteilen, dass das Amt für individuelle Lebensplanung beschlossen hat, ihr Leben ab Mitte des elften Lebensjahres für ungültig zu erklären. Die zuständigen Gutachter haben entschieden, dass diese Maßnahme nötig ist, um aufkommende Unordnung in ihrem Leben im Keim zu ersticken und Ihnen einen geregelten und sicheren Lebenslauf zu gewährleisten.“ Sie steht auf. „In den nächsten Tagen werden Sie eine Broschüre mit den Adressen der führenden Institutionen für Erwachsenenbildung erhalten. Ich möchte Ihnen dringend empfehlen, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen. Ihre Berufsmöglichkeiten hängen entscheidend von ihrem Bildungsstand ab. Außerdem erhalten Sie eine Liste ihrer Freunde aus Grundschulzeiten, zu denen Sie wieder Kontakt aufnehmen könnten. Sonst kennt Sie ja keiner mehr. Bis auf Ihre Eltern natürlich. Für die sollten Sie sich eine gute Erklärung dafür zurechtlegen, dass Sie im Alter von fast 31 Jahren im Leben immer noch nicht mehr erreicht haben, als mit zehn.“ Mit wenigen Schritten ist die Frau vom Amt an der Tür. „Auf Wiedersehen und viel Erfolg bei Ihrem zweiten Versuch.“ Sie öffnet die Tür. Den Fuß schon auf der Schwelle stockt sie auf einmal. „Ach ja, eh ich's vergesse, Sie sollten sich besser nach einer neuen Übernachtungsmöglichkeit umsehen. Ihr Vermieter hat auch Bescheid bekommen. Sie haben nie irgendeinen Mietvertrag unterzeichnet und sind daher auch selbstverständlich nie eingezogen. Die anderen Räume wurden während unseres Gesprächs bereits geleert. Um diesen kümmern wir uns, sobald sie diese Wohnung verlassen haben. Schönen Abend.“

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