MVJstories

MVJstories ist ein Blog, auf dem eine kleine Gruppe junger Schriftsteller Auszüge aus ihren Werken veröffentlicht. Feedback ist ausdrücklich erwünscht. Und nun viel Spaß beim lesen!

Samstag, 1. September 2012

Schöpfung

von Sir John

Jemand ist allein. Er sitzt allein auf einer Kugel, die sich durch den Raum bewegt. Gesellschaft hat er nie gekannt, nie gab es ein anderes Wesen außer ihm, aber dennoch spürt er, dass ihm etwas fehlt. Eine Leere herrscht in seinem Inneren und erfüllt ihn mit Unruhe. Jemand kennt das Gefühl noch nicht, aber wenn er mit jemandem von uns sprechen könnte, würde dieser ihm sagen, dass es sich um Langeweile handelt.
Ja, Jemandem ist langweilig. Schon seit langer Zeit ist er mit seiner Kugel unterwegs, solange er zurückdenken kann. Andererseits auch kurz, da ihm jeder Anhaltspunkt fehlt, um die Zeit zu messen. Keine Tage und Nächte, keine Tätigkeit, nach deren Fortschreiten man die Zeit hätte festlegen können, nur eine endlose Abfolge, nein, ein Strom der Existenz.

Jemand hat Zeit. Er verändert sich nicht, nichts verändert sich. Er kommt ins grübeln, denkt über alles mögliche nach, über alles jedenfalls, was aus seiner Position heraus erfassbar ist und erkennt schließlich, dass der einzige Weg aus seiner Langeweile ist, selbst etwas zu verändern. Für Jemanden, dem das Prinzip der Veränderung nicht bekannt ist, ist dies eine außergewöhnliche Erkenntnis.
Zwei Möglichkeiten fallen ihm ein, wie er etwas verändern könnte. Erschaffen oder zerstören. Die Entscheidung fällt ihm nicht schwer. Nicht, weil er das Zerstören als moralisch verwerflich betrachtete, Moral ist ihm noch fremd, noch hatte niemand die Möglichkeit, sie zu entwickeln, sondern aus dem einfachen Grund, dass das Erschaffen seiner Existenz für eine längere Zeit einen Inhalt zu geben verspricht. Nach Zerstörung seiner Kugel bliebe ihm nur noch die Zerstörung seiner selbst, mehr Material war nicht vorhanden. Erschaffen kann er ohne Grenzen.
So macht sich Jemand ans Erschaffen. Natürlich hat er nicht die geringste Vorstellung, wie das geht, aber er hat auch keine Vorstellung, was nicht geht. So formt er aus nichts etwas Neues ohne um die Unmöglichkeit dieses Vorgehens zu wissen.
Form und Eigenschaften seines Werks sind seiner Kugel nachempfunden. Eine andere Vorstellung von Existenz hat er ja auch noch nicht, da er sich selbst nicht als Ganzes wahrnehmen kann. Er baut also eine weitere Kugel und als er mit der fertig ist noch eine. Seine Zeit ist nun mit Beschäftigung erfüllt, sein Problem gelöst. Wenn ihm von der Eintönigkeit seiner Arbeit langweilig zu werden droht beschäftigt er sich eine Zeit lang damit, seine einzelnen Werke in Beziehung zueinander zu setzen, sie zu gruppieren und mit Gesetzen und Kräften auszustatten, die an ihnen ziehen.
Nun dauert es zwar lang, bis Jemand eine neue Kugel fertiggestellt hat, da jedoch die Zeit, die ihm dafür zur Verfügung steht unendlich ist, hat er mit der Zeit eine unüberschaubare Masse von Kugeln gefertigt, die den Raum um ihn herum bevölkern. Diese Kugeln beginnen, ein gewisses Eigenleben zu führen. Innerhalb der Gesetze, die Jemand ihnen gegeben hat, gruppieren sich die Kugeln. Sie kreisen umeinander, verbinden sich zu starren Formationen und bilden dadurch ganz neue Gebilde, die wiederum miteinander reagieren und verschmelzen und schließlich, nach einer sehr langen, wenn auch noch nicht in Jahren gemessenen Zeit, bilden sie im Großen ab, was im Kleinen schon existiert. Umeinander kreisende Kugeln.
Als Jemand dies sieht, ist er sehr beeindruckt. Die neuen Formen, die Ordnung im Chaos, all das fasziniert ihn ungemein. Er sieht, wie viel anderes man noch erschaffen kann, viel mehr als immer nur Kugeln. Wie viel anderes man aus seinen Kugeln schaffen kann.
Jemand fängt wieder an zu grübeln. Er hat all dies erfunden und gefügt, er war es, der die Idee hatte, aus der all dies entstand, die Idee, etwas zu bauen. Wenn nun aber all diese Dinge es geschafft hatten, ohne Plan und Ziel eine Ordnung, ein System zu bauen sollte es ihm doch möglich sein, viel großartigere Dinge in die Welt zu setzen. Nur: Was kann das sein? Es muss anders sein als alles, was er bisher geschaffen hat, anders als all das, was sich auch ohne seine Kontrolle zu bewegen versteht.
Versteht? Stellt das wirklich eine Form von Verstand dar? Oder hat der Zufall all dies geordnet? Was unterscheidet ihn selbst eigentlich von seinen Werken? Lange denkt er über diese Fragen nach. Schließlich kommt Jemand auf folgende Lösung. Der wichtigste Unterschied zwischen ihm und seinen Geschöpfen ist der, dass er selbst Dinge erschaffen kann. Seine Kugeln können sich innerhalb der von ihm geschaffenen Grenzen so bewegen, wie es der Zufall gebietet, aber sie handeln nicht aus eigenem Antrieb.
Das, so erkennt er, ist auch die Antwort auf seine Frage, was er noch bauen könne. Ein Wesen, dass wie er ist, das aus eigenem Antrieb handelt und Dinge erschafft. Welches Geschöpf könnte seinem Schöpfer mehr Ehre machen?
Sofort macht er sich ans Werk. Er beschließt, seine Lebewesen erheblich größer zu machen, als sich selbst. Die Tauglichkeit seiner Kugeln als Baumaterial hat er ja schon hinreichend bewundern dürfen, als sie sich von selbst zusammenfanden. Wenn er sie jedoch verwenden will bringt das automatisch mit sich, dass das Endprodukt größer sein muss als seine ersten Schöpfungen und damit als er selbst.
Zuerst denkt er sich komplizierte Systeme aus, mithilfe derer die Wesen ihr Überleben auf einer der großen Kugeln sichern sollen. Er entwickelt die Idee der Energiegewinnung durch Nahrungsaufnahme und passt ihre Körper, die er zunächst ohne feste Form lässt, den Bedingungen in einem Element auf einer der Riesenkugeln an, die ihm passend erscheint. Seine ersten Versuche sind in der Lage, sich zu bewegen, manche sogar zielgerichtet, aber das geht ihm noch zu langsam. Er experimentiert und experimentiert, entwirft immer neue Möglichkeiten, bis er auf die Idee kommt, seinen neusten Kreationen feste Körper mitzugeben, deren Körperteile bestimmte Zwecke erfüllen. Diese bewegen sich schon wesentlich zielstrebiger durch das Wasser, aber Jemand ist noch nicht zufrieden.
Auf seinen Prototypen aufbauend entwickelt Jemand immer größere, kompliziertere und intelligentere Wesen. Noch immer ist aber keins dabei, das selbst Anstalten gemacht hätte, kreativ zu werden. Viele der Wesen entwickeln sich auch von sich aus weiter, neue Arten entstehen, andere sterben aus. Mit dieser Wendung hat Jemand nicht gerechnet. Er merkt, dass er keine absolute Gewalt über die Entwicklung seines Experiments hat und das ist ihm unheimlich.
Eben diese Wendung bringt ihn allerdings seinem Ziel ein großes Stück näher. Einige Wesen haben nämlich mit der Zeit das Element verlassen, in das Jemand seine Kreationen bisher gesetzt hat, und erklimmen die bis daher unbewohnten Regionen. Sie atmen das Gasgemisch, das die Kugel umgibt. Jemand hat ihnen bisher nicht mehr als die durchschnittliche Aufmerksamkeit geschenkt, aber nun fallen sie ihm doch ins Auge.
Er hat nämlich eine Art entdeckt, die beginnt, Werkzeuge zu benutzen, eine vierhändige haarbewachsene Art. Sicher, Werkzeuge haben auch andere Landbewohner schon benutzt, auch Luftbewohner, wie Jemand sich erinnert, aber diese Tiere haben etwas besonderes an sich. Anders als irgendein Vogel haben sie nämlich Hände, mit denen sie zwei Dinge greifen und miteinander benutzen können. Sie beschäftigen sich miteinander, denken sich für Probleme Lösungsstrategien aus... Jemand ist ganz aus dem Häuschen. Sicher, er ist noch nicht am Ziel, aber hier gibt es einen Ansatzpunkt!
Zuerst einmal vertreibt er größere Mengen seiner auserwählten Spezies aus den Bäumen, in denen sie bis dahin hausten. Er bringt sie dazu, auf zwei ihrer vier Extremitäten einherzuschreiten, damit sie die anderen beiden für das Erschaffen frei haben, für das er sie ja entwickeln will. Dann teilt er sie in verschiedene Gruppen, die er in verschiedenen Gegenden der Erde, wie er die Riesenkugel nennt, ansiedelt.
Jetzt fängt er an, die verschiedenen Gruppen verschieden weiterzuentwickeln und ihnen dann Aufgaben zu stellen. Hitze, Kälte, Nahrungsmangel, Hindernisse, alles, was ihm so einfällt. Manche seiner Gruppen halten es länger durch, andere weniger lang, nach und nach sterben sie aus. Schließlich bleibt nur noch eine Art übrig und Jemand beschließt, mit dieser Art weiterzuarbeiten, da sie die kreativsten und schlausten sein müssen, wenn sie es als einzige bis hier geschafft haben. Vorerst betrachtet er seine Schöpfung jedoch noch etwas. Er will herausfinden, wie weit er schon gekommen ist.

Jemand ist enttäuscht. Er hat so große Hoffnungen in seine neue Art gesteckt, glaubte sich schon am Ziel seiner Träume, als er sah, wie sich die zweibeinigen Wesen immer neue Werkzeuge ausdachten, um sich das Leben zu erleichtern und schließlich anfingen, Gebäude zu errichten, aber diese Hoffnung muss er nun endgültig begraben.
Dabei hat er sich alle Mühe gegeben, diese Narren auf dem Weg in die falsche Richtung aufzuhalten. Mehrfach hatte er vor ihren Augen Dinge erschaffen, die sie glauben machten, er sei allmächtig (was ja auch irgendwie seine Berechtigung hatte), hatte Feuer entzündet, Wasser fallen lassen und ihnen immer wieder den richtigen, von ihm geplanten Weg gezeigt, doch die Menschen, wie sie sich selbst getauft hatten (wer gab ihnen das Recht dazu, sich ihren Namen selbst zu suchen?), waren unverbesserlich.
Nicht, dass sie nichts gebaut hätten. In der kurzen Zeit ihrer Existenz hatten sie die Erde mit zahllosen Zeugnissen ihrer Existenz überzogen und in so unvorstellbarer Geschwindigkeit Dinge errichtet, dass Jemandem, der ein gemächlicheres Arbeitstempo gewohnt war, fast schlecht davon wurde. Was ihre Produktivität betraf hätte Jemand also zufrieden sein können. Sein Problem war, dass sie all das mit ihrer Destruktivität ausglichen.
Die Menschen waren zwar voller Ideen, was sie noch bauen könnten, zerstörten aber mit jedem neuen Bauwerk ein altes. Manchmal waren es menschgemachte Gebäude, entbehrlich also, wenn es auch schade um die kreative Energie war, die einmal hineingesteckt worden war. Immer häufiger wurden aber inzwischen auch Jemandes Werke zerstört, seine Lebewesen ausgerottet, seine Schöpfung mit Füßen getreten.
Nein, das ist nicht die Spezies, die er erschaffen wollte. Ihm fällt aber auch keine Möglichkeit ein, die Menschen noch in seinem Sinne weiterzuentwickeln. Dazu ist es wahrscheinlich längst zu spät. Vielleicht war er aber auch von vornherein auf dem falschen Weg.
Jemand seufzt und wendet sich ab. Er hat noch so viele andere Kugeln, auf denen er einen neuen Versuch starten kann. Zeit genug hat er ja.
Zeit?
Jemand lacht. Er hat die Ewigkeit!

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