Von Mr. Big
Die
Kirchturmuhr schlägt gerade Zwölf und leitet das neues Jahr ein. Alles um mich
herum ist in Bewegung, die Menschenmassen im Stadtzentrum jubeln, feiern
frenetisch, tanzen, singen, umarmen sich. Und ich stehe mittendrin. Regungslos.
Meine Augen sind auf mein Handydisplay gerichtet.
Wieder
einmal weiß ich nicht, wie ich anfangen soll. Dabei will ich doch, ich will
inständig mit dir kommunizieren. Jederzeit, analog und virtuell. Und was
hindert mich? Ist es mein Stolz? Etwas blockiert meinen Verstand und hält ihn
unter einem Tuch verborgen; dann drückt dieses Gefühl meinen Kopf unter Wasser,
lässt mich kurz wieder auftauchen, um Mut zu atmen und befördert ihn dann
wieder in die kalte Nässe. Ein ewiges Waterboarding der Gedanken. Und alles dreht sich um die Frage: Schreibe ich dir oder nicht?
Ich
spüre, der Zeitpunkt ist gekommen.
Es
ist schon so lange her, dass ich dir geschrieben habe. So lange, dass ich den
Grund, warum ich damit aufhörte, nicht mehr kenne. Andauernd werde ich nach dir gefragt. Was du machst. Wie es dir
geht. Und ob wir uns noch regelmäßig sehen. Logisch, dass sie mich fragen, wir
waren ja auch mal beste Freunde. Und sind es eigentlich immer noch. Oder? Seelenverwandtschaft
ist doch ein Vertrag für die Ewigkeit. Und wenn nicht, dann habe ich zumindest
die Kündigung nicht erhalten. Es schmerzt, nicht zu wissen, was bei dir
passiert. Noch mehr schmerzt es, nicht erzählen zu können, was mit mir passiert
ist.
Ich
würde dir gerne berichten von meinem Lebenswandel, den vielen neuen Blickwinkeln,
von neuen Freunden und alten Feinden. Die Geschichten, die sich hinter dem
Horizont abspielen, und von einer schönen, neuen Welt handeln. Nur, willst du das
alles überhaupt hören?
Wie
soll ich es anders herausfinden, als dir zu schreiben? Dann werde ich erkennen,
ob du dich noch für mich interessierst oder ob all dein Interesse verflogen ist
wie eine Feder im Wind. Und doch gruselt es mich davor, diesen Schritt zu
machen. Denn wenn ich dir schreibe, dann gebe ich die Initiative aus der Hand. Ich
sende dir einen Freibrief ohne Antwortumschlag. Du kannst ihn lesen, musst aber
nicht. Du kannst antworten, musst aber nicht. Du kannst ihn vergessen und mich
gleich mit und doch will ich dir schreiben, muss
ich dir schreiben, damit du es nicht tust. Denn ich finde, mein Selbstwertgefühl
sei dahingestellt, ich bin immer noch wichtig in deinem Leben. Ich habe nur das
Gefühl, du hast es mit der Zeit vergessen.
Ich
habe mich verändert. Eine Menge ist in letzter Zeit passiert. Unglaublich viele
Gedanken schwirren durch meinen Kopf und müssen da raus. Früher warst du mein
eifrigster Zuhörer. Du warst das Ventil, das meinen Kreislauf vor dem Platzen
bewahrte. Gleichzeitig war ich dein Ratgeber in Lebensfragen. Wir waren eine
gute Symbiose. Nicht zweckgebunden, sondern verbunden im Herzen. Haben unsere
Herzen aufgehört, füreinander da zu sein? Ich gebe mich damit nicht zufrieden. Hiermit
mache ich mich, so wahr mir Gott helfe, an die Wiederbelebung, mit einer Herzdruckmassage
der Worte!
Doch
was möchte ich dir mitteilen?
Ich
möchte dir sagen, dass sich meine Welt verändert hat. Sie ist nun mit vielen
neuen Seelen bevölkert, die sich in die Gleichung meines Lebens einreihen. Ein
paar davon sind beständig, andere kurzweilig, manche ploppen nur ab und zu mal
auf und verschwinden dann wieder (Diese Leute nenne ich das Facebook –Syndrom).
All
diese Freunde haben ihre Vorzüge und Nachteile, vor allem bereichern sie mich.
Jeder bringt einen kleinen Beitrag zum Film meines Lebens. Über das Genre habe
ich mich noch nicht geeinigt, momentan schwankt es zwischen Comedy und
Thriller. Einerseits Comedy, weil ich gerade wie bedeppert herumstehe, mitten in
der größten Party des Jahres und krampfhaft versuche, dir ein paar Zeilen zu
schreiben. Und sieh, schon eine Seite ist ins Land gegangen und so wirklich
weitergekommen bin ich nicht.
Ich
finde aber auch die Idee gut, in einem Thriller zu leben. Alles ist immer so
spannungsgeladen. Du denkst, du weißt, wie es weitergeht, und schwupp, schon
kommt die unerwartete Wendung und du stehst da, verwirrter denn je. Kommt es
nur mir so vor oder steuere ich gerade auf so eine Wendung zu?
Aber
zurück zur Botschaft. Ich möchte dich natürlich nicht mit überflüssigem Palaver
belegen. Die Grenze zwischen eigenem Geltungsdrang
und dem innigen Bedürfnis zu kommunizieren ist immerhin fließend. Vielleicht
reichen am Anfang ein paar einfache Worte.
Also
nur das Wichtigste: Ich will dich wissen lassen, dass wir im Herzen doch gleich
geblieben sind, auch wenn wir seit einer Ewigkeit nicht mehr miteinander
gesprochen haben. So simpel, so tiefgreifend.
Doch
wie will ich dich das wissen lassen?
Vor
hundert Jahren hätte ich dir locker-flockig einen Brief geschrieben und per
Postkutsche verschickt. Ich stelle mir gerade vor wie ich da sitze und meine
Feder in das Tintenfass tauche. Wie die
Tinte gemütlich die Einkerbung hinunterläuft und ich ansetze, um die Worte mit
exakten, schwungvollen Bewegungen auf das Papier zu bringen.
Ach
ja, heutzutage sieht das etwas anders aus. Immer noch starre ich mein Handy an.
Das Eingabefeld für SMS-Nachrichten blickt mit unglaublicher Gleichgültigkeit
zurück. Um mich herum knallen Sektkorken. Ich kriege davon kaum etwas mit.
Im
Grunde genommen kommt es auf das Wie nicht an. Es kommt auf das Was an. Und auf
dich und mich.
Die
richtigen Worte zu finden…eigentlich müsste sich nach so langer Zeit da
allerhand zusammengestaut haben. Aber mein Stirnlappen ist wie leergefegt. Der
rechte Daumen schwebt über der Tastatur. Es ist ihm sichtlich unangenehm. Ich
dränge ihn, mit purer Willenskraft, zu schreiben. Komm schon, du Werkzeug, tue
deine Pflicht. Er tut sie nicht.
Warum
muss es so schwierig sein, geht denn nichts aus dem Bauch heraus? Ich verfluche
mich und meine Hemmungen. Ich ärgere mich so sehr, dass ich einfach die Augen
schließe und langsam ein- und ausatme. Ein- und ausatme. Nun denke ich nicht
mehr nach. Mein Daumen huscht über die Tasten. Ich lasse die Buchstaben einfach
fließen.
Nach
dreizehn Wörtern und drei Sätzen hab ich alles gesagt, was gesagt werden muss.
Es ist nicht unglaublich viel, aber es bringt es auf den Punkt.
Ich
bin du und du bist ich. Wir sind eins. Vergiss das nicht.
Ein
Klick auf „Senden“, schon ist es geschehen. Knapp über mir geht eine Rakete
hoch und lässt einen Funkenregen auf mich niederprasseln. Ich bleibe stehen. Wartend…und
hoffend.
Auf ein gutes neues Jahr.
Antwort:
AntwortenLöschenWenn alles nur Einbildung wäre, wäre es dann die Realität?
Sitzend, vor dem Scherbenhaufen der Zukunft, Wasser fließt unsichtbar in die Dunkelheit und doch ticken die Uhren weiter, als wär es ein ganz normaler Morgen. In vielen Nächten suchen Träume die Menschen auf und lassen sich nach ihrem vergehen nicht mehr der Fantasie des eigenen Geistes von der Realität fernhalten.
Eine Lüge, banal und im Dienste der Ruhe und Vertrautheit, trägt die Spannung des Abenteuers.
Doch was passiert, wenn Lügen einen Pakt mit der Nacht eingehen und Träume erobern? Wenn diese die Hand des Schreckens ergreifen und dir den Schlaf rauben?
Ein unbeobachteter Griff nach ungelesenen Seiten eines dicken Biografieromans, Ängste vor Enthüllungen des Ungesehenen und zarte Berührungen, die selbst Festungsmauern zum Einsturz bringen. Nächte, die oft in Flug vergehen, die Vertrauen schenkten und Liebe trugen, vereint um der einzig falschen Lüge zu rächen. Rache, die sich jeder Wehr zuwider setzt. Ein Kampf, der nach dem Stillstand der Zeit, auf Eis gelegt wird.
Ein Abenteuer, umschlossen von Albträumen, wird getragen durch ein Lügenmeer.
Die Gegenwart, die versucht die Risse der einzig nährenden Schüssel des Zusammenhalts aufzuhalten, zerfallend in kleine klirrende Einzelteile, deren Reparatur unmöglich scheint, und vor der Frage stehend:
„Sind es wirklich nur Fantasien oder trägt die dunkle Nacht mehr Geheimnisse in sich, als wir es ihr überhaupt zutrauen können?“
Es ist die Frage, die die Zeit mit sich trägt und die Ewigkeit, bestehend aus der Zukunft und Vergangenheit, unnahbar macht.