Als
Kramer starb trauerten Millionen. Menschen überall auf der Welt
legten eine Schweigeminute ein, Gedenkfeiern wurden gehalten und es
gab kaum einen Fernsehsender, der nicht mindestens eine Sondersendung
zu dem Thema brachte, voller Erinnerungen an das lange und
erfolgreiche Leben des Entschlafenen. Berühmtheiten jeder Art
fühlten sich berufen, Worte der Trauer und des Schmerzes, Worte der
Anerkennung und des Respekts, lobende, ja geradezu rühmende Worte
über den Dahingeschiedenen an die trauernden Massen zu richten, die
wiederum diejenigen, die die besten Worte fanden, mit Aufmerksamkeit,
zum Teil sogar Anhängerschaft belohnten.
Kramer
war zu Lebzeiten ein äußerst bekannter Autor gewesen. Er hatte
Bücher verfasst, die mit ebensoviel Witz wie Scharfsinn die
Verhältnisse auf der Welt thematisiert und nicht selten scharf
kritisiert hatten. Viele hatten ihn für seinen Mut bewundert, den
jeweils Herrschenden so ehrlich die Meinung zu sagen, andere hatten
seinen Sprachstil oder die Geschichten geliebt, die er in seinen
Büchern erzählt hatte. Auf der ganzen Welt dürfte es jedoch kaum
einen Ort gegeben haben, an dem dieser Mann nicht bekannt war.
Seinen
Tod erlebte Kramer wie das Aufwachen nach einem langen Schlaf. Eben
lag er noch in seinem Bett im Krankenhaus und atmete unregelmäßig
und stoßweise, da sah er auf einmal ein helles Licht. Plötzlich wurde sein Atem ganz leicht und frei. Er ging ein paar Schritte auf
das Licht zu, während er halb belustigt, halb beeindruckt darüber
nachdachte, wie klischeehaft dies alles doch war. Angst hatte er
keine. Er hatte den Tod schon lange erwartet gehabt und sich zu
Genüge darauf eingestellt. So war er, neben seinem Erstaunen über
das, was um ihn herum vorging, hauptsächlich neugierig. Kramer war
kein religiöser Mensch, doch er hatte Zeit seines Lebens damit
gerechnet, nach seinem Tod noch in irgendeiner Form weiterzubestehen,
und nun bot sich ihm endlich die Gelegenheit, herauszufinden auf
welche Art und Weise. Kramer registrierte, dass seine Umgebung sich
verändert hatte. Interessiert sah er sich um. Er befand sich nicht
mehr im Krankenhaus, ganz eindeutig nicht. Seine Umgebung war weiß
und neblig, dabei aber von einer enormen Helligkeit, die die Augen
jedoch nicht anstrengte. Beim Blick zur Seite bemerkte er, dass aus
dem weißen Nebel, der ihn umgab, langsam Formen zu wachsen schienen.
Wände bauten sich zu seiner Seite auf, und Kramer registrierte auch,
dass er nun auf einem Fußboden stand und nicht mehr einfach im Raum
hing. Schnell wandte er den Blick wieder nach vorne. Das helle Licht,
zu dem er unterwegs gewesen war, hatte sich ein Stück entfernt. Es
lag jetzt am Ende eines langen, vollkommen weißen Ganges, der sich
in Windesschnelle gebildet hatte.
Kramer
zuckte die Schultern und begann, den etwas krankenhausmäßig
wirkenden Flur zu durchschreiten.
Zahllose
Türen tauchten zu seiner Rechten und Linken auf. Kramer versuchte,
die Schilder an den einzelnen Zimmern zu lesen, aber er war zu
schnell unterwegs und konnte die Worte daher nicht entziffern. Er
versuchte, langsamer zu gehen, aber irgendetwas schien ihn zu
zwingen, sein straffes Tempo beizubehalten. Ein bisschen hilflos sah
er sich um, aber es war niemand da, der ihn hätte aufhalten können.
Schließlich hörte Kramer auf, sich auf die Dinge an seinen Seiten
zu konzentrieren und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem hellen
Licht am Ende des Ganges. Je näher er ihm kam, desto mehr kam ihm
das Aussehen der Lichtquelle bekannt vor. Schließlich stand er genau
davor.
Eine
Tür.
Eine
hellgraue Brandschutztür, schon etwas verbeult, aber offensichtlich
noch benutzbar. Im Grunde sah die Tür aus, wie sie aussehen musste.
Wenn man das starke Leuchten nicht beachtete, das sie ausstrahlte.
Beachtete man es aber doch, dann gab es auf einmal nichts mehr
gewöhnliches an dieser Tür. Sie schien voller Magie zu stecken,
eine Materie gewordene Einladung, endlich herauszufinden, was
dahinter war.
Kramer
zögerte kurz. Was sollte er tun? Einfach eintreten? Gab es eine
Möglichkeit, sich vorher anmelden zu lassen? Schade, dass es hier
keine anderen gab, nach denen er sich hätte richten können.
Schließlich
gab Kramer sich jedoch einen Ruck. Die Neugierde, die schon die ganze
Zeit über in ihm bohrte, gewann die Überhand. Als eine Art
Kompromiss ließ er dennoch ein dreimaliges lautes Klopfen hören.
Als niemand antwortete trat er endlich ein.
***
Kramer
fand sich in einem mittelgroßen Raum mit weißen Wänden wieder. Die
Tür, durch die er eben hereingekommen war, hatte direkt gegenüber –
in etwa vier Metern Entfernung – ein Gegenstück, das wohl in den
nächsten Raum führte.
Im
Raum standen ein paar Stühle und ein kleines Tischchen, auf dem
einige zerfledderte Zeitschriften lagen. Das ganze Zimmer wurde von
einem sehr hellen, aber freundlichen, unaufdringlichen Licht erhellt,
das in jedem Winkel gleich stark zu scheinen schien. Kramer hob
seinen Blick zur Decke, um herauszufinden, welche ungewöhnliche
Lichtquelle für eine derartige Beleuchtung verantwortlich sein
konnte, aber er konnte keine Decke ausmachen. Auch Wände, so fiel
ihm jetzt auf, waren keine zu erkennen. Die einzige erkennbare
Begrenzung des Raums waren die beiden Türen. Zu den Seiten hingegen
schien das Zimmer sich noch nicht für feste Maße entschieden zu
haben. Es war nicht etwa offen, so dass man hinaussehen konnte.
Vielmehr hatte Kramer das Gefühl, die endgültige Größe des Areals
stünde noch nicht fest. Der Raum könnte sich noch kilometerweit
fortsetzen. Genauso gut könnte er aber nach vier oder fünf Metern
an einer Wand enden.
Kramer
zuckte die Schultern. Das alles war zwar sehr beeindruckend, aber
viel schien es hier nicht zu sehen zu geben. Viel wichtiger schien
ihm die Frage, wohin ihn die nächste Tür bringen würde.
Entschlossenen Schritts ging er darauf zu und drückte die Klinke
herunter.
Verschlossen.
Er
rüttelte daran, als erwarte er, das ganze werde sich letztlich als
Missverständnis herausstellen, ein kleiner Fehler, der innerhalb der
nächsten Minute von einem Bediensteten mit entschuldigendem Lächeln
behoben werden würde. Dieser Ort hier lud nicht unbedingt zum
Verweilen ein, auch wenn er nicht direkt lebensfeindlich schien. Es
musste doch einen Weg geben, weiterzukommen?
„Sie
rufen dich auf, wenn du dran bist.“
Kramer
zuckte zusammen und drehte sich um. Direkt neben der Eingangstür saß
jemand auf einem Stuhl. Er musste ihn beim Hereinkommen übersehen
haben, war wohl zu beschäftigt gewesen, den Eindruck der Leere an
diesem Ort zu verarbeiten.
Der
Mann dort auf dem Stuhl schien etwa siebzig zu sein. Er trug ein
graues Jacket, eine große Brille und hatte das Haar gescheitelt. Ein
bisschen erinnerte er Kramer an einen stark gealterten Streber aus
Schulzeiten. Vielleicht Universitätsprofessor.
„Keine
Chance da weiterzukommen“, ließ sich der Fremde wieder vernehmen.
„Nicht bevor du dran bist. Hier gibt es keine Ausnahmen, egal wer
du bist.“
Kramer
war empört.
„Egal
wer ich bin? Ich bitte Sie. Erzählen Sie mir nicht, dass sie nicht
wissen, wen Sie vor sich haben!“
Der
andere musterte ihn von Kopf bis Fuß, runzelte die Stirn und
schüttelte den Kopf.
„Ganz
ehrlich, keinen Schimmer.“
„Aber
mich kennt man auf der ganzen Welt! Jeder ließt meine Bücher!
Kommen Sie, der Name Kramer sollte Ihnen ein Begriff sein.“
Der
andere Grinste.
„Soweit
ich mich erinnere ist dieser Name nicht eben der ungewöhnlichste.
Ich hatte zum Beispiel einen Nachbarn, der so hieß.“
„Aber
der Schriftsteller Kramer... ich bin berühmt, wissen Sie!“
„Jetzt
vielleicht, aber zu meiner Zeit... Hier in der Gegend wirst du kaum
einen finden, der mit deinem Namen was anfangen kann. Und berühmt...
das sind wir alle. Darum macht hier nun wirklich keiner mehr einen
Aufriss.“
Kramer
sah sich um.
„Alle?
Wer alle? Soviel ich sehe sind wir allein.“
„Die
anderen haben sich etwas weiter in den Raum zurückgezogen. Sie
wollen nicht jedem Neuankömmling das Gleiche erzählen müssen,
irgendwann hat man das einfach satt. Ich bin auch nur so nahe am
Eingang, weil ich die Zeitschriften noch nicht ganz auswendig kann.
Ich bin ja auch noch nicht so lange hier.“
„Wie
lange ist 'nicht so lange'?“
Der
Andere überlegte.
„Lass
mich rechnen... wir haben 2014, richtig? Dann sind es jetzt... genau
18 Jahre.“
Kramer
schrak zusammen. 18 Jahre? So lange wartete dieser Mann schon darauf,
durch die Tür gerufen zu werden?
„Das
kommt mir aber ausgesprochen lang vor. Müssen alle so lange warten?“
„Es
ist selten, dass jemand mit weniger davon kommt. Manche von den
anderen sind schon deutlich länger hier.“
Kramer
schüttelte verwirrt den Kopf.
„Wer
sind das, die anderen?“
„Andere
Künstler. Wenn ein Künstler stirbt, kommt er hierher. Da müssen
wir alle durch.“
„Das
heißt, Sie sind auch ein...“
„...Künstler,
ja. Und ein toter noch dazu.“
Kramer
war erleichtert, dass dieser Umstand sich von allein geklärt hatte,
da es ihm sehr pietätlos vorgekommen wäre, jemanden zu fragen, ob
er tot oder lebendig sei. Um seine Unsicherheit zu überspielen
fragte er schnell weiter.
„Und
wie ist Ihr Name?“
Der
andere erhob sich und reichte ihm die Hand.
„Max
Bill, zu Diensten. Maler, Architekt und Designer aus der schönen
Schweiz. Außerdem ein ganz gewöhnlicher Mensch und mit dir im
gleichen Boot, ich schlage also ein Vertrauen förderndes 'Du' vor.“
„Max
Bill?“ sagte Kramer unsicher und schüttelte die ihm dargebotene
Rechte. „Ich muss ehrlich sagen, dass dieses Mal ich auf dem
Schlauch stehe. Müsste ich von Ihnen... von dir gehört haben?“
Max
Bill winkte ab.
„Nicht
der Rede wert. Nicht jeder Künstler ist so im Bewusstsein der
Allgemeinheit verhaftet wie ein Picasso oder van Gogh. Um ehrlich zu
sein: Es macht mich froh, zu sehen, dass man sich meiner auf der Erde
nicht mehr allzugut erinnert. Nicht alle haben so ein Glück.“
„Wie
meinst du das?“
Kramer
war noch verwirrter als zuvor. Sein neuer Mentor im Bereich des toten
Künstlerdaseins bedeutete ihm mit einem kleinen Wink, ihm zu folgen,
und verfiel in einen leichten Schlenderschritt.
„Ich
glaube es wird Zeit, dass ich dir etwas mehr über diesen Ort und
seine Bewohner erzähle. Sie mal, wenn ein Künstler, egal, welche
Art von Kunst er ausgeübt hat, ob er Maler, Bildhauer, Musiker,
Schauspieler, Schriftsteller oder sonstwas was, wenn so ein Mensch
stirbt...“
„...dann
kommt er hierher. Das hast du schon gesagt. Aber was ist das für ein
Ort?“
Bill
sah ihn missbilligend an, verkniff sich aber jeden Kommentar und fuhr
fort.
„Der
Raum, in dem wir uns im Moment befinden, ist das Wartezimmer. Keiner
weiß, wie groß er eigentlich ist, wo er sich befindet oder wie er
aufgebaut ist. Man geht davon aus, dass seine endgültige Größe und
Form noch nicht feststehen. Was wir wissen ist, dass er Grenzen hat.
Niemand hat sie je gesehen, aber jeder, der das Zimmer betritt, kann
genau spüren, dass es sich um einen geschlossenen Raum handelt. Wir
haben also keine Beweise dafür. Wir wissen es einfach.“
Kramer
überlegte.
„Dann
ist dies also ein Wartezimmer wie beim Arzt und alle warten daraum,
durch die Tür gerufen zu werden? Aber wann passiert das?“
„Du
hast Recht, wir alle hier warten auf das Gleiche. Die Wartezeiten,
die wir erwarten, unterscheiden sich jedoch stark. Alles hängt vom
Ruhm ab, den ein Künstler in seinen Lebzeiten angehäuft hat.“
„Also
doch eine Bevorzugung.“
Kramer
war zufrieden.
„Dann
bin ich bestimmt bald dran. Als ich noch gelebt habe, kannte mich so
gut wie jeder.“
Bill
schüttelte den Kopf.
„Es
ist nicht ganz so wie du denkst. Eigentlich eher ganz anders.“ Er
räusperte sich. „Der Ruhm eines Künstlers bindet ihn an die Erde,
stärker, als irgendetwas sonst es könnte. Je mehr Menschen seinen
Namen im Munde führen, ja, ihn auch nur denken, desto weniger kann
der Betreffende sich von seinem Heimatplaneten lösen. Uns alle
verbinden starke Bande mit der Erde und ihren Bewohnern. Beim einen
ist die Kraft stärker, beim anderen etwas schwächer, aber bei uns
allen reicht sie aus, das wir auf unserem Weg nicht voranschreiten
können. Wir müssen warten.“
Kramers
Hals wurde trocken.
„Worauf?“
krächzte er mühsam.
Bill
betrachtete seine Fingernägel als suche er trotz der augenscheinlich
makellosen Reinheit dieses Orts nach Verschmutzungen.
„Vergessen“
sagte er halb abwesend.
Kramer
musste es genauer wissen.
„Was
meinst du damit?“ fragte er drängend. „Wer muss vergessen? Und
was?“
Bill
wandte ihm auf einmal den Kopf zu und sah ihm voll ins Gesicht.
„Dich“
sagte er. „Alle Menschen auf der Erde müssen dich vergessen.
Keinen Schritt wirst du weiter kommen, keinen Blick hinter die Tür
werfen, solange auch nur ein Mensch deinen Namen kennt. Doch damit
nicht genug. Auch alles, was an dich erinnern könnte, muss von der
Erde getilgt sein. Die Möglichkeit, sich deiner zu erinnern, darf
nicht mehr existieren. Erst dann wirst du diesen Raum verlassen.“
„Komplett
vergessen? Das heißt, erst wenn meine Werke zerstört sind und
keiner sich mehr an sie erinnert werde ich hier herauskommen? Aber
das kann ja Jahrhunderte dauern!“
„Ja,
das kann es, aber zumindest in einer Sache kann ich dich beruhigen:
Deine Werke müssen nicht zwangsläufig zerstört werden. Es reicht,
wenn es auf der ganzen Welt keinen Hinweis mehr darauf gibt, von wem
sie stammen. Und natürlich darauf, dass es dich einmal gab. Es geht
also auch um Lexikoneinträge, Autogrammkarten und alles andere, was
deinen Namen trägt.“
Kramer
stöhnte.
„Ich
werde hier niemals wegkommen. Ich habe Millionen Fans und unglaublich
viele Bücher verkauft, die werden niemals alle zerstört werden...
Und erst die ganzen Lexika... unmöglich.“
„Nein
nein, mein Freund“, Bill klatschte ihm leutselig auf die Schulter,
„sieh das doch nicht alles so schwarz. Mit der Zeit schafft es
jeder hier raus. Spätestens wenn die Menschheit sich endlich selbst
zum Teufel jagt bist auch du erlöst. Außerdem kann ich dir sagen,
dass einige hier schon wesentlich länger warten, als du dir
vorstellen kannst. Wenn sie es geschafft haben, sich so lange zu
beschäftigen, dann kriegst du das auch hin. Na gut, wenn man die
drei Zeitschriften auf dem Tischchen da hinten auswendig kann und
dann irgendwann so weit ist, dass man jeden einzelnen Artikel auch
ohne Probleme rückwärts hersagt, hängt man erstmal ein wenig
durch, aber eigentlich findet jeder früher oder später eine neue
Beschäftigung. Sieh mal, der da drüben zum Beispiel.“
Auf
ihrer Wanderung durch den endlos scheinenden weißen Raum kamen sie
zum ersten Mal an einem anderen Menschen vorbei. Es handelte sich um
einen älteren Herrn mit etwas krausem Haar, der emsig immer aufs
Neue jeden Finger der einen Hand nacheinander mit allen Fingern der
anderen berührte und dabei stumm den Mund bewegte, als murmele er
etwas vor sich hin.
„Das
ist Marc Chagall. Er ist schon mehr als 120 Jahre hier.“
„Ich
kenne Chagall“, meinte Kramer
aufgeregt, „was macht er da die ganze Zeit?“
„Er zählt die Durchgänge. Dieses Berühren der Finger ist seine
Art, sich die Zeit zu vertreiben. Damit es ihn auch wirklich
gedanklich beschäftigt zählt er, wie oft mit allen Fingern alle
Finger der anderen Hand berührt hat. Die meisten suchen sich früher
oder später so eine Beschäftigung. Der einzige Sinn ist, den
Verstand nicht zu verlieren. Es ist allerdings fraglich, ob diese
Tätigkeiten ihren Zweck erfüllen.“
„Aber da muss er ja... bei welcher Zahl ist er inzwischen? Nach 120
Jahren muss die doch so groß geworden sein, dass er sie in der Zeit
eines Durchlaufs nicht einmal mehr denken kann!“
„Soviel ich weiß hat er sich extra für diese Beschäftigung ein
eigenes Zahlsystem ausgedacht, um dieses Problem zu umgehen“,
erklärte Bill. „Genau weiß ich es allerdings nicht, da er schon
vor meiner Ankunft aufgehört hat, mit anderen zu sprechen. Es könnte
also genausogut sein, dass er bei hundert immer wieder von vorne
anfängt. Macht ja kaum einen Unterschied. Lass uns weitergehen.“
Bill schob den faszinierten Kramer mit sanfter Gewalt ein paar Meter
weiter. Hier saß bereits die nächste Gestalt, eine Frau mit kurzen,
streng gescheitelten braunen Haaren, die Fäden zwischen ihre Beine
gespannt hatte und gerade dabei war, einen weiteren Faden durch die
gespannten hindurchzufädeln. Kramer errötete leicht als er
bemerkte, dass ihr Oberkörper unbekleidet war.
„Und wer ist das?“
„Hier siehst du Sofonisba Anguissola, eine der erfolgreichsten
Renaissancekünstlerinnen. Sie hat zu Lebzeiten viele Portraits
gemalt. Hier kann sie das nicht mehr, da es ihr an den entsprechenden
Werkstoffen fehlt, aber dafür hat sie das Weben und Nähen für sich
entdeckt. Sieh nur, gerade macht sie sich ein neues Hemd.“
„Aber dazu braucht sie doch auch Material. Woher nimmt sie die
Fäden?“
„Aus ihrem alten Hemd. Schon vor einigen hundert Jahren, so geht
die Sage, ist sie auf die Idee gekommen, ihre Kleidung vorsichtig in
einzelne Fäden aufzutrennen und das gewonnene Garn neu zu weben.
Über die Jahre hat sie es in dieser Disziplin zur Meisterschaft
gebracht. Niemand auf der Erde könnte mit einem richtigen Webstuhl
so gute Stoffe weben, wie Sofonisba nur mit ihrem Körper.“
„Beeindruckend.“
Fasziniert sah Kramer zu, wie die Frau mit flinken Fingern den Faden
durch die quergespannten Schnüre fädelte und dadurch die
Stofffläche auf der einen Seite immer mehr wachsen ließ.
Nach einigen Minuten hatte er genug gesehen und folgte Bill weiter
durch die Weite des Wartezimmers.
„Eins verstehe ich nicht“, fing er schließlich an. „Wie kommt
es, dass wir überhaupt so etwas wie Kleidung am Leib tragen? Ich
meine, wir sind doch tot, oder? Wir sind hier nicht mit unseren
Körpern, können also genau genommen auch nicht...“
Bill lachte.
„Das
ist im Grunde ganz einfach. Das heißt, wenn man nicht versucht, die
Funktionsweise zu erklären. Du wirst den Mechanismus nie verstehen,
niemand tut das, aber ich kann dir erklären, was passiert. Jeder,
der hierher kommt, kommt ohne Körper an, da hast du Recht. Dieser
Ort ist kein Ort im physikalischen Sinne, jedenfalls glaube ich das.
Allerdings ist es trotz allem ein Ort, an dem man aussehen muss.
Nicht unbedingt besonders gut, aber irgendwie.
Daher nimmt jeder Neuankömmling einfach das Aussehen an, das am
ehesten seinem Selbstbildnis entspricht. Die meisten sehen dadurch so
aus, wie kurz vor ihrem Tod. Manche sind hier etwas jünger, weil sie
sich an ihr letztes Aussehen nicht erinnern können oder aber ihr
Selbstbildnis nicht davon bestimmt wird. Wie auch immer, man
erscheint hier jedenfalls auch mit der Kleidung, die das eigene
Selbstbild trägt.“
Kramer sah an sich herunter und bedauerte, nichts eleganteres gewählt
zu haben. Ein teurer Anzug wäre ja wohl angemessen gewesen. Außerdem
war dieser Ort perfekt dafür: Es gab nicht die kleinste Möglichkeit,
ihn schmutzig zu machen!
Aber was hieß hier teurer Anzug? Mit ein bisschen mehr
Selbstbewusstsein hätte er zehn oder zwanzig Jahre jünger hier
ankommen können. Warum nur war sein Ego nicht so groß, wie die
Leute es ihm zu Lebzeiten immer nachgesagt hatten?
Inzwischen tauchten immer mehr Leute auf, die auf Stühlen oder auf
dem Boden saßen und den verschiedensten Beschäftigungen nachgingen.
Manche hatten ähnliche Marotten wie die beiden, an denen sie
vorbeigekommen waren, andere hatten sich ganz andere Zeitvertreibe
ausgedacht. Bill kommentierte den einen oder anderen und stellte
Kramer dabei einen Wust von Künstlern vergangener Epochen vor.
Einige Namen waren ihm ein Begriff, andere hatte er noch nie gehört.
Bill versicherte ihm jedoch, dass es auf der Erde noch mindestens
eine Erinnerung an jeden von Ihnen gab.
Schließlich
ebbte die Flut der verrückten Künstler allmählich ab. Noch weiter
hinten schien sich keiner mehr niedergelassen zu haben und Bill
schlug vor, langsam umzukehren, als Kramer am äußersten Ende seiner
Sichtweite ein graues Etwas zu erkennen meinte. Neugierig ging er
näher und Bill folgte ihm. Ein Bündel schien es zu sein, ein
kleiner Haufen grauer Tücher, die einfach so in der weiten Weiße
lagen. Kramer ging noch näher und meinte auf einmal, etwas unter den
Tüchern hervorblitzen zu sehen.
Ein Auge.
Kramer blieb einige Meter vor dem Bündel stehen und betrachtete es
noch einmal aufmerksam. Graues Haar spross an einer Seite daraus
hervor, struppig und ungepflegt. Mitten aus diesem wuchernden Wald
blitzten tatsächlich zwei kleine Äuglein hervor. Bei näherer
Begutachtung fiel auch auf, dass sich unverkennbar menschliche
Formane unter den Tüchern abzeichneten. Kein Zweifel – hier hockte
ein Mensch und starrt die beiden böse an.
„Wer ist das?“ fragte Kramer leise.
„Das“, raunte Bill mit belegter Stimme zurück, „ist einer von
denen, die von uns allen die längste Zeit hier verbracht haben. Sein
Name ist Phidias, er ist einer der berühmtesten Bildhauer des
Altertums.“
„Phidias? Der die Zeusstatue in Olympia gemacht hat? Eines der
antiken Weltwunder?“
„Ebender. Fast 2500 Jahre ist er nun schon hier.“
Kramer überlegte.
„Gab es vorher denn keine Künstler? Wer hat sonst die
Höhlenmalereien der Steinzeit angefertigt?“
„Natürlich gab es welche, aber an die erinnert sich niemand mehr
namentlich. Die hatten das Glück, ihre Namen noch nicht aufschreiben
zu können.“
Kramer sah wieder Phidias an. Der antike Bildhauer kauerte noch immer
auf dem Boden, strich sich mit den Fingern durch den Bart und sprach
scheinbar zu sich selbst. Dabei verdrehte er immer wieder die Augen
und verdrehte seine Finger auf eine Weise, dass es einem vom
Zuschauen in den eigenen Händen schmerzte. Auf einmal sprang er auf
machte ein paar Sprünge, sackte wieder zu Boden und versuchte mit
der Hand auf den Boden zu schreiben. Auf einmal schien er dort etwas
zu erblicken. Sein Selbstgespräch wurde lauter und hastiger, was
nichts daran änderte, dass nichts zu verstehen war. Aufgeregt fuhr
er mit dem Finger unsichtbare Zeilen nach, versuchte, etwas
auszustreichen, was nicht da war, geriet in Rage und schlug mit den
Fäusten auf den Boden, um Sekunden später wieder in tiefes Grübeln
zu verfallen.
„Was ist los mit ihm?“
Bill seufzte.
„2500 Jahre sind eine lange Zeit. Er hat mit Sicherheit alles
gemacht, was es hier zu tun gibt, hat jede mögliche Beschäftigung
ausprobiert, bis ihm nichts mehr einfiel, um die immer länger
werdende Zeit zu vertreiben und nun... Es war wohl einfach zu viel
für ihn.“
„Was ist mit seinem Aussehen? War er schon immer so...?“
„Vermutlich nicht, aber ich habe noch keinen getroffen, der ihn
kannte, bevor er verrückt geworden ist, und selbst noch bei Verstand
wäre. Weißt du, auch das Selbstbild kann sich mit der Zeit
verändern, und so ändert sich hier eben auch das Aussehen. Mit der
Verrücktheit kam wahrscheinlich auch das verrückte Aussehen.
Vermutlich könnte es sich auch jederzeit verändern. Er ist sich
seiner selbst nicht mehr sicher, daher ist auch sein Selbstbild
fragil und sprunghaft.“
Nachdenklich betrachtete Kramer den Grauhaarigen in schmutzige Tücher
Gehüllten, der noch immer versunken mit sich selbst sprach.
„Ob es mit mir auch einmal so enden wird? Ist das meine Zukunft?“
Bill schüttelte den Kopf.
„Darüber würde ich mir an deiner Stelle noch gar keine Gedanken
machen. Du bist nicht hier, um 2500 Jahre zu bleiben, sondern um den
nächsten Tag zu überstehen. Daran halte dich.“
„Und er? Phidias. Kann man denn gar nichts für ihn tun?“
Bill schüttelte den Kopf.
„Wir sind an dieser Stelle machtlos.“
„Aber
was ist mit der Tür? Wenn er unten auf der Erde restlos vergessen
wurde, wenn er dann also endlich weitergehen kann, in den nächsten
Raum, wird es ihm da besser gehen? Wird er dann geheilt?“
Bill warf dem erbärmlichen Rest eines einst genialen Menschen einen
letzten mitleidigen Blick zu.
„Das kann man nur hoffen“, sagte er dann. „Das hoffen wir
alle.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab, um zu den anderen Insassen des
Wartezimmers zurückzukehren. Kramer folgte ihm. 2500 Jahre... Der
Tod fing ja gut an!
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